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Selbstbestimmung und Providenz

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Im 18. und 19. Jahrhundert tritt tendenziell die moralische Autonomie mit dem Glauben an die göttliche Providenz in eine zunehmend verschärfte Konkurrenz.16 Die Wirklichkeit im Ganzen hat sich nun vor dem Tribunal der autonomen Vernunft zu rechtfertigen. Das rational nicht durchdringbare Schicksal und in einem damit auch Gottes Providenz können vor dem Richterstuhl des rationalen Bewusstseins nicht mehr bestehen. Anders als noch bei Leibniz lässt sich angesichts des Leidens seiner Kreatur die Gerechtigkeit Gottes und dann seine Existenz überhaupt nicht mehr vor dem Richterstuhl der menschlichen Vernunft rechtfertigen. Sie hat keine Glaubwürdigkeit. Das hat zur Folge, dass Gottes Vorsehung mit ihrer Rolle als Klägerin, als Anwältin und als Richterin des Menschen im Gange der Weltgeschichte nun auch die Rolle der Verantwortlichen und Angeklagten verliert. Gott wird von der Verantwortung für die Naturund Geschichtskatastrophen entlastet, entlastet jedoch zu Lasten des menschlichen Omnipotenzanspruchs. Um es mit Stendhal (Marie-Henri Beyle) zu sagen: Gott wird dadurch entlastet, dass es ihn nicht gibt. So fällt die Verantwortung nun allein auf den Menschen.17 Freiheit und Vernunft beanspruchen, den Raum des logisch Möglichen total ausfüllen zu können. Feuerbach fordert polemisch in seinem Brief an Hegel: „Es wird und muss endlich zu dieser Alleinherrschaft der Vernunft kommen.“18 Ein Raum jenseits dieser Alleinverantwortung des Menschen scheint der Providenz nicht mehr zugestanden werden zu können.

In Newmans Denken spielt dieser philosophische Disput direkt keine Rolle. Aber die verschärfte Konkurrenz zwischen dem Totalitätsanspruch des freien Willens und der Providenz Gottes spiegelt sich praxisnah erstens in den Auseinandersetzungen von Newmans eigener spirituellen Lebensgeschichte, zweitens in den kirchlichen Auseinandersetzungen seiner katholischen Zeit. Die Konflikte seiner spirituellen Lebensgeschichte, insbesondere seiner akademischen Zeit, stehen typisch für die Christen in der Neuzeit: Der Wille zum Erfolg, zur Karriere, das Verlangen, die eigene Begabung zu verwirklichen, die Sorge um die akademische Laufbahn bringt einen ständigen Konflikt mit dem Gottvertrauen, dem Glauben an die Providenz, dem Geborgenheitsgefühl in Gottes Willen, dem Frieden des Herzens. In den kirchenpolitischen Konflikten seiner katholischen Zeit hat Newman, wie vorher auch, immer gegen den Liberalismus gekämpft und zugleich eine eindeutig liberale Haltung gezeigt in seinem Eintreten für die freie Meinungsäußerung, für die Forschungsfreiheit und in der Inanspruchnahme freimütiger Kritik; in all dem Kants Vorstellung von der Aufklärung entsprechend.19 In seiner katholischen Zeit aber kam eine besondere Erfahrung hinzu: ein Leben – so schien es ihm – ohne Berufung. Das Schweigen, das uneinholbare Voraus und Gegenüber einer anderen, unverfügbaren, den Menschen berufenden, souveränen Freiheit. Sie bleibt ihm entzogen, unhintergehbar und unverfügbar. Newmans Gebet „Kindly light“ und darin die Bitte um Führung im undurchschaubaren Dunkel ist noch einmal angeschärft aktuell: „der fernen Bilder Zug begehr ich nicht zu sehen: ein Schritt ist mir genug.“ Gerade Gotthold Ephraim Lessing steht ihm in dieser Erfahrung sehr nahe: „Geh deinen unmerklichen Schritt, ewige Vorsehung! Nur lass mich dieser Unmerklichkeit wegen an dir nicht verzweifeln. – Lass mich an dir nicht verzweifeln, wenn selbst deine Schritte mir scheinen zurückzugehen! – Es ist nicht wahr, dass die kürzeste Linie immer die gerade ist. Du hast auf deinen ewigen Wegen so viel mitzunehmen! So viel Schritte zu tun! … “20

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