Читать книгу Letzte Erfahrungen - Hermann Pius Siller - Страница 24
Du, o Gott, siehst mich
Оглавление„Geradeso ist es heute mit uns“ – ich zitiere aus der Predigt –. „Man spricht wohl im allgemeinen von Gottes Güte, seinem Wohlwollen, seinem Mitleid, seiner Langmut; aber man stellt sich dies vor wie eine Atmosphäre, welche die Welt umhüllt, oder wie sich das Sonnenlicht über das ganze legt – nicht wie eine sich stets wiederholende Tätigkeit eines wissenden, lebendigen Geistes, der sich bewusst ist, wem er sich kundgibt, und mit seinem Wirken auf etwas hinzielt. Darum wissen die Menschen, wenn sie in Trübsal geraten, nichts anderes zu sagen als: ‚Alles ist zum Guten, Gott ist gut‘ und dergleichen mehr, und davon fällt nur ein frostiger Trost auf ihre Seele, der ihre Leiden nicht mindert.“
Newman holt uns genau dort ab, wo wir liberalen Christen uns vorzüglich aufhalten: in einer unpersönlichen Atmosphäre, in einer Weltanschauung. Eine Person, ein fremder Wille, der uns behaften und „fremd bestimmen“ möchte, bleibt ausgeklammert. Solange wir dabei bleiben, kann uns Gott nicht als freier, als liebender erscheinen. Mit der Formel „Gott ist gut“ „entwaffnen“ wir ihn und definieren ihn funktional zu unseren Bedürfnissen, ohne ihn in seine Souveränität wieder frei zu geben, die Gott überhaupt erst ausmacht. Die Selbstmächtigkeit und Selbstzufriedenheit dieser Atmosphäre hat etwas von der Kühle an sich, der auch auf den Systemen wie Markt, Verwaltung und Information liegt.
Auf den liberalen Adressaten geht Newman auch mit der Erzählung von der Hagar aus der Abrahamsgeschichte zu: „Als Hagar vor ihrer Herrin in die Wüste floh, hatte sie die geheimnisvolle Erscheinung eines Engels, der sie zurückkehren hieß. Zugleich aber mit diesem unausgesprochenen Verweis für ihre Verzagtheit sprach er zu ihr ein Wort der Verheißung, sie zu ermutigen und sie zu trösten. In der Mischung von Beschämung und Freude, die sie empfand, erkannte sie die Gegenwart ihres Schöpfers und Herrn, der sich den Seinen stets in dem zweifachen Lichte kundgibt: einem strengen, weil er heilig ist, und einem milden, weil er von überfließender Erbarmung ist. Darum rief sie zu ihm, der sich ihr kundgetan hatte: ‚Du, o Gott, siehst mich‘ (Gen 16,13).“ Newman will sagen: Der Engel mahnt nicht „Richte deine Augen auf Gott“, sondern er stellt an den liberalen Adressaten eine ungeheure Zumutung: Du stehst in Gottes Aufmerksamkeit, er ist gegenwärtig, er sieht dich. Das ist ein Trost von anderer Qualität. Der Trost lautet nicht: Gott steht deinen Bedürfnissen zu diensten, wenn du deinen Blick auf ihn richtest. Sondern dir zuvorkommend hat er sich dir schon längst zugewandt. Nur weil er keine funktionale Verlängerung deiner Bedürfnisse ist, er also einen dir gegenüber souveränen Willen hat, nur deshalb ist er von unausdenkbarer überfließender Erbarmung.
Um das Gewicht von Newmans Redeweise zu ermessen, stelle ich der Hagar-Erzählung eine andere Erzählung gegenüber. Sartre erzählt in seiner Autobiographie „Les Mots“70: „Ich hatte mit Streichhölzern gespielt und einen kleinen Teppich versengt; ich war im Begriff meine Untat zu vertuschen, als plötzlich Gott mich sah. Ich fühlte seinen Blick im Innern meines Kopfes und auf meinen Händen; ich drehte mich im Badezimmer bald hierhin, bald dorthin, grauenhaft sichtbar, eine lebende Zielscheibe. Mich rettete meine Wut: ich wurde furchtbar böse wegen dieser dreisten Taktlosigkeit, ich fluchte, ich gebrauchte alle Flüche meines Großvaters. Gott sah mich seitdem nie wieder an.“ Was war das für ein Sehen, das der kleine „Liberale“ Jean-Paul nicht ertrug, das er abschüttelte, um sich nicht verloren geben zu müssen? Er fühlte sich als Zielscheibe.71 Dieses Gesehenwerden von seiten anderer wird „liberal“ erfahren als Bedrohung der Selbstbestimmung und der Unabhängigkeit. Es kränkt die Würde des autonomen Subjekts. Es erwartet von ihm keine Zukunft, sondern legt auf Vergangenes fest. Hagar erfährt dieses auf sie gerichtete Sehen anders, nämlich als den eigenen Wünschen, Vorstellungen und Bemächtigungen entzogen und gerade so als befreiend. Sie erfährt es als erneute Zuwendung, als Chance, einen falschen Weg zu korrigieren, als vergebend, als Einweisung in einen neuen Anfang. Sie sieht sich heimgesucht, nicht übersehen, nicht vergessen, sondern gewürdigt.
Um die Bedeutung des Ausrufes „Du, o Gott, siehst mich“ nochmals weiter zu explizieren, will ich eine phänomenologische Annäherung versuchen. Der phänomenologische Blick lautet: „Ich sehe dich.“ Die phänomenologische Perspektive hat einen Standpunkt, einen umgrenzten Horizont, einen Ausschnitt von Sichtbar-gemachtem aus einer größeren Menge von Nicht-sichtbar-gebliebenem. Das „ich sehe dich“ reduziert, weil es anderes verbirgt und verschließt. Die dabei leitende Intention wählt aus und konstituiert eine Vorstellung, projektiert eine Gestalt. „Ich sehe dich“ heißt immer auch: „Ich mache mir ein von anderen unterschiedenes Bild von dir“. Und: „Ich wirke an einem Bild von Dir mit“, „Ich mache das Bild“. Dabei dürfte die Schwierigkeit des Gesehenen bleiben, sich in einem Bild, das ein anderer von ihm macht, wiederzufinden und sich als dieser anzuerkennen. Die Differenz potenziert sich noch, weil auch das Selbstbild dessen, der sich von einem anderen gesehen weiß, nur ein Ausschnitt seiner Wahl, ein Projekt ist, das ihn nicht erschöpft. Es stoßen also zwei Konstrukte aufeinander: das Bild, das ein anderer von mir macht, und das Bild, das ich selbst von mir mache. Auf diesem Hintergrund ist die Erfahrung zu sehen, die in dem Ausruf laut wird „Du, o Gott, siehst mich“. Was Hagar erfahren hat, ist, dass Gottes Sehen, anders als ein endliches Sehen, nicht den begrenzten Standpunkt eines selektiven Sehens einnimmt; es abstrahiert keinen Ausschnitt aus der Wirklichkeit. Gottes Sehen erfasst über alle reduzierten Selbst- und Fremdbilder hinweg mich in meiner auch für mich selber und für jeden anderen unüberschaubaren Komplexität. Er erkennt mich in meiner komplexen und umfassenden Bedingtheit durch viele andere, in einer von vielen mitgestalteten und einer von mir selber mitgestaltenden Lebensgeschichte. Das ist die Erfahrung, die in dem Wort Providenz angesprochen wird. Gottes Providenz ist äußerst konkret und konkretisierend, gerade weil sie umfassend ist. Das dürfte die beglückende Einsicht Newmans sein. Der Glaube, unter Gottes Augen zu leben, kann sich deshalb in dem befreienden Ruf Luft machen: „Du, o Gott, siehst mich.“ Früher als mein Sehen ist: Ich bin gesehen. Der Glaube an dieses Sehen, an die Providenz ist imstande, sich von den immer verkürzten Selbst- und Fremdbilder zu distanzieren, die eigenen oder von anderer Seite zugedachten Lebensprojekte in Klammer zu setzen oder vom Sockel zu stürzen. Der Glaube an die Providenz öffnet definitive Verstehensweisen, verunsichert Selbstbilder und Fremdbilder, schafft Bereitschaft, Neues und Anderes für möglich zu halten, auf Rufe und Winke zu merken. Der Glaube, dass Gott mich sieht, realisiert, dass ich noch einmal anders bin, als andere und ich selber es für möglich gehalten hätten.
Zutiefst ist Providenz eine Sache der erwählenden Freiheit. „Du, o Gott, siehst mich“ heißt: „Ich stehe in Deiner Aufmerksamkeit“, „Ich vertraue mich Deinem Willen an“. Darin sieht Newman wohl ein dem Liberalismus entgegengesetztes Freiheitsverständnis impliziert. Nicht Freiheit als eine nur abstrakte Autonomie, sondern als ein kommunikativer Akt, in dem einer für den anderen in einer konkreten Situation gegenwärtig ist, ihn freigibt, ihn anerkennt, ihm Raum und Zeit gibt, ihn auch gegen sich aufkommen lässt, gerade darin dann aber auch selbst seine Identität gewinnt. Vielleicht kommt der Erfahrung Newmans am nächsten die Metapher von dem unter den Augen der Mutter spielenden Kind. Ein Providenzbegriff, der von diesem „Du, o Gott, siehst mich“, ausgeht, zielt weckend, berufend, orientierend auf praktisches Verhalten. Vielleicht wird man sagen können, dass Newman Providenz in Beziehung zu dem denkt, was Kant Praktische Vernunft nennt, und was er selber in der Phronesis bei Aristoteles findet.72