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Pilgern als Geschäft?

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Von Anfang an galt die christliche Pilgerschaft als eine irdische Investition, von der sich der Pilger irdische Wohlfahrt und eine himmlische Gegenleistung versprach. Wer eine Pilgerschaft in Auftrag gab, setzte gleichfalls den beschriebenen Mechanismus in Gang: Er investierte von seinen materiellen Ressourcen in den „Mietpilger“, um sich mit dessen stellvertretender Pilgerschaft ein Anrecht auf Gottes Hilfe in Zeit und Ewigkeit zu sichern. Grundsätzlich orientierte sich der mittelalterliche Pilger an der „Gleichung“: Das Aufsuchen der Heiligengräber verspricht Heilung und Hilfe in aller Not, gewährt zudem Bußerlass und Verdienst vor Gott.

Die Wirkung des Heiligen konnte sich sowohl für den Pilger als auch für den Mietpilger vervielfachen, wenn er sich am (Begräbnis-)Ort des Heiligen genau an dessen Todes- oder Gedenktag aufhielt: „Im ganzen Mittelalter gestaltete die Person des Heiligen den ihr gehörigen Tag und strahlte eine besondere Heilskraft aus. Was immer an einem solchen Tag geschah, stand im Zeichen des Tagesheiligen.“58 Im Hintergrund ist hier die religionsgeschichtliche Vorstellung maßgeblich, dass die Zeit in aller Regel nicht als gleichmäßig weiterfließend angesehen wird, sondern vielmehr als punktuell verdichtet und besetzt – entweder mit Heil oder mit Unheil.59

Welche Gegenleistung suchten Pilger und Mietpilger am Grab des Heiligen? Als Erstes erbaten die Menschen des Mittelalters am heiligen Zielort ihrer Pilgerschaft ein Wunder: Von 1102 Wundern aus dem nordfranzösischen Bereich des hohen Mittelalters geschahen gut 40 Prozent direkt bei der Anrufung im Heiligtum bzw. nach Berührung der Reliquien. Beinahe ebenso viele ereigneten sich noch am gleichen Tag oder an den beiden folgenden Tagen.60 Angesichts des materiellen Mangels und der fehlenden medizinischen Versorgung, unter der die Bevölkerung zwischen 500 und 1500 litt, bezogen sich das gesamte Mittelalter hindurch die meisten Wunder am Pilgerort auf die Heilung körperlicher Gebrechen. – Als Zweites nahmen Menschen die Pilgerschaft persönlich oder durch einen Stellvertreter als Ausgleichsleistung für begangene Verfehlungen auf sich. Ebenso wie die irischen Bußbücher die Verbannung von der heimatlichen Insel als Sühneleistung für schwere Vergehen verlangt hatten, konnte hinter der zeitlich befristeten Übernahme der Heimatlosigkeit um der Pilgerschaft willen eine Sühnewallfahrt stehen. Zugleich verband man mit der Sühnewallfahrt die Hoffnung, dass der Heilige am Zielort dem Pilger weiter helfen möge, die ihm aufgetragene Bußleistung wirklich zu erfüllen. Im Verlauf des Mittelalters verbreitete sich sogar zunehmend die Sitte, schwere Delikte mit einer Wallfahrt zu den großen Heiligtümern zu bestrafen und so Haftstrafen zu ersetzen.61

Das Pilgerandenken, das ein Pilger am Zielort erhielt – beispielsweise die Jakobsmuschel in Santiago de Compostela –, hatte im Mittelalter zeichenhaften Rechtscharakter. Im Diesseits schützte es den Pilger, wenn er es an der Krempe seines Pilgerhutes trug. Mit Blick auf das Jenseits gingen mittelalterliche Menschen davon aus, dass das Pilgerandenken im ewigen Gericht zu ihren Gunsten in die Waagschale fällt. Viele zeitgenössische Gerichtsdarstellungen belegen diesen Zusammenhang von Diesseitsinvestition und Jenseitsleistung. Entsprechend gab man das Pilgerzeichen einem Menschen bei seiner Bestattung mit ins Grab, damit er es im Jenseits als Beleg für seine gute Tat vorzeigen konnte.62

Das „Rechnen“ innerhalb des spirituellen Handelns mag heutzutage befremdlich wirken. Religiöses Leben und Geschäftemacherei gelten gegenwärtig eher als unvereinbar. Vielleicht kann Paulo Coelhos Pilgerbericht hier eine Brücke in fremde Welten bauen, denn er verknüpft seine Pilgerschaft ausdrücklich mit dem mittelalterlich selbstverständlichen Gedanken der geistlichen Leistung. – Vertrauter als das Verständnis des Pilgerns im Sinne einer frommen Leistung wird vielen Pilgern des dritten Jahrtausends die Bewältigung des Pilgerweges als sportliche Leistung sein. Von ihrer auch sportlich motivierten Pilgerschaft versprechen sie sich im Gegenzug ein freilich auf das Diesseits begrenztes Mehr an Ganzheitlichkeit: körperliche Fitness oder seelische Grenzerfahrungen.

Eine in den vorgestellten Pilgerberichten nicht angesprochene Frage bezieht sich auf jene Menschen, die pilgern wollen, aber daran durch innere oder äußere Umstände gehindert sind. Haben sie, wenn sie einen Mietpilger an ihrer Stelle auf die Wallfahrt schicken, erstrangig den Zielort der Wallfahrt im Blick, weil eben dort die größtmögliche Nähe zum „Zielpatron“ der Wallfahrt möglich ist? Oder richten auch sie ihr religiöses Sehnen erstrangig auf die persönliche Sinnsuche aus?

Das Angebot an Mietpilgern ist vielfältig und im Internet leicht aufzurufen. Mietpilger sind ein interreligiöses Phänomen und kommen bis heute auch in anderen Weltreligionen vor. Sie bieten ihren Zeitgenossen an, sich für sie stellvertretend und gegen Bezahlung an einen heiligen Ort zu begeben.63

„Ihr Ziel ist mein Weg. Ich pilgere für Sie z. B. nach Santiago de Compostela, Finisterre, Rom, Assisi, Lourdes, Fatima …“, heißt es in einem Inserat.64 Und ein anderer Mietpilger wirbt: „Wenn Sie möchten, gehe ich sogar ein Stück des Weges für Sie und bringe Ihre guten Wünsche und Hoffnungen an die heiligsten Pilgerorte Europas.“65 Tatsächlich wird das Mietpilgertum hier als stellvertretendes Pilgern verstanden: „Ich gehe also für all diejenigen den Weg, die aus zeitlichen oder gesundheitlichen Gründen nicht selbst in der Lage sind, die Pilgerreise antreten zu können. An den entsprechenden Etappenzielen bete ich für Sie und platziere auf Wunsch dort auch ganz persönliche Gegenstände, mit denen Sie Ihre Hoffnungen und Wünsche in Verbindung bringen. Gerne mache ich auch Fotos von der Reise und Ihren Devotionalien vor Ort. So können Sie später in Ruhe Ihre ganz persönliche Pilgerreise noch einmal erleben, als wären Sie dabei gewesen. Am Ziel der Reise wird die Compostela für den Jakobsweg oder der Pilgerausweis mit seinen Stempeln als Nachweis für die zurückgelegte Strecke mit Ihrem Namen an Sie überreicht.“66

Im überbietenden Sinne wirbt ein anderes Angebot mit der rituellen Einfassung des Mietpilgerauftrages: „Durch Rituale, die zu Hause oder an besonderen Orten vor dem Beginn vollzogen werden können, und durch deren Ritualisierung auf dem Weg bleiben Sie auf der ganzen Pilgerschaft bis zum Ziel involviert. Gerne kann ich Ihnen zur Gestaltung einer solch herausgehobenen Zeit Vorschläge unterbreiten.“67

Die vorgestellten Inserate deuten darauf hin, dass den Auftraggeber eines Mietpilgers tatsächlich die durch den Heiligen am Zielort der Wallfahrt versinnbildlichte Mischung aus ortsbezogener und personaler Heiligkeit dazu motiviert, einen Mittelsmann in seinem Namen loszuschicken („Ihr Ziel ist mein Weg“). So stehen hinter seinem Anliegen zwei Überzeugungen. Erstens: Den Zielort der Wallfahrt zeichnet ein „Mehr“ an heiliger Kraft aus im Vergleich zu den sonstigen Orten des Alltags. Zweitens: Um dieses „Mehr“ willen nimmt der Auftraggeber eines Mietpilgers zahlreiche Anstrengungen auf sich.

Nochmals gefragt: Trifft es also zu, dass es den Wallfahrern, die den Weg persönlich auf sich nehmen, um die Unterwegs-Erfahrungen der persönlichen Sinnsuche geht, wohingegen der Auftraggeber eines Mietpilgers allein wünscht, dass sein „Mittelsmann“ den heiligen Zielort erreicht? Gilt im einen Fall „Der Weg ist das Ziel?“ und im anderen Fall „Der heilige Ort ist das Ziel?“ Diese scharfe Kontrastierung erscheint fraglich. Auch wenn bislang keine gegenwartsbezogenen Untersuchungen zum Mietpilgertum vorliegen, deuten zumindest die Inserate der Mietpilger darauf hin, dass ihre Auftraggeber ebenfalls Spuren persönlicher Begegnungen auf dem Pilgerweg hinterlassen wollen. Vielen von ihnen ist es ein Anliegen, einerseits durch stellvertretend vollzogene Gebete oder Gesten in die Geschichte dieses Weges einzugehen und andererseits mithilfe von Fotos und anderen Medien an den heiligen Kräften auch der kleinen Orte des Camino zu partizipieren. Somit erlebt sowohl der Pilger als auch der Auftraggeber eines Mietpilgers die Wallfahrt als eine Begegnungsgeschichte: mit sich selbst und mit den traditionsreich-kraftgeladenen Orten am Weg. Freilich verbleibt die Differenz, dass der Auftraggeber einer Wallfahrt im Vergleich zu einem Pilger die Erfahrungen am Weg und am Zielort immer nur auf indirekte Weise mit vollziehen kann, sodass eine Höherbewertung des Zielortes bei ihm naheliegt.

Die von einem Mietpilger übernommene Wallfahrt erfolgt im Sinne einer religiösen Leistung gegen Bezahlung. Umso mehr fällt auf, dass die Werbeinserate der Mietpilger die geschäftliche Seite ihres Tuns weit in den Hintergrund drängen. Stattdessen bieten sie sich als „Vertrauensmenschen“ an, die sich mit Haut und Haar, mit Riten und Zeichen für ihren Auftraggeber engagieren. Tatsächlich inszenieren sie sich eher als religiöse Virtuosen und kaum als Geschäftsleute. Diese Differenz macht neugierig auf eine christentumsgeschichtliche Orientierung, die sich der Pilgerschaft im Spannungsfeld von Leistung und Gegenleistung widmet.

Vom Jakobsweg zum Tierfriedhof

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