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Birgit Sauer: Unsicherheitsmobilisierung, Versicherheitlichung und Regieren Eine emotionstheoretische Perspektive auf das Pandemie-Management 1. Einleitung
ОглавлениеDer deutsche Schriftsteller Thomas Brussig 57 (2021) veröffentlichte Anfang Februar 2021 in der Süddeutschen Zeitung ein Plädoyer für »Mehr Diktatur wagen«. Dass damit eine Absage an »1968« gemeint ist – denn Willy Brandts Aufruf »Mehr Demokratie wagen« legitimierte damals die Transformationsvorhaben der 68er-Bewegung –, unterstreicht die Forderung Brussigs, einen Wechsel in der Steuerung der COVID-Pandemie mit generellen Einschränkungen der liberalen, gleichstellungsorientierten und politisch-demokratischen Ordnung der Bundesrepublik zu verbinden.
Um die aktuellen Formen von Regieren in der COVID-Pandemie, von Krisenmanagement und von Herrschaft besser verstehen zu können, scheint mir eine emotions- bzw. affekttheoretische Sichtweise aufschlussreich. Die österreichischen Anti-COVID-Maßnahmen waren von Appellen an Solidarität, an die Sorge für andere und für sich selbst begleitet: Die Kampagne »Schau auf dich, schau auf mich« von der österreichischen Bundesregierung und dem Roten Kreuz 58 will darauf hinweisen, dass die Sorge um sich selbst zugleich ein Akt der Gemeinsamkeit, der Sorge um ein Gegenüber, also eine Form von Gemeinsinn und Solidarität ist. Auch Regieren mit und durch Angst gehört zum Repertoire der österreichischen COVID-Governance, beschwor doch beispielsweise Bundeskanzler Sebastian Kurz am Beginn der Pandemie, am 30. März 2020, dass bald jede_r in Österreich jemanden kennen werde, der_die an COVID verstorben sei. Und auch das materielle und diskursive »bordering« – das Schließen nationaler Grenzen oder das Stigmatisieren und Aus-Schließen spezifischer Gruppen (derjenigen, die sich nicht an die Corona-Maßnahmen halten, oder derjenigen, die aus Risikogebieten einreisen und das Virus möglicherweise importieren) – ist Element einer Politik der Angst.
Mit dieser Diagnose und meiner folgenden Analyse will ich keineswegs behaupten, dass es keiner Maßnahmen gegen die Pandemie, die das Verhalten der Individuen regeln und einschränken, bedürfte. Im Gegenteil, es geht mir vielmehr darum, aufzuzeigen, wie und warum dieses affektive Regieren, das Steuern mit Emotionen funktioniert und auf welcher affektiven und emotionalen Basis das Regieren der Pandemie arbeitet. Dadurch möchte ich auch deutlich machen, welche langfristigen Folgen diese Strategie für Gesellschaft und Demokratie haben kann.
Um dieses Regieren von und mit Gefühlen in der COVID-Pandemie besser zu verstehen, braucht es zunächst eine historische Perspektive. Nur so lässt sich erklären, weshalb das emotionale Regieren greift bzw. als Strategie überhaupt zur Verfügung stand. Diese historische Kontextualisierung der Anti-COVID-Governance erklärt auch, weshalb sie insbesondere anti-elitistische und »verandernde« (Othering), also rechtspopulistische Gegenreaktionen hervorruft, emanzipatorische Projekte aber marginalisiert bleiben.
Im Folgenden werde ich mit einer Rückschau auf neoliberale Transformationen der österreichischen Gesellschaft in den vergangenen 30 Jahren den historischen Kontext ausleuchten und daran anschließend das affektive Regieren (in) der COVID-Pandemie als Herrschaftsform darstellen. Abschließend werde ich Perspektiven der Demokratisierung kurz diskutieren.