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Im Walten der Naturkräfte und im verschlungenen Lauf der Geschichte
ОглавлениеIch knüpfe nochmals an den eben zitierten Text an: „Er offenbarte sich mehr als bloß im Walten der Naturkräfte oder im verschlungenen Lauf der Geschichte der Menschheit, sondern er offenbarte sich wie einer von uns.“ In der ganzen Predigt Newmans ist wie selbstverständlich von der Kreatur und Geschichte umfassenden Providenz die Rede. Darin impliziert ist die über den christlichen Glauben hinausreichende Überzeugung, dass in der Weltgeschichte Allgemeines herrscht, das sich – wie Newman sich ausdrückt – auf der Linie der Wahrheit und Gerechtigkeit bewegt und kein Ansehen der Person kennt. Auf dieser Ebene wird allerdings noch „nicht wirklich erfasst, dass wir in Gottes Gegenwart sind“ oder mit anderen Worten aus der hier ausgelegten Predigt: „Wir glauben nicht innerlich, dass er uns sieht.“ Vielleicht dürfen wir es uns, wie bisher schon, erlauben, Newmans Gedanken dort weiter zu denken, wo sie sich eigentlich schon immer bewegen, nämlich auf dem Boden der Gnadenlehre. Er setzt mit den älteren Kirchenvätern so etwas wie eine allgemeine Gnadenbestimmung voraus, eine alle übergreifende Erwählung. Dann aber ereignet sich dort, wo wie bei Hagar das Bewusstsein von der persönlichen Nähe Gottes aufbricht, eine besondere, kategoriale Heilsgeschichte. Da tritt für einen Moment ins Tageslicht der Geschichte, was so klar und zentral sonst nicht ins Bewusstsein tritt, wozu sich aber jeder auch ausdrücklich verhalten kann und irgendwann auch muss. Hier wird das Aufmerken auf Gottes Sehen, also das Sehen von Gottes Sehen möglich. Sehen wird reziprok.
Theologisch wäre dann festzuhalten: Die Lehre von der allgemeinen und besonderen Providenz hätte bei Newman nicht wie in der Summa Theologiae des Thomas ihren Ort in der Gotteslehre74, sondern wie in der seiner Summa contra gentiles75 innerhalb der gnadenhaften Finalisierung der Wirklichkeit. Bei Newman und bei Thomas in der Summa contra Gentiles ist sowohl die allgemeine Providenz wie auch die besondere Providenz final bestimmend und macht so jetzt schon aufmerksam auf die führende Präsenz Gottes.
Die besondere, also geschichtlich-kategorial greifbare Providenz in ihrer unübertreffbaren Deutlichkeit in Jesus Christus zielt nicht elitär auf eine besondere Auswahl. Sie beruft vielmehr zum Dienst in der allgemeinen, also universalen Providenz. Das also ist das Mehr der kategorialen Geschichte: Es geschieht ein Ausbruch aus der Blindheit und Befangenheit, aus dem einseitigen, anonymen, Bestimmtsein. In der Öffentlichkeit wird Reziprozität sichtbar. Was schon in der allgemeinen Providenz jedem geschenkt ist, bekommt nun einen deutlichen Ort in der Geschichte. Auch bei Hagar kommt die Reziprozität der Providenz ans Licht. Sie weiß nun klar, dass sie gesehen ist; das heißt: Providenz wird für sie denkbar, sagbar und erzählbar. Ein „Leben unter der Providenz“ ist damit überhaupt erst biographisch darstellbar.