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Funktionale Wirklichkeit und Providenzerfahrung

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Edmund Husserl hat gesehen, dass in der Gegenwart unser von Sinn geleitetes Handeln systemisch gestört wird.21 Es folgt auf weite Strecken nicht mehr einem von uns intendierten Sinn. Die Wissenschaften zum Beispiel sind solche von unserem Handlungssinn weitgehend abgelösten Systeme. Damit solche Systeme nicht total werden, suchte Husserl ihnen einen sie begrenzenden Ort zu geben: die nicht noch einmal hintergehbare Lebenswelt. Die Lebenswelt ist Horizont und Boden jedes Handelns. Nicht die Lebenswelt darf auf das System Wissenschaft zurückgeführt werden, sondern die Wissenschaft hat ihren Ort innerhalb der Lebenswelt, sie durchaus auch weiterführend und korrigierend. Jürgen Habermas ist in seiner Theorie kommunikativen Handelns diesem gegenwartskritischen Grundriss Husserls gefolgt.22 Weil die kommunikative, von sinnorientiertem Handeln bestimmte Lebenswelt äußerst komplex geworden ist, bedarf sie aber doch auch rationaler Reduktion und entlastender Handhabung durch funktionale Systeme wie Markt, Verwaltung, Information, Verkehr und Technik. Diese funktionalen Systeme tendieren allerdings dazu, sich gegenüber der Lebenswelt zu verselbständigen, ihre Orientierungaufgaben zu übernehmen und dann ihr gegenüber Totalitätsansprüche zu stellen. Der Markt kolonisiert den Sport, die Freizeit, die Kunst, die Unterhaltung, die Landwirtschaft, die Politik. Die funktionalen Systeme werden global, verzerren die Lebenswelt und mit ihr die Kultur. Die Lebenswelt droht hintergangen zu werden, nicht durch die göttliche Providenz, sondern durch systemische Funktionen. Die „unsichtbare Hand" Adam Smiths, die den Markt und mittels seiner unsere Lebenswelt lenkt, ist nicht die Hand Gottes.23 Die funktionalen Systeme sind die lenkenden Mächte und keine Orte für die Erfahrung göttlicher Providenz. Sie stehen selber in keinem unbegreiflichen Horizont. Sie sind nur anonyme Lenkungsmechanismen: unsichtbare Hände. Der Gedanke des Mysteriums, des Unverfügbaren kommt in ihnen höchstens als dysfunktionale Störung, als noch ungelöstes Rätsel vor.

Bei Newman hat dieses von Habermas in seiner Theorie kommunikativen Handelns ausgearbeitete Verhältnis von Lebenswelt und funktionalen Systemen ein Vorspiel. In seinen Vorträgen „Zum Wesen der Universität“ geht es ihm in erster Linie um „freie Bildung“. Die berufliche Qualifikation ist noch nicht freie Bildung. So wichtig eine solche zweckbestimmte Ausbildung sein mag, freie Bildung hat keinen Zweck außer ihrer selbst. Sie ist Übung des Geistes, der Vernunft und der Reflexion. Das Paradigma des freien Gebildeten ist der Gentleman. Um Newmans Gedanken in die Analyse der Lebenswelt einzutragen: Die freie Bildung und der Charakter des Gentleman sind „transfunktional“24. Sie negieren die funktionalen Systeme nicht, aber sie unterbrechen diese und führen sie der Frage nach einem Lebenssinn zu. In einer transfunktionalen Lebenswelt ist der Zeitgenosse auch überhaupt erst fähig, die unverfügbare und in keinen funktionalen Zusammenhang passende Providenz wahrzunehmen. Andernfalls muss er sich den unsichtbaren Händen funktionierender Systeme überlassen. Der Markt ist nur eines davon. Die Rede von der Providenz dagegen reklamiert und behauptet in der gemeinsamen Wirklichkeit für jeden einen Ort, seine Freiheit, seine unvertauschbare Lebensaufgabe und damit seine Verantwortung. Dies gilt für den Behinderten, den Sterbenden, für das noch ungeborene Leben, für den jungen Menschen, der keine Stelle findet oder im Examen versagt, der in der menschlichen Gesellschaft überflüssig zu sein scheint und sich in die Ausweglosigkeit der Drogen flüchtet. Die Rede von der Providenz behauptet diesen Ort gegen die funktionalen Systeme.

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