Читать книгу Der Slalom meines Lebens - Hilde Gerg - Страница 12
PANIK IM STEILHANG
ОглавлениеDass ich in meiner Karriere mal sieben Weltcupabfahrten gewinnen sollte, war bei meinem Wechsel nach Garmisch nicht wirklich abzusehen.
Bis dahin fuhr ich eigentlich nur Slalom und Riesenslalom. Mit der Abfahrt beginnt man in der Regel erst mit 15 Jahren. Das ist ein riesiger Unterschied zu dem, was man bis dahin so gemacht hat, und eigentlich ein ganz eigener Sport. Beim Riesenslalom ist der Ski maximal 1,90 Meter, beim Slalom sogar noch deutlich kürzer. Damit fährt man dann mit mäßiger Geschwindigkeit durch relativ eng aufeinanderfolgende Tore. Bei der Abfahrt sind die Bretter ganze 2,15 Meter lang. Mit so was hatte ich bis dahin überhaupt keine Erfahrung.
Als dann im Januar 1991 die deutschen Jugendmeisterschaften in Garmisch anstanden, war ich gerade 15 geworden, also alt genug, um die Abfahrt mal auszuprobieren. Wir hatten vorher keine Gelegenheit, das viel zu trainieren, sondern sind einfach am Tag vor den ersten Trainingsläufen zum Freifahren gegangen. Dummerweise hat es sehr stark geschneit und war auch noch nebelig. Das Letzte, was du willst, ist, mit so einem langen Ski, dessen Eigenschaften du überhaupt nicht kennst, im Tiefschnee umeinanderzurutschen.
Ich bin dann wie ein Anfänger nur im Stemm- und Pflugbogen gefahren und habe mich wie eine Skischülerin gefühlt. Mit Abfahrtstraining hatte das bei mir gar nichts zu tun. Irgendwie konnte ich mich mit dem Gerät nicht anfreunden. Das war mir alles zu lang und der Ski wollte auch so überhaupt nicht das machen, was ich mir vorgestellt habe.
Als ich dann am nächsten Tag zum Abfahrtstraining bin, habe ich gleich den nächsten Schreck bekommen. Vor jedem Rennen oder Training besichtigt man eine Strecke, indem man sie abrutscht. Was mir gleich auffiel, waren diese irre weiten Torabstände. Beim Slalom fährt man von kurzem Schwung zu kurzem Schwung, aber da musste man zwischen den Toren extrem viel geradeaus und Hocke fahren. Dabei wird man natürlich auch sehr, sehr schnell. Genau das macht ja die Faszination dieses Sports aus. Das Problem war nur, dass ich so was bis dahin noch nie gemacht hatte. Ich wusste bestenfalls aus dem Fernsehen, von irgendwelchen Skiübertragungen, wie das aussieht.
Als ich dann das erste Mal im Starthaus stehe, wird es mir langsam mulmig. Obwohl ich einen dicken Rennanzug trage, würde ich am liebsten die Jacke anbehalten, um im Falle eines Sturzes noch besser gepolstert zu sein. Die ersten Stockschübe am Start fallen entsprechend bescheiden aus. Fast zaghaft schiebe ich mich auf die Strecke. Im oberen Teil geht es erst mal relativ flach weg. Das funktioniert alles noch wirklich gut und steigert mein Unbehagen nicht weiter.
Blöderweise waren in der Woche vor unseren Meisterschaften aber ein paar Weltcuprennen auf der Kandahar, wie die Rennstrecke in Garmisch-Partenkirchen heißt. Für solche Rennen wird eine Piste in der Regel von oben bis unten komplett vereist. Das hat mit Schnee, wie man ihn vom Skiurlaub kennt, bis auf die Farbe, überhaupt nichts mehr zu tun. Dieses Eis ist wichtig, damit alle Rennläufer ungefähr gleiche Bedingungen haben, denn je weicher eine Piste wird, desto mehr Löcher und Schläge kommen da rein. Und genau diese Nähe zu den Weltcuprennen sollte mir nun zum Verhängnis werden, denn die Piste war für die besten und schnellsten Skifahrerinnen und Skifahrer der Welt präpariert und nicht für eine ängstliche 15-Jährige, die noch nie im Leben auf Abfahrtsski gestanden hatte.
Als ich vom Flachen ins Steilstück fahre, merke ich plötzlich, wie ich die Kontrolle über den Ski verliere.
Da hätte man in der Kurve richtig Druck geben müssen und eine spezielle Skitechnik für diesen langen Abfahrtsski gebraucht, die ich einfach nicht hatte. Bei der Streckenbesichtigung vor dem ersten Training hatte ich mir eine Linie ausgesucht, die für mich perfekt schien. Gerade auch im schwierigen Stück des Eishangs mit dem Sprung. Doch weil die Ski jetzt mit mir machen, was sie wollen, bin ich immer ganz woanders auf der Strecke, als ich mir das vorher gedacht habe.
Da bekommst du dann einen enormen Überlebensstress. Du realisierst bei fast 100 Stundenkilometern, dass da jetzt etwas weiter unten der Sprung kommt und du weit von der Linie entfernt bist, zu der du hinwolltest. Die Frage, die ich mir unter meinem Helm in diesem Moment stelle, ist einfach nur: »Fangzaun oder Sturz?«
Irgendwie schaffe ich es verrückterweise dann doch heil ins Ziel. Mit zitternden Knien stehe ich im Auslauf und fühle etwas, das ich bis dahin im Schnee noch nie hatte: Angst!
Für mich ist in diesem Moment ganz klar: Nie mehr Abfahrt!
Dummerweise muss ich aber noch mal hoch. Die Trainer stehen für einen zweiten Trainingslauf, den wir fahren sollen, alle noch oben am Start und auf der Strecke. Ich kann ja nicht einfach verschwinden. Ich muss ihnen meinen Entschluss erst noch mitteilen.
»Das könnt ihr vergessen, da fahr ich nicht noch mal runter, ich fürchte mich«, ist dann auch meine klare Ansage nach dieser Horrorerfahrung, als ich oben ankomme. Doch Trainer kennen so was und haben dafür einen bunten Baukasten an Tipps parat: »Jetzt komm, Angriff ist der beste Weg zur Verteidigung. Du weißt doch, wo es hingeht, das ist jetzt nicht mehr so schwierig. Nimm die Hände weiter vor und dein Gesäß weiter runter«, sind ein paar der Standardfloskeln aus dem Psychohandbuch für überängstliche Abfahrtsanfängerinnen, die ich mir dann anhören darf.
Noch bevor ich michs versehe, stehe ich schon wieder im Starthaus und bin unterwegs. Nach 30 Sekunden ist meine Fahrt zu Ende. An der Einfahrt zum Steilstück kurz vor dem Sprung bekomme ich wieder eine riesige Angst und schwinge direkt vor einem der Trainer ab. Das ist einer, der schon ewig lang dabei ist und im Weltcup zum Beispiel die Michaela Gerg trainiert. »Ja, Mädel«, sagt der, »das macht nichts, dann fährst du halt nicht Abfahrt.«
Das hat in dem Moment richtig gutgetan.
Irgendwie war ich von mir enttäuscht, aber auch stolz auf mich. Sich zu trauen, auf das innere Gefühl zu hören und abzuschwingen, obwohl von einem etwas anderes erwartet wird, ist in dem Alter ja nicht selbstverständlich.
Mittlerweile bin ich mir sicher, dass es mich da unten geschmissen hätte. Da hätte es sein können, dass meine Karriere schon beendet gewesen wäre, bevor sie überhaupt begonnen hat.
Natürlich bin ich in den Tagen danach immer wieder von ein paar Trainern und Aktiven blöd angesprochen worden. Das war mir dann aber schnell egal, denn ich konnte für mich gut damit leben. Statt auf die Abfahrt bin ich dann zum Slalomtraining. Das war richtig cool, denn da durfte ich auch mal bei der Weltcupmannschaft mitfahren, obwohl ich viel jünger war als die ganzen Stars.
Im Nachhinein habe ich mir oft gedacht, dass das wahrscheinlich eine meiner besten Entscheidungen war, mutig gewesen zu sein, in dem Moment einfach Nein zu sagen. Geschadet hat es mir auch nicht. Nach nur einem Jahr in Garmisch hat mich der Deutsche Skiverband im September 1991 an die Christophorusschule nach Berchtesgaden geholt.