Читать книгу Vom Jakobsweg zum Tierfriedhof - Hubertus Lutterbach - Страница 8
3. Ziel: Das Aufspüren von religiösem Leben in unserer Gesellschaft
ОглавлениеDie Fallbeispiele dieses Buches vermitteln ein vielfältiges Bild davon, wie der Rückgriff auf Religion auch heutzutage unterstützt: bei der Begründung von Gemeinschaftsbildung und sozialer Integration, bei der Bewältigung von Ängsten und Traumata, bei der Verarbeitung von schweren Schicksalsschlägen, in der Konfrontation mit Ungerechtigkeiten und Leiden oder bei der Entscheidung zugunsten von Widerstand und Auflehnung gegen gesellschaftliches Unrecht und soziale Ungerechtigkeit. Hier greifen Menschen auf heilige Texte und lebenspendende Gebräuche zurück. Sie orientieren sich an spirituellen Virtuosen und entwickeln Halt gebende Liturgien.
„Die womöglich von der Tradition abgekoppelten religiösen Elemente, die noch in der Kultur kursieren, können neu zusammengemischt werden, sodass auch neue religiöse Inhalte entstehen können, die sich an die geänderten Lebensverhältnisse anpassen.“8 Diese religionssoziologische Einsicht ruft die Leitfrage dieses Buches nochmals in Erinnerung: Wie wirken sich die gesellschaftlich „angesagten“ Veränderungen (Individualisierung, Ganzheitlichkeitsstreben, Institutionendistanzierung) auf die „gelebte Religion“ in Deutschland im dritten Jahrtausend aus?
Das Buch setzt bei gesellschaftlichen Schlüsselphänomenen an, also bei Ereignissen, Institutionen, Personen, Praktiken und Zeichen, die im gesellschaftlichen Leben der Bundesrepublik Deutschland jüngst Aufmerksamkeit bekommen haben und denen auf je unterschiedliche Weise auch eine religiöse Dimension eigen ist. Fünf gesellschaftliche Phänomene beziehen sich auf den Umgang mit dem Leben, mit der Lebendigkeit, während sich die übrigen fünf dem Umgang mit dem Tod und dessen Deutung widmen.
Entsprechend handelt der erste Teil des Buches unter der Überschrift „… mitten im Leben“ von der Erschließung des seit einigen Jahren höchst populären Pilgerns, von der Interpretation der Liebesschlösser, von den Reaktionen auf die Rücktritte von Margot Käßmann und Walter Mixa, von der Entschlüsselung jenes Erfolgs, der dem christlichen Bestsellerautor und Mönch Anselm Grün seit Jahren beschert ist, sowie vom Entstehen der gesellschaftlich einflussreichen – und im Dienste des Lebens stehenden – Hospizbewegung.
Auch der zweite Teil des Buches unter der Überschrift „Vom Tod umfangen …“ fragt nicht zuletzt nach der gemeinschaftlichen und der individuellen Bedeutung religiöser Interpretamente in der jüngsten Vergangenheit der Bundesrepublik Deutschland. So analysiert dieser Buchteil den öffentlichen Umgang mit dem Tod von Papst Johannes Paul II. († 2005), die auch medial intensiv thematisierte Selbsttötung des deutschen Fußballnationaltorwartes Robert Enke († 2009), die große Attraktivität von Unfallkreuzen am Straßenrand, die auch rituell gestaltete Trauer um die Opfer der Loveparade von Duisburg (2010) sowie den Umgang mit verstorbenen Haustieren.
Im Anschluss an die zehn Fallstudien fasst der abschließende „Epilog“ den Einfluss von Individualisierung, Ganzheitlichkeitsstreben und Institutionendistanzierung auf das religiöse Leben innerhalb der Gesellschaft zusammen. Dieses Ergebnis bietet denen eine Orientierungshilfe, die religiöse Ausdrucksweisen im persönlichen wie im öffentlichen Leben tiefer verstehen wollen oder die in unserer Gesellschaft für religiöses Leben in Deutung und Praxis gestaltend einstehen.
Es sei ausdrücklich angefügt, dass es zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch zu früh ist, um den Blick vom Christentum als Referenzpunkt auf andere Religionen auszuweiten. Eben diese Tendenz zeigen auch die Meinungsmacher und Elitejournalisten in ihrem aktuellen Umgang mit dem Thema „Religion in Deutschland“: „Bei ihrer Bestimmung des ,Religiösen‘ bleiben sie alle – in Anknüpfung oder Widerspruch – auf das Christentum und die in den christlichen Kirchen institutionalisierte Religion bezogen.“9 Tatsächlich lässt sich die bundesrepublikanische Gesellschaft aktuell immer noch dritteln in Katholiken, Protestanten und Menschen ohne Mitgliedschaft in einer religiösen Institution. Die Informationen des Zensus von 2011, in den auf Drängen der Kirchen in Deutschland auch Fragen nach der religiösen Organisiertheit und nach der religiösen Haltung der Menschen aufgenommen worden sind, liegen gegenwärtig noch nicht vor. So bleibt vorerst unklar, inwieweit nichtchristliche Religionen in Deutschland bereits „eingewurzelt“ und deutungsprägend sind.