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TRAGÖDIE IN GARMISCH

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Wie eng Freud und Leid beieinanderliegen, sollte ich am 29. Januar 1994 beim Weltcup in Garmisch-Partenkirchen, nur zwei Wochen nach meinem Erfolg in Cortina, lernen.

Dass es im Rennsport immer wieder Stürze mit zum Teil schwersten Verletzungen gibt, war mir eigentlich bewusst. Ich selbst hatte bis dahin großes Glück gehabt, mich trotz einer Fußverletzung gleich in meinem ersten Weltcupjahr für die Olympischen Spiele qualifizieren zu können. Daran, dass man sich lebensgefährlich verletzen oder bei einem Skirennen gar sterben kann, hatte ich ganz sicher nicht gedacht. Der letzte tödliche Unfall lag in diesem Januar 1994 bereits drei Jahre zurück. Am 18. Januar 1991 war der österreichische Abfahrer Gernot Reinstadler bei der Qualifikation zum Lauberhornrennen in Wengen so schwer gestürzt, dass er einen Tag später seinen Verletzungen erlag. Ich war da gerade 15 Jahre alt und habe das damals gar nicht bewusst mitbekommen.

Auf das Rennen in Garmisch hatte ich mich sehr gefreut, denn schließlich war es mein allererster Heimweltcup. Das war nur ein paar Kilometer von zu Hause entfernt und genau dort, wo ich drei Jahre zuvor den Sprung vom Elternhaus in die Unabhängigkeit gewagt hatte. Außerdem kannten wir als deutsche Athletinnen die Pisten dort in- und auswendig, denn das war unser Trainingsgelände.

Klar hatte ich auch nicht vergessen, dass ich dort auf der Kandahar, wo jetzt ein Weltcup stattfinden würde, ein paar Jahre zuvor meine ersten eher peinlichen Erfahrungen auf Abfahrtsski gemacht hatte. Doch ganz so viel Angst hatte ich jetzt nicht mehr vor den langen Brettern und den hohen Geschwindigkeiten, auch wenn mein letztes Rennen in dieser Disziplin schon fast ein Jahr zurücklag. Wegen meiner Sprunggelenksverletzung hatte ich in dieser Saison noch keine Abfahrt bestreiten können. Dementsprechend hatte ich dann auch eine Startnummer irgendwo zwischen 50 und 55.

Unterhalb des Starthauses gibt es in Garmisch eine Wirtschaft, wo sich diejenigen mit den höheren Startnummern aufhalten, bis es hoch zum Start geht. Das kann manchmal ganz schön lange dauern, denn bei einer Fahrtzeit von fast zwei Minuten und dementsprechend langen Startintervallen können für die mit den hohen Startnummern schnell mal eineinhalb Stunden vergehen. Heute hängen im Startbereich bei jedem größeren Rennen überall Fernseher, auf denen man in der Wartezeit alles genau verfolgen kann. 1994 gab es so was nicht.

Als ich rauf zum Start wollte, hieß es dann, dass ich mir Zeit lassen solle, weil das Rennen wegen eines Sturzes wohl länger unterbrochen werden müsste. Ich habe mitbekommen, dass da ein Hubschrauber unterwegs war, aber was passiert ist, hat einem niemand gesagt. Du erfährst nur, was für deinen Lauf wichtig ist: Gibt es Probleme mit der Sicht? Ist da vielleicht ein Loch in der Piste? Geht der Sprung jetzt doch weiter als gedacht? Ansonsten filtern die Trainer alles raus. Dann heißt es einfach: »Es gibt eigentlich keine Probleme auf der Strecke. Fahrt da runter wie besichtigt und passt vor dem Sprung die Geschwindigkeit an.«

Wenn jetzt jemand stürzt, fragt man natürlich schon mal nach, was der Grund war und warum die Unterbrechung jetzt so lange dauert. Wenn der Helikopter kommt, um jemanden abzutransportieren, dann ist sehr schnell klar, dass es ein schwerer Sturz ist. Aber das kann natürlich von einem doppelten Schienbeinbruch bis zu einer Kopfverletzung alles sein. Für jemanden, der kein einziges Livebild gesehen hat, ist die Situation fast so, als wenn du gar nicht vor Ort wärst. Heute würde sofort das Handy bimmeln. Aber auch das gab es damals nicht.

Sobald ich als Athletin weiß, dass ich das Rennen jetzt antrete, bin ich voll konzentriert und fokussiert. In der Abfahrt bedeutet das, dein Möglichstes zu geben, um wirklich schnell runterzukommen. Darauf richtest du alles aus. Gerade in der damaligen Phase meiner Abfahrtskarriere war mir noch nicht bewusst, wie bedeutsam es ist, die Sicherheit genauso ernst zu nehmen. Ich war komplett fixiert auf die Geschwindigkeit und darauf, was die Strecke hergibt. Es ist dann oben nur durchgesickert, dass die Piste während der langen Unterbrechung schneller geworden ist und dass man da jetzt auch mit hohen Startnummern noch richtig gute Zeiten abliefern kann.

Dass sich eine Stunde vor meinem Start, also kurz bevor ich aus der Wirtschaft aufgebrochen bin, ein lebensgefährlicher Rennunfall ereignet hat, habe ich schlicht nicht mitbekommen. Ulrike Maier aus Österreich hatte es kurz vor der letzten Kurve bei über 100 Stundenkilometern einen Ski verschnitten. Ein Fehler, wie er beim Abfahren immer wieder mal passiert und der meistens ohne jegliche Folgen bleibt. Doch die Ulli ist so unglücklich auf einen Holzpfosten der Zeitnahme aufgeschlagen, dass sie sich eine gravierende Kopfverletzung zugezogen hat und ums Überleben kämpfen musste. Die Kandahar hat eine Länge von fast drei Kilometern. Auf der ganzen Strecke stehen am Ende vielleicht drei oder vier von diesen Pfosten und sie hat einen davon erwischt. Das ist schon ein brutales Schicksal, wenn man sich das mal überlegt.

Während die ganze Welt das Drama live am TV verfolgen konnte, hatten wir am Start keine Ahnung. Wenn es die Trainer gewusst haben, dann haben sie uns nichts gesagt. Vielleicht war das auch besser so. Wenn du mit über 100 Stundenkilometer in einen vereisten Steilhang springst, dann solltest du Respekt vor der Gefahr haben, aber nicht über den Tod nachdenken. Am Start heißt es nur über Funk von unserem Pressesprecher: »Ja, war ein Unfall, wird jetzt versorgt und man muss halt schauen.« Mehr Informationen habe ich nicht, als ich starte. Ich versuche also, mich so gut wie möglich zu konzentrieren, durchzukommen und endlich mal eine gute Abfahrt zu fahren.

Mein Plan geht voll auf und ich meistere nun all die Stücke ohne Probleme, vor denen ich drei Jahre zuvor noch so viel Angst gehabt hatte, dass ich damals aufgeben musste. Ich fahre mit Höchstgeschwindigkeit an der Unfallstelle vorbei und habe keinen blassen Schimmer, was sich dort ereignet hat. Als ich mit meiner hohen Nummer ins Ziel fahre und Platz 15 aufleuchtet, freue ich mich wie wahnsinnig. Ich reiße die Arme hoch und lasse meine Freude raus. Ich bin total unbedarft. In meiner Realität hat es bis zu dem Zeitpunkt keine Katastrophe gegeben.

In dem Moment, in dem ich dann meine warme Jacke anziehe und da bestens gelaunt zu den Interviews stapfe, merke ich, dass die mich alle so komisch anschauen und irritiert sind, was ich da von mir gebe. Keiner kann verstehen, warum ich mich so freue. Ich bin ja einfach nur glücklich, dass ich auf Platz 15 gelandet bin, dass ich mein Ziel erreicht habe. Und jetzt werde ich gefragt, wie das war, da vorbeizufahren, und wundere mich, weil ich die Frage überhaupt nicht verstehe. Wir befanden uns einfach auf zwei völlig unterschiedlichen Ebenen. Die einen haben oben am Start gestanden und versucht, ein gutes Rennen zu fahren, und die anderen haben jetzt eineinhalb Stunden lang zuerst von einem normalen Rennen und dann von einer Tragödie berichtet.

Erst als ich die Bilder am Nachmittag im TV gesehen habe, habe ich das ganz langsam kapiert. Das war ganz komisch und hat lange gedauert, bis das wirklich bei mir angekommen ist. Da habe ich gesagt: »Ihr seid ja wahnsinnig, dass ihr das Rennen überhaupt noch habt weiterfahren lassen.« Ich war nur noch geschockt. Und dann extrem gespalten. Auf der einen Seite war ich richtig zufrieden mit der Leistung, die ich abgerufen hatte. Das war mein Job, auf den ich trainiert und den ich an dem Tag eben sehr gut erledigt habe. Aber auf der anderen Seite kämpft da eine Person, die ein paar Nummern vor dir gestartet ist, um ihr Leben. Das ist schon sehr zwiespältig. Ich habe erst im Nachhinein erfahren, dass die Ulrike da schon tot war.

Was mir im Umgang mit dem Drama geholfen hat, war, dass ich sie nur von der Ferne kannte. Das war schließlich meine erste richtige Weltcupsaison und viele der Kolleginnen hatte ich bisher höchstens im Startbereich oder später unten im Ziel gesehen. Wir hatten keine persönliche Beziehung zueinander gehabt. Wenn das eine Teamkollegin gewesen wäre oder jemand in meinem Alter, mit dem ich seit Kindertagen Rennen gefahren war, dann hätte mich das noch mal ganz anders getroffen. Das hinterlässt dann ganz sicher ein brutales Loch. Da wäre ich jeden Tag schon beim Teamfrühstück daran erinnert worden, dass da jemand fehlt.

Dadurch, dass ich den Unfall nicht gesehen habe und selbst noch runtergefahren bin und das Rennen mit einem positiven Aspekt abgeschlossen habe, hat mich das Geschehene in der Rolle der Skifahrerin Hilde nicht beeinträchtigt. Es war danach zum Glück nicht so, dass ich ständig darüber nachgedacht habe, dass ich bei dem Sport, den ich so gerne mache, sterben könnte.

Eine Woche nach dem Drama in Garmisch habe ich dann sogar mein erstes Rennen gewonnen. Das war ein Super-G in der Sierra Nevada im Süden von Spanien. Ich hatte die Ereignisse da zwar noch nicht aus dem Kopf, aber es hat mich nicht so sehr belastet, dass ich nur noch gegrübelt hätte.

Und doch hat sich dieses Datum bei mir eingebrannt. Als ich am 29. Januar 2001 in St. Anton nach einer langen Verletzung die Bronzemedaille gewonnen habe, da ist mir sofort bewusst gewesen, dass das der Todestag von der Ulli Maier ist. Ich hatte diesen Unfall und seine Folgen immer irgendwo im Hinterkopf, aber es hat mich glücklicherweise nicht aus meiner skifahrerischen Bahn geworfen.

Letztendlich war dieser schlimme Unfall in Garmisch allerdings eine Zäsur für unseren Sport. Danach sind die Sicherheitskriterien erheblich verschärft und die Absicherungen auf den Strecken deutlich verbessert worden. Wie bitter nur, dass dafür erst ein Mensch hat sterben müssen.

Der Slalom meines Lebens

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