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Providenz und Alterität

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Innerhalb der funktionalen Religion kann auch so etwas wie „Vorsehung“ in Gebrauch genommen werden. Es ist dann die Vorhersehbarkeit, die Kalkulierbarkeit des Verhaltens oder das gesellschaftlich zuverlässige Funktionieren gemeint. Jede Wahlprognose, jede Erhebung durchschnittlichen, auch faktischen Verhaltens will Verhalten beeinflussen. Sie erfasst das Individuum in der allgemein vorherrschenden Durchschnittlichkeit. Diese Art von „Vorsehung“ kann politischen Interessen durchaus dienlich sein. In dieser Bedeutung ist „Providenz“ ein Mittel der Manipulation und kann versuchsweise auf alle und jeden angewendet und von jederman in Gebrauch genommen werden. Gibt es keinen Widerhalt, der Providenz dieser Beliebigkeit des Beherrschens entziehen könnte? Oder steckt in der Semantik des Wortes Providenz doch etwas Nichtfunktionalisierbares, etwas Unverfügbares?

Newman hängt eine seiner Predigten über das Thema „Gott führt jeden“ – ich habe schon darauf hingewiesen – an dem Bibeltext Gen 16, 13 auf: „Als Hagar vor ihrer Herrin in die Wüste floh, hatte sie die geheimnisvolle Erscheinung eines Engels, der sie zurückkehren hieß. … Sie erkannte die Gegenwart ihres Schöpfers und Herrn. … Darum rief sie zu ihm, der sich ihr kundgetan hatte: ‚Du, o Gott, siehst mich.‘ … Auf einmal überkam sie wie etwas neues die Wahrheit, dass inmitten ihrer Prüfung und ihres Jammers das Auge Gottes auf ihr ruhte“ (DP III, 127–141). Dieser Text will sensibel gehört werden. Wir leben so oberflächlich dahin, „weil wir vergessen und nicht wirklich erfasst haben, dass wir in Gottes Gegenwart sind“ (ebd.). „Du, o Gott, siehst mich.“ Newman lässt für einen Augenblick die endlosen religiösen Sinnproduktionen, Noesis und Noema, die intentionalen Projekte hinter sich.29 Es durchzuckt ihn. Er weiß den Blick eines Anderen auf sich gerichtet. „Plötzlich und überraschend“ (DP III, 82). Der Blick einer anderen, mich wählenden Freiheit: Das ist die „härteste“ Wirklichkeit. Die Erwählung ist die entscheidende Selbst- und Fremdbestimmung in einem. Sie erheischt eine unbedingte Realisierung.30 Andere, fremde, unverfügbare Freiheit sucht und will meine Freiheit. Sie bestimmt mich. Diese Art von Bestimmung lässt sich auch so sehen: Sie setzt mich überhaupt erst frei, spricht mich an und wirft Fragen auf, wo ich in meiner Befangenheit keine Fragen hatte. Das Sehen und Ersehen eines Blickes, der mich ins Auge fasst, zunächst der Blick des begegnenden anderen Menschen, dessen Blick ich mich nicht entziehen kann, stellt mir Weichen. Aber in diesem Blick bin ich noch von einer anderen radikaleren Wahl getroffen: vom abgründigen Blick Gottes. Das ist der Kern von Newmans Providenzerfahrung. Sie ist ein kommunikatives Ereignis, in dem eine Freiheit neben sich eine andere Freiheit will, ihr Raum und Zeit bei sich gibt, sie erwählt. So geschieht und erfährt man Providenz. Deshalb rückt Newman die Providenzerfahrung so nahe an die Berufungserfahrung: „Was ich also sagen will, ist dieses: Jene, die ein frommes Leben führen, erfahren, wie ihnen dann und wann Wahrheiten mit Macht vor Augen treten, die sie vorher nicht erkannten oder deren Erwägung sie nicht für notwendig erachteten; Wahrheiten, die Pflichten einschließen, die wirklich Gebote sind und Gehorsam verlangen“ (DP VIII, 30). Das ist der im Voraus erwählende, stets führende, aber auch bergende Blick der göttlichen Providenz.

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