Читать книгу Der Löwe vom Kaukasus - Helmut Höfling - Страница 5
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Оглавление„Wann wird in den Bergen kein Blut mehr fließen? Wenn Zuckerrohr im Schnee wächst.“
So lautet ein altes kaukasisches Sprichwort, und selten hat ein Spruch so viel Wahrheit enthalten, die ganze bittere Wahrheit.
Schon von alters her beherrschten Rache und Gewalt die düstere Geschichte des Kaukasus. Die Bergvölker, besonders die Inguschen und Tschetschenen, beraubten Kaufleute und Reisende, Post und Karawanen. Abgeschlagene Köpfe oder Hände von Feinden waren im Kaukasus gängige Münze, und in solchen Trophäen wurde die Mitgift eines Mädchens vom Stamm der Tuschen berechnet. Am einfachsten ließ sich die Anzahl der erbeuteten Köpfe vorweisen, wenn man die abgeschnittenen Ohren auf Peitschenschnüre aufzog. Je mehr abgehackte Hände am Sattel eines jungen kaukasischen Kriegers hingen, desto mehr war er als Draufgänger und verwegener Kämpfer angesehen. Nur rechte Hände zählten, linke dagegen kaum, denn ein Kaukasier, dem man die linke Hand abgeschlagen hatte, kämpfte unverdrossen weiter.
Die Blutrache, die oft über drei oder vier Generationen hinaus vollstreckt wurde, rottete ganze Familien aus. Als arm und bemitleidenswert galt ein Haus nur dann, wenn niemand mehr darin lebte, der kämpfen konnte.
Immer wieder waren fremde Eroberer eingedrungen, in den letzten Jahrzehnten vor allem Türken, Perser und Russen. Jahr für Jahr hatten die zaristischen Armeen die asiatische Grenze weiter und weiter zurückgeschoben, langsam, aber stetig und immer wieder von Rückschlägen unterbrochen. Von mehr oder weniger Erfolg begleitet hatte auch die Eroberung des Kaukasus im siebzehnten Jahrhundert als belangloser Feldzug begonnen. Peter den Großen, der einst seine Soldaten ans Kaspische Meer geführt und sich dort in der Hafenstadt Derbent niedergelassen hatte, lockten die fruchtbaren Täler und geschäftigen Küstenstädte. So entschlossen er war, diese prachtvolle Beute Persien zu entreißen, so sehr schreckte er vor den gigantisch und drohend aufragenden Bergen Dagestans zurück, die der Legende nach aus purem Gold waren und von erbittert kämpfenden Volksstämmen verteidigt würden. Selbst ein so hemmungsloser Eroberer wie Peter der Große wagte keinen Feldzug gegen Dagestan. Er begnügte sich mit der Ebene, schloss einen Vertrag mit den Persern und setzte einen russischen Statthalter ein, der mit Härte und Gewalt den Willen des Zaren durchsetzen sollte.
Doch die asiatischen Stammeshäuptlinge scherten sich nicht im Geringsten darum, ob Zar oder Schah den Anspruch erhob, ihr Herrscher zu sein. Mit jedem, der sich ihnen in den Weg stellte, machten sie kurzen Prozess, so mit einem General Peters des Großen, einem Fürsten, dem sie die Haut abzogen, um damit eine Trommel zu bespannen. Die Khane und Fürsten von Georgien, Aserbeidschan und Dagestan jagten mit edelsteinverzierten Waffen und abgerichteten Leoparden die russischen Soldaten wie prächtiges Wild. Russland war heilfroh, nach einer Reihe diplomatischer Schachzüge seine stark gelichteten Truppen endlich wieder abziehen und die kaukasischen Provinzen an Persien zurückgeben zu können.
Die imperialistischen Gelüste in St. Petersburg waren damit jedoch nicht erloschen. Nach weiteren Anläufen erreichte der Eroberungssturm der Russen in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts seinen Höhepunkt, als die zaristischen Armeen ostwärts marschierten und dabei asiatische und nahöstliche Provinzen an sich rissen. Nur der Kaukasus versperrte den Russen den Landweg nach Indien und schien ihre lang gehegten Träume von kolonialer Ausbreitung im Osten zu zerstören.
Doch Jermolow, der Oberbefehlshaber der zaristischen Südarmee, ließ nicht locker. Er hatte von Anfang an, seit er auf diesen Vorposten des zaristischen Imperialismus berufen worden war, die Notwendigkeit begriffen, die russische Herrschaft auf den ganzen Kaukasus auszudehnen, einschließlich der unabhängigen und teilweise abhängigen Staaten und Gemeinwesen bis zu den Grenzen Persiens und der Nordgrenze der Türkei in Asien. Er war nicht nur der Erste, der einen Teil des Kaukasus unterwarf, eine Kette von Festungen errichtete und die Georgische Heerstraße baute, sondern auch der Erste, der persische und tatarische Gebiete dem russischen Imperium einverleibte. Jedes Mittel, seine Ziele zu erreichen, war ihm recht, ungeachtet des unermesslichen Schadens, den er durch seine Anmaßung, Rohheit und Grausamkeit anrichtete.
Seine Gräueltaten waren nicht nur der letzte Anstoß, den Muridismus wiederaufleben zu lassen und die fanatische Feindschaft der Dagestaner und Tschetschenen zu entfachen, sie bereiteten auch den Boden für den Ausbruch des Persischen Krieges. Als die Perser, die heimlich die Bergvölker, auch später noch, mit Munition und Waffen versorgten, im Jahre 1826 in russisches Gebiet einfielen, wurden Jermolows Truppen durch die Eindringlinge abgelenkt. Die kaukasischen Stämme, die jetzt freie Hand hatten, nutzten die Gunst der Stunde. Überall in den Bergen Dagestans brach der Aufstand aus, da die russischen Garnisonen zu geschwächt waren, um den Feind im Süden niederzuwerfen.
Nachdem sich auch die Tschetschenen weiter nördlich dem Aufruhr angeschlossen hatten, tauchte eines Tages ein Trupp von ihnen vor der kleinen Festung Amir-Hadschi auf.
„Macht das Tor auf, Kameraden!“, rief einer der russisch sprechenden Krieger. „Wir kommen zu eurer Verstärkung. General Grekow hat uns hierher abkommandiert.“
Im Schummerlicht der Dämmerung bemerkten die Wachposten, dass die Männer, die draußen vor dem Tor warteten, Lammfellmützen und Tscherkesskas trugen wie die „Linienkosaken“, ihre Kameraden, die im Norden an den Ufern des Valerik und Terek als Vorposten der Armee lebten. Sie sollten die russischen Befestigungen an den Grenzlinien halten, die sich Jahr für Jahr weiter nach Süden und Osten vorschoben.
Aus Freude über den unverhofften Entsatz fiel keinem der Wachsoldaten ein, dass die Tracht der Tschetschenen gleichfalls aus hoher Fellmütze und Tscherkesska, dem langen mantelartigen Rock mit den aufgenähten silbernen Patronentaschen auf der Brust, bestand. Kaum hatten sie den Sperrbalken am Tor gehoben, als die Tschetschenen auch schon ungestüm wie ein Rudel wilder Wölfe in die Festung stürmten und die völlig überrumpelte Garnison, darunter auch den Obersten, mit dem Kindjal, dem zweischneidigen Dolch, bis auf den letzten Mann niedermetzelten.
Sobald General Grekow die Nachricht von dem blutigen Überfall erfuhr, stürmte er in Gewaltmärschen heran und nahm die Festung, auf der die Fahne des Propheten wehte, mit Feldgeschützen unter Beschuss. Bald darauf ging die gleichfalls herbeigeeilte Brigade des Generals Lissanewitsch unter Trommelschlag zum Sturmangriff über, erlitt aber in dem heftigen Gewehrfeuer, das ihr entgegenschlug, starke Verluste. Dennoch behielten die Angreifer die Oberhand, denn schon nach kurzer Gegenwehr hatten die Verteidiger ihre letzte Patrone verschossen.
Still war es in der Festung, unheimlich still mit einem Schlag. Doch das war keine Friedhofsruhe, es war die Ruhe vor dem Sturm. Denn plötzlich wurden von innen die Flügel des Tores aufgerissen, und die Tschetschenen, an die achtzig Mann zu Fuß und zu Pferde, stürzten hinaus und hieben sich mit Dolch und Säbel durch die dichten Reihen der Russen.
Nur wenige entkamen, über sechzig Tschetschenen lagen tot am Weg oder im Fort. Die Russen aber hatten in diesem Kampf fast zweihundert Tote und Verwundete zu beklagen, dazu kamen die fünfzig Mann der Garnisonsbesatzung, die noch unbestattet dort in der Festung lagen, wo sie beim Handstreich der Tschetschenen gefallen waren.
Zwar hatte die zaristische Armee einen Kampf gewonnen, aber im Land ringsum brodelte es weiter. Nach einigem Bemühen gelang es Grekow endlich, Verhandlungen mit den Aufständischen anzuknüpfen.
Eine Staubwolke wirbelte auf, als von den Bergen herab ein von der neuen Lehre besessener Murschide mit einer Reiterschar heransprengte. Dicht vor der Festung zügelten die tschetschenischen Krieger mit einem Ruck ihre Pferde. Während seine Begleiter vor dem Tor warteten, wurde der Murschide als Unterhändler eingelassen und vor die beiden Generäle und ihren Stab geführt.
Herablassend sah Grekow den Führer der Muriden an.
„Warum haben Ihre Leute den Vertrag mit dem Zaren gebrochen?“
„Nicht wir haben ihn gebrochen, sondern die Ungläubigen, die dem Zaren dienen“, erwiderte der Tschetschene stolz.
„Wir alle dienen dem Zaren. Ihr Tschetschenen seid genauso seine Untertanen wie wir Russen. Der Zar ist unser aller Herr.“
„Niemals werden wir uns einem Giaur beugen!“, beteuerte der Murschide selbstbewusst.
„Sie beleidigen den Zaren!“, empörte sich der General.
„Mein Volk hasst euch, so wie euch alle kaukasischen und rechtgläubigen Völker hassen und verachten. Denn ihr Russen seid in unser Land eingefallen, um uns zu unterjochen. Wir Tschetschenen aber sind ein freies Volk und wollen frei bleiben!“
Grekows Gesicht wurde rot vor Zorn.
„Genug!“, brauste er auf. „Das ist Ungehorsam, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Rebellion. Dafür kann ich Sie hängen lassen!“
„Hund!“, schrie ihn der Murschide an. „Das also nennst du freies Geleit. So hält ein Giaur sein Wort!“
Hitzköpfig stürzte er sich auf Grekow, stieß ihn mit dem Dolch nieder, verwundete den Stabschef und tötete General Lissanewitsch sowie einen Obersten, ehe er dann selbst, von Kugeln und Hieben zerfetzt, zusammenbrach. Seine Leiche wurde von den wutentbrannten Soldaten zerhauen und Stück für Stück über die Festungsmauer vor den wartende Reiterschar geworfen.
Unter Flüchen und Verwünschungen sprengten die Tschetschenen in die Berge zurück.
Noch ehe sie zum Vergeltungsschlag ausholen konnten, kam ihnen General Jermolow mit einem blutigen Rachezug zuvor. Seine Kosaken legten viele Bergdörfer der Tschetschenen in Schutt und Asche, töteten Männer und Frauen, schändeten die Mädchen und warfen kleine Kinder in die Flammen der brennenden Häuser.
Wo immer Jermolows Truppen wieder abzogen, blieben Tod und Verwüstung zurück. Gleichzeitig aber loderte auch überall der Widerstand verstärkt auf.
Jermolows Tage als Oberbefehlshaber der Südarmee waren gezählt. Als Alexander I. unter geheimnisvollen Umständen bei Taganrog am Asowschen Meer starb, verzichtete sein Bruder und Erbe Konstantin, Großherzog und Statthalter in Polen, auf die Zarenkrone und dankte zugunsten des jüngsten Bruders Nikolaus ab. Nur widerwillig übernahm Nikolaus seine geheiligten Pflichten, wie er es nannte, und wurde Anfang Dezember 1825 zum Zaren proklamiert.
Verständlicherweise hatte Jermolow bei der Todesnachricht seine Armee sofort auf Konstantin als rechtmäßigen Thronfolger vereidigt. Erst Wochen später, als die Meldung von Konstantins Abdankung auch die kaukasischen Provinzen erreichte, erkannte er seinen Irrtum. Nikolaus, taub für jedes Argument, witterte hinter der Handlungsweise seines Oberbefehlshabers Anmaßung und Anarchie. Bestärkt in seinem Misstrauen durch die Hofleute, die dem Gewaltmenschen ohnehin nicht grün waren, schien es dem Zaren nunmehr als erwiesen, dass Jermolow seinen eigenen Staat im Kaukasus, fern von St. Petersburg, errichten wollte, so wie es einst die Hetmane der Kosaken versucht hatten.
Was hat er schon groß erreicht? Im Grunde genommen nicht viel. Ein Sieg hier, ein Sieg da, geschmälert durch Rückschläge, Niederlagen und Verluste. Zieht man Bilanz, was bleibt dann unterm Strich? Viel Geschrei, sonst nichts. Denn trotz seiner großspurigen Ankündigungen hat Jermolow die Stämme der Bergvölker nicht in die Knie zwingen können. Im Gegenteil, durch sein barbarisches Wüten hat er überall den Hass der Kaukasier gegen die Russen und damit gegen ihn, den Zaren und einzig wahren Herrscher, erst recht geschürt. In ganz Dagestan gärt es, an allen Ecken und Enden bricht offener Widerstand aus. Der Aufruhr droht sich zu einem Flächenbrand auszuweiten, der sich immer schwieriger wieder eindämmen und schließlich ganz ersticken lässt. Wenn dieser Jermolow nicht fähig ist, dem Feind den Willen des Zaren aufzuzwingen, dann muss eben ein anderer General den Befehl über die Südarmee übernehmen.
So dachten und sprachen sie am Petersburger Hof, wobei jeder von Jermolows Widersachern sich eifrig bemühte, die Verdienste des Oberbefehlshabers zu verschweigen und die Fehler und Verdächtigungen herauszustreichen, um so desto wirksamer die Wahrheit zu verfälschen.
Immer häufiger, seit er den Thron bestiegen, träumte Nikolaus von einem Triumphzug durch den Süden seines Reiches und einem überwältigenden Empfang in Tiflis, wo Georgier und Russen ihm als strahlendem Sieger huldigten. Da er so sehr nach dieser Ehrung dürstete, fühlte er sich umso mehr enttäuscht, ja sogar persönlich beleidigt, stets aufs Neue hören zu müssen, die Zeit dafür sei noch nicht gekommen. Je eher er Jermolow abberief, desto besser. Ein General, der nicht den nötigen Abstand zu seinen Soldaten hielt und sich sogar manchmal in seiner einfachen, bäuerlichen und kraftvollen Art wie ein Gemeiner aufführte, passte nicht in das Bild, wie Nikolaus seine Militärs sehen wollte, die ihn mit seiner Selbstherrlichkeit hofierten und in deren Mitte er, der Uniformnarr, sich am wohlsten fühlte.
Da Nikolaus einen solchen Mann nicht mochte, war Großzügigkeit fehl am Platze, im Gegenteil, man musste ihn demütigen und seinen Ruf beschmutzen. Auf ungerechte und boshafte Art wurde Jermolow im März 1827 des Kommandos enthoben und durch Graf Paskjewitsch ersetzt, der als neuer Oberbefehlshaber im Kaukasus die Monate zuvor eingedrungenen Perser in blutigem Ringen über die Grenze zurückwarf.
In den schäbigen, alten Mantel gehüllt, den er immer trug und in dem er auch schlief, denn Bett und Decke hatte er nie benutzt, verließ Jermolow in einem Mietwagen den Kaukasus, den Schauplatz seines größten Ruhms. Niemanden an höchster Stelle kümmerte das, man hatte ihn abgeschrieben, er existierte nicht mehr. Nicht einmal ein Trupp Kosaken gab ihm das Geleit. Seine einfachen Soldaten aber, die ihn wie ihren Vater liebten, waren über die schäbige Behandlung ihres Generals empört. Es fehlte nicht viel, und sie hätten gemeutert. Im Stich gelassen, verloren wie eine Herde Lämmer ohne Hirten, sahen sie ihn abfahren, viele mit Tränen in den Augen.
Jermolow selbst nahm seinen Sturz mit unerschütterlicher Ruhe hin. Die gewaltigen, firnbedeckten Berge des Kaukasus schrumpften immer mehr zur bedeutungslosen Hügelkette zusammen, je weiter ihn die Kutsche nach Norden brachte, der Versenkung, dem Nichts entgegen. Vergessen als Verbannter lebte er zunächst in der Provinzstadt Orel, sich vor seinen Feinden zu rechtfertigen, fand er nicht einmal der Mühe wert. Er vertraute auf die Zeit, die seine Leistungen auf dem kaukasischen Kriegsschauplatz anerkennen und damit seinen Namen wieder zu einem helleren Licht strahlen lassen werde. Er sollte recht behalten.