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Mittelalterlich-mystische Wurzeln

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Die religiöse Einbindung der Liebesschloss-Installationen bezieht sich nicht allein auf einzelne Orte, sondern ebenso auf geistliche Traditionen. Diese stellten seit hochmittelalterlicher Zeit die personale Nähe zwischen dem Menschen Jesus und einem anderen christlichen Individuum in den Mittelpunkt. So bezog sich das damalige Verständnis von einer ganzheitlichen Lebensgestaltung – wenn man davon rückblickend reden kann – auf den Kontakt zwischen dem menschlichen und dem göttlichen, zwischen dem diesseitigen und dem jenseitigen Leben.

Bereits seit dem 12. Jahrhundert pflegte die mittelalterliche Mystik die symbolische Rede von verriegeltem Schloss und weggeworfenem Schlüssel. Wahrscheinlich reicht das folgende, bis in die Moderne hinein mannigfach weitergereichte Gedicht bis in das Hochmittelalter zurück:

Dû bist mîn, ich bin dîn.

des solst dû gewis sîn.

dû bist beslozzen in mînem herzen,

verlorn ist das sluzzelîn:

dû muost ouch immêr darinne sîn.76

Eine unbekannte Klosterfrau hat wohl diese mittelhochdeutschen Verse niedergeschrieben. In mystischer Begabung preist sie ihren Liebhaber und bezieht sich auf den von ihr als Bräutigam verehrten Jesus Christus. Im Sinne eines geistlichen Motivs und in der Symbolik von Schloss und Schlüssel ersehnt sie, dass der göttliche Herr in ihr Herz einzieht und darin für immer wohnen bleibt.

Der Germanist Friedrich Ohly hebt die für das Mittelalter beispiellose Häufigkeit der Ding- und Raummetaphern für das Herz hervor. Zugleich erläutert er den umfassenderen Horizont dieser für uns heute eher gewöhnungsbedürftigen Rede- und Vorstellungsweise: „Der Gebrauch der Gebäudemetaphern für das Herz besagt, dass dann das Herz nicht als ein physiologisch funktionierendes Organ, vielmehr als Sitz der Einwohnung von guten oder bösen Kräften, von Gott oder dem Teufel, am Ende auch geliebten Menschen angesehen wird.“77

Die Rede vom Herz als Gebäude für das Göttliche und die himmlischen Kräfte ist seit mittelalterlicher Zeit häufig überliefert. Ein einprägsames Beispiel ist die Herz-Jesu-Litanei des 1568 in Erstausgabe vorgelegten Breviarium Romanum. Darin wird das Herz Jesu als heiliger Tempel Gottes (templum Dei sanctum) charakterisiert, ebenso als Tabernakel des Höchsten (tabernaculum altissimi), als Haus Gottes (domus Dei), als Tor des Himmels (porta caeli), als brennender Ofen der Liebe (fornax ardens caritatis) oder als Gefäß der Gerechtigkeit und der Liebe (iustitiae et amoris receptaculum).78

Die Bildrede von der Einwohnung Jesu Christi im Menschen zeigt sich auch anhand der vielfältig überlieferten Darstellungen und Skulpturen der Maria Gravida – Maria als Schwangere. Diese Werke der geistlichen Kunst, wie sie heutzutage in vielen Mittelalter-Museen zu bestaunen sind, bringen anschaulich zum Ausdruck, dass Jesus den Leib Mariens „bewohnt“.79 Ursprünglich hatten diese Bildwerke eine Appellfunktion gegenüber dem Beter: Ebenso wie Maria soll sich jeder Betrachter der Maria Gravida für die Einwohnung des Jesuskindes zur Verfügung stellen und sich durch Übungen der Frömmigkeit darauf vorbereiten. Tatsächlich hielten die Menschen seit dem 12. Jahrhundert den Einzug des Jesuskindes in ihren Leib für möglich. Aus diesem Verständnis heraus erhofften sie sich – mariengleich – eine geistliche Schwangerschaft und dass sie das Jesuskind schließlich geistlich zur Welt bringen („gebären“) könnten.80

Kurzum: Wenn die Liebesschlösser das Individuelle und die soziale Eingebundenheit der Liebenden gleichermaßen versinnbildlichen, ist dieser Zusammenklang – für heutige Menschen allzumeist unbekannt – bereits in der christlichen Mystik des Mittelalters angelegt. Denn auch die Liebesschlösser bringen im übertragenen Sinne zum Ausdruck, dass die beiden Liebenden beieinander wohnen: Sie tragen einander in ihren Herzen und entlassen sich daraus nicht mehr – so hoffen sie.

Vom Jakobsweg zum Tierfriedhof

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