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Notstand ohne Not – die Notstandsgesetze 1968
ОглавлениеKaum war das »Dritte«, das »Tausendjährige Reich« vorzeitig zu Ende, dachten die bürgerlichen Parteien Nachkriegsdeutschlands daran, die verfassungsrechtlich garantierten Rechte zu suspendieren, wenn die Regierung in Not gerät – und dabei Schutzrechte nur eine Last sind.
Es sei erwähnt, dass die bürgerlichen Parteien über die Notwendigkeit von Notstandsgesetzen diskutierten, als es nicht den Hauch einer Bedrohung gab, die nicht mit dem bestehenden Gewaltmonopol und den vorhandenen gesetzlichen Möglichkeiten hätte bewältigt werden können. Man dachte am Anfang der Beratungen gerade anders herum: Wenn alle mitmachen, ganz vom »Wirtschaftswunder« geblendet sind, dann interessieren sie sich nicht für Gesetze, die eine Rebellion niederschlagen sollen, an die die meisten nicht einmal im Traum denken.
Nach jahrelangen Beratungen war sich die Große Koalition aus CSU/CDU und SPD am 30. Mai 1968 einig: »Im Fall eines inneren oder äußeren Notstands kann seither ein ›Notparlament‹ als Ersatz für Bundestag und Bundesrat zusammentreten. (…) Die Bundeswehr darf außerdem zur ›Bekämpfung militärisch bewaffneter Aufständischer‹ – also auch gegen die eigene Bevölkerung – eingesetzt werden. Darüber hinaus können die Grundrechte jedes Einzelnen bei einem Ausnahmezustand beschnitten werden: Insbesondere das in Artikel 10 des Grundgesetzes garantierte Post- und Fernmeldegeheimnis ist davon betroffen.« 41 Dazu führt Detlef Borchers aus:
Im Bereich der Kommunikation führten die Notstandsgesetze zu einer Umdefinierung des Post- und Fernmeldegeheimnisses. Bis zu dieser zentralen Gesetzesänderung waren Post- und Fernmeldeüberwachungen durch deutsche Behörden verboten. Das änderte sich mit den Notstandsgesetzen beziehungsweise dem zugehörigen G10-Gesetz, das am 1. November 1968 in Kraft trat und nur in Westdeutschland galt – in Westberlin war das Abhören und Verwanzen via Besatzungsrecht weiterhin nur den Alliierten erlaubt. Fortan durften der Bundesnachrichtendienst, der Militärische Abschirmdienst und der Verfassungsschutz das Post- und Fernmeldegeheimnis brechen, wenn sie den bloßen Verdacht hatten, jemand könnte etwas planen, das die Sicherheit der BRD und das Staatswohl gefährde. Gegen die Maßnahmen konnte nicht geklagt werden, denn in »ihrem Vollzug ist der Rechtsweg nicht zulässig«. 42
Mit einer deutlichen Zwei-Drittel-Mehrheit stimmten am 30. Mai 1968 die Abgeordneten für die Notstandsgesetze – also auch mit vielen Stimmen der SPD. Die Haltung der SPD, an der sich bis heute nichts geändert hat, brachte Willy Brandt auf den Punkt: »Der Sozialdemokrat bezeichnete die Notstandsgesetze als ›erforderliche Vorsorgegesetzgebung‹, bei der man nur über das ›Wie‹, nicht über das ›Ob‹ streiten könne.«
Als die Kenntnis über die Absicht, Notstandsgesetze zu verabschieden, auch die 68er-Bewegung erreichte, war die Aufregung groß und einhellig. Es gab spannende und lehrreiche Debatten, was man davon zu halten hat und wie man sich dazu stellt, vor allem mit Blick auf das Ermächtigungsgesetz aus dem Jahr 1933, das mit Zustimmung bürgerlicher Parteien den Nazis den Weg an die Macht geebnet hatte. Und es gab sehr große Proteste gegen die Notstandsgesetze. So fand in Bonn unter dem Motto »Treibt Bonn den Notstand aus!« eine Demonstration von über 40.000 Menschen statt. Dort sprach unter anderem Heinrich Böll: »Das Gesetz erscheint den meisten Bürgern dieses Staates als eine Art Verkehrsregelung bei Naturkatastrophen, während es in Wahrheit fast alle Vollmachten für eine fast totale Mobilmachung enthält.«
Im Vorwort zur Broschüre »Gefahr im Verzuge« von Jürgen Seifert, die die Auseinandersetzung um Entwürfe über ein Notstandsgesetz vor über fünfzig Jahren darstellt, hält der damalige hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer fest:
Der Entwurf für eine Notstandsverfassung sieht praktisch unlimitierte Einschränkungen einer Reihe von Menschenrechten vor, die nach dem, was auch im Grundgesetz steht, »unverletzlich und Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt« sind. Nach der üblichen Auffassung sind die Menschenrechte weder durch das Grundgesetz geschaffen, noch können sie selbst durch ein Grundgesetz aufgehoben werden. Kann die von der Bundesregierung vorgesehene Notstandsverfassung hiernach überhaupt Rechtsgültigkeit erlangen?
Die Menschenrechte werden hierzulande nicht wie ein Heiligtum gehütet und gehegt, sie sind vielen nicht die Substanz der Verfassung, das A und O, ohne die unser Staat zu existieren aufhört. Die Ausnahmen, Einschränkungen und Vorbehalte pflegen hier gerne zur Regel zu werden, da obrigkeitsstaatliches Denken nicht tot ist und durch das für Gegenwart und Zukunft kennzeichnende Wachstum der Bürokratie immer neue Nahrung erhält. Die – wenn auch zunächst theoretischen – Möglichkeiten einer Suspendierung der Grundrechte können das Denken und Handeln bestimmen; sie bestätigen vielen, allzu vielen, die an der Unverzichtbarkeit der Grundrechte deuteln, auf ihren Realismus stolz sind und an das Ethos einer Staatsräson glauben. In Notwehr gegen eine – wirkliche oder vermeintliche – Arglist und Gefahr bleibt, frei nach Schiller, auch das redliche Gemüt nicht wahr. Die Bundesrepublik sollte, sofern Recht und Freiheit mehr als ein bloßes Lippenbekenntnis sind, und solange eine wirklich zwingende Not nicht besteht, darauf verzichten, nach Eichhörnchenart Grundgesetzartikel auf Vorrat zu sammeln, deren Gefährlichkeit kaum bestreitbar ist. 43
Und was ist mit diesen Notstandsverordnungen, die 1968 die Große Koalition aus CSU/CDU und SPD beschlossen hatte? Sie gelten bis heute.