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Zum Völkerrecht
ОглавлениеDurch die nahöstlichen Konflikte ist die Debatte um das Völkerrecht in das grelle Licht der Öffentlichkeit getreten und in eins damit die Probleme einer „post-konventionalen“ Makroethik. Das heißt: Für die in der Politik dringend anstehenden Probleme stehen noch keine allgemein anerkannten Lösungen zur Verfügung. Während die so genannten „Konservativen“ mit kruden militärischen Mitteln hantieren, baut der Liberalismus auf den fiktionalen Konsens internationaler Körperschaften. Er geht von einem allgemeinen Friedenswillen aus, der in Kompromissen seine Konkretion und Mächtigkeit findet. Deshalb ist das Faktum der Kriege und der Gewalt die stärkste Kränkung des Liberalismus. Die „konservativen“ Denkschulen in den USA suchen daraus die Lehre zu ziehen, dass nur ein „hegemonialer Internationalismus“ die Macht hat, Frieden zu schaffen und zu erhalten. Es liegt meines Erachtens auf der Hand, dass das ideale Handlungsprinzip „Handle so, als ob du Mitglied einer idealen Kommunikationsgemeinschaft wärest“ eine vorläufig politisch nicht einholbare Abstraktion ist.44 Dieses Handlungsprinzip hat ohne Zweifel ein unabdingbares Recht als normative Unterstellung jedes moralisch verantwortbaren Handelns, es reicht aber nicht aus, weil die Kommunikationssituationen zumeist asymmetrisch sind, die Handlungspartner nicht dieselbe Unterstellung machen und dieses Prinzip jedes strategische Handeln a priori ausschließt. Für ein Handeln nach dem Ideal der Kommunikationsgemeinschaft müssten also überhaupt erst die Voraussetzungen geschaffen werden. Bezüglich der Diskurse verhält es sich ähnlich. Die Kommunikationsbedingungen realer Diskurse erreichen auch deshalb nie ihr Ideal, weil sie nicht völlig natur- und zeitentlastet sein können. Auch eine Chairperson übt in einer Kommunikationsgemeinschaft de facto bezüglich des Geltungsanspruchs von Argumenten immer einen gewissen Zwang aus. Nicht einmal in einer Seminarsitzung wird dieses Ideal erreicht.45 Im Ernstfall kann es also durchaus so etwas wie eine moralische Pflicht zur Anwendung von Gewalt als „Anti-Gewalt-Gewalt“, von „Strategie-Konterstrategie“ geben. Allerdings wären deren Grenzen streng einzuhalten, denn angewendet werden darf Gewalt nur, um soweit möglich die ideale Kommunikationsgemeinschaft herzustellen. Deren Regeln sind also nicht schlechthin außer Kraft.46 Apel fasst zusammen: „Alles, was … über die normative, moralische Rechtfertigung der Zwangsbefugnisse des Rechtsstaats gesagt wurde, gilt ja nur unter der Voraussetzung, dass der Rechtsstaat wirklich funktioniert (und zwar im Weltmaßstab funktioniert); und selbst dann gilt es nur in dem Teilbereich der Lebenswelt, dessen Regelungsbedarf sich verrechtlichen lässt. Somit bleibt in wesentlichen Lebensbereichen immer noch auch der von mir … thematisierte Problembestand der politischen bzw. politisch relevanten Verantwortungsethik. Er bleibt schon deshalb bestehen, weil, wie ich eingangs betonte, jeder von uns heute im Sinne einer postkonventionellen, planetaren Makroethik jenseits aller schon bestehenden Institutionen (und Sozialsysteme) mitverantwortlich ist für die Folgen unserer kollektiven Aktivitäten. In diesem Zusammenhang sind wir z. B. auch mitverantwortlich für die – möglichst durch Konferenzen und nicht durch Gewalt – herbeizuführende Institutionalisierung einer weltbürgerlichen Rechtsordnung im Sinne Kants.“47