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Quo vadis? 2020−87 =?53

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Wenn man auf die hier besprochenen Ausnahmegesetze und Notverordnungen zurückblickt, dann richtet sich – hoffentlich – das Augenmerk auf das, was sie angerichtet haben, was davon (zum Teil bis heute) geblieben ist, obwohl sich kaum noch jemand an den Anlass erinnert.

Dennoch hat es ein Ausnahmegesetz, das Ermächtigungsgesetz von 1933, ins Jetztbewusstsein geschafft. Auf einigen Querdenkerdemonstrationen wurde auf dieses Ermächtigungsgesetz aus dem Jahr 1933 verwiesen. Ob man damit das 3. Infektionsschutzgesetz 2020 gleichsetzen wollte, kann hier nebensächlich bleiben.

Tatsächlich sind es vor allem die Assoziationen, die damit geweckt und ganz schnell zu Ende gedacht werden. Sind wir schon nahe an 1933? Was ist damit gemeint, was wird mit diesem Vergleich nahegelegt? Man denkt natürlich sofort an die Machtübernahme der Nazis, der NSDAP, also an so etwas wie ein Viertes Reich.

Als die AfD bei der Verabschiedung des 3. Infektionsschutzgesetzes im Bundestag am 18. November 2020 Schilder mit dem Verweis auf das Ermächtigungsgesetz 1933 hochhielt, war die Empörung von rechts bis links staatstragend groß. Dass die AfD nichts gegen eine Diktatur hat, aber ganz viel, wenn sie nicht von ihr angeführt wird, versteht sich (fast) von selbst. Das macht eine eigene Stellungnahme nicht überflüssig, sondern notwendig!

Genau diese blieb aus. Fast können man sagen, dass den Staatstragenden die AfD wie gerufen kam! Wenn ausgerechnet die AfD vor einem Ermächtigungsgesetz à la 1933 warnt, dann müssen die sich in einer Art unüberlegtem Reflex vor die Bundesregierung stellen. Nein. Denn wenn eine Linke die AfD braucht, um sich nicht mit Ausnahmezuständen auseinanderzusetzen, dann gibt sie ein zentrales Anliegen auf: Den Kampf um Schutz- und Freiheitsrechte gegenüber dem Staat.

Ich kenne keine Diskussion, auch nicht in der Linken, die die verschiedenen Ausnahmezustände verglichen hat und schon gar nicht, welche »legalen Brücken« in der deutschen Geschichte erst zur Demontage von Grundrechten, zu einer, wie Heribert Prantl schreibt, »untergesetzlichen Parallelrechtsordnung« geführt hatten, was dann in eine Diktatur mündete.

Stattdessen versucht man mit Pathos und Opfer-Verehrung zuzudecken, dass man sich unterhalb dessen bewegt, was ein liberaler Jurist und Journalist der Süddeutschen Zeitung konstatierte.

Mit Blick auf die Bezugnahme zu dem Ermächtigungsgesetz 1933 durch die AfD erklärte der parlamentarische Geschäftsführer der Partei DIE LINKE Jan Korte: »Ahistorische Vergleiche wies der Linke-Politiker gleich zu Beginn seiner Rede zurück: ›Das ist kein Gesetz, das in die Diktatur führt‹. Wer das behaupte, verhöhne die Opfer von Diktatur und diejenigen, die ›gefoltert, geknechtet und ermordet‹ wurden. ›So weit unten darf man nicht ankommen‹, rief er in Richtung der AfD.« 54

Das ist kein Gesetz, das in die Diktatur führt. Punkt. Woher weiß er das? Warum ist er sich da so sicher? Warum erklärt er uns nicht seine Vorausschau? Kann man mit Corona nicht ähnlich viel erklären und rechtfertigen wie mit der Angst vor den Kommunisten?

Wenn man auf frühere Ausnahmezustände oder Notverordnungen verweist, dann geht es überhaupt nicht darum, die gesellschaftlichen Umstände außer Acht zu lassen, in denen sie jeweils wirkten. Es geht hier also nicht darum, dass sich ein 1933 wiederholt. Niemals wiederholen sich solch epochalen Ereignisse auf dieselbe Weise. Aber es gibt Lehren, die eine Linke daraus ziehen kann. Dazu gehört die Einsicht, dass durch Anpassung Schlimmeres nicht vermieden wird. Sebastian Haffner hat dies im Rückblick auf das selbst miterlebte 1933 so formuliert:

»Hinter der ganze Brüningzeit (die Zeit der Notverordnungen, d. V.) stand die Frage: Was dann? Es war eine Zeit, in der eine trübe Gegenwart nur durch die Aussicht auf eine grauenvolle Zukunft gemildert wurde.« 55

Keine Frage: es gibt heute wenig Grund zur Annahme, dass wir auf eine klassische Diktatur zulaufen. Welcher Widerstand, welche Proteste sollten niedergeschlagen werden, für die man eine Diktatur brauchen würde? Allerdings: Brauchen wir erst die Gewissheit, die Zusicherung für eine Diktatur, damit wir etwas gegen Einschränkungen, gegen die Suspendierung von Grundrechten unternehmen? Ändert sich etwas an der Gefahr, dass sich aus einer »untergesetzlichen Parallelrechtsordnung« etwas entwickeln kann, wovon wir heute nicht die blasseste Ahnung haben?

Ist es nicht genug, der trüben Gegenwart etwas entgegenzusetzen, anstatt sie mit Aussicht auf eine grauenvolle Zukunft hinzunehmen?

Ein Ausnahmegesetz, eine Notverordnung gehen immer damit einher, dass das Parlament die legislative Macht an die Regierung, an die Exekutive abgibt. Mit dem aktuellen Infektionsschutzgesetz ist die Regierung de facto Exekutive und Legislative zugleich, was zu einer Machtanhäufung führt, die man gerade angesichts schlechter Erfahrungen verhindern sollte. Manche werden einwenden, dass sich die Gewaltenteilung (Exekutive/Legislative/Judikative) seit Längerem in einem miserablen Zustand befindet, dass jetzt nur etwas vollzogen wird, was bereits ohne Sondergesetze gilt. Das Parlament sei ein Nick-Parlament geworden. Genau diese Haltung war bereits in den 1920er- und 1930er-Jahren sehr en vogue und hatte dazu geführt, dass man selbst dann zustimmte, als es um die eigene Exekution ging.

Es gäbe aber auch eine andere Antwort auf den schleichenden Bedeutungsverlust des Parlaments, als Ort der Debatte, als Ort der Rede und Gegenrede. Man könnte sich für Bürger*innenforen einsetzen, die finanziell und institutionell abgesichert sind und genau das tun, was einer Entscheidung vorausgehen sollte: Meinungen, Gegenmeinungen, These und Antithese zu Wort kommen lassen, also das Gegenteil vom dem, was heute weitgehend gemacht wird. Die Corona-Zeiten machen genau diesen Mangel sichtbar. Irgendwo werden weitreichende Entscheidungen getroffen und ein weitgehend geschlossener Kreis promotet sie. Wer sich dagegenstellt, wird mit Missachtung und Denunziation kaltgestellt. Dass man solche Scheindiskussionen nicht noch einmal im Parlament wiederholen möchte, ist verständlich.

Dass das 3. Infektionsschutzgesetz gewaltige Grundrechtseinschränkungen ermöglicht, die auf bisher nicht dagewesene Weise das Leben im Privatbereich organisiert und sanktioniert, ist unbestritten. Bis in die Linke hinein wird das – dem hehren Zweck zuliebe – hingenommen. Vor allem die Linke betont überall ihre Solidarität (damit). Genau diese Solidarität soll dem Egoismus, dem drangsalierten Ich und dem neoliberalen Freiheitsgeschwätz entgegengehalten werden.

Diese (auf-)gerufene Solidarität ist nicht nur schal. Sie ist haltlos, wenn sie aus der sozialen und emotionalen Isolation herausgerufen wird.

Der zweite Lockdown um die Jahreswende 2020/2021 war kein Akt der Solidarität mit allen. Er war das Gegenteil: Er betraf explizit nur den Privatbereich und nahm alle Gefährdungen in der Arbeitswelt in Kauf. Gerade dieser Lockdown sollte nicht alle Menschen schützen, sondern ganz besonders die Wirtschaft schonen, wie dies das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) gefordert hat: »Lockdown light darf nicht auf Industrie übergreifen.« 56

Genau das war und ist jedoch hochgradig verfassungswidrig. Oder, wer es weniger verfassungs»patriotisch« verorten will: Der verordnete Lockdown war in hohem Maße unsolidarisch. Auch diesen Fakt nahm die Linke schweigend hin.

Die Auseinandersetzung mit zurückliegenden Ausnahmezuständen würde es ermöglichen, an einen anderen zentralen Punkt von Notzuständen heranzukommen: Die Instrumentalisierung eines Anlasses. Immer, wenn wir Angst um unser Leben, um unser bisheriges Leben haben, suchen wir Schutz, und sind schnell bereit, »Opfer zu bringen«. Das machen alle Menschen. Wer aber den Neoliberalismus, die Ich-AG-Mentalität dieser Gesellschaft kritisiert, sollte das kollektive Gedächtnis bemühen, um mit der eigenen Angst ein wenig kollektiver umzugehen, als das gewollt und erwünscht ist.

Mehr denn je geht es darum, die Schließung von Kultureinrichtungen (die Selbst-Schließung von politischen Zentren) nicht hinzunehmen.

Dass Linke keine Profis für Ausnahmezustände sind, liegt auf der Hand. In aller Regel, und hier darf man in Seelenruhe vorausblicken, wird sie von diversen Nebenwirkungen mehr getroffen, als ihr lieb ist. Auch das sollte eine Linke wissen, wenn sie das Muster der vorangegangenen Ausnahmezustände nur halbwegs erkennt.

Wenn sie sich dessen gewahr ist, dann wäre es mehr denn nötig, die Einschränkungen in Frage zu stellen. Das darf sie ganz grundsätzlich machen und das hätte ihr Respekt und Achtung eingebracht.

Ganz vorsichtig formuliert, gibt es genug Grund, an der Wirkung von Lockdowns, wie sie sektoriert sind, zu zweifeln. Die Einschränkungen, die getroffen wurden und werden, stehen in keinem Verhältnis zu ihrer Wirkung(slosigkeit). Bis heute ist eine entsprechende Evaluierung ausgeblieben.

Man könnte noch viele weitere sachfremde Umstände anführen, um zu belegen, dass auch dieses Ausnahmegesetz, wie alle anderen zuvor auch, die Gunst der Stunde nutzt, also instrumentellen Charakter hat: Dazu zählen Demonstrationsverbote (aufgrund haarsträubender Begründungen), bis hin zur polizeilichen Auswertung von »Bewirtungsdaten«.

Man muss der gegenwärtigen Regierung nicht das Schlimmste unterstellen. Es reicht, sich ganz sicher darin zu sein, dass diese Gesetze einen Weg ebnen, der einen Putsch überflüssig macht, der einen Regimewechsel in Anwendung dieser »Ermächtigungsgesetze« möglich macht. Dass die Brücke dorthin nicht unbedingt diejenigen begehen, die sie gebaut haben, belegt die Geschichte der Notverordnungen und der Ermächtigungsgesetze.

Es gibt gute und sehr verständliche Gründe, das alles als ganz fernes Donnergrollen abzutun. Ich möchte uns alle fragen: Wer hätte vor zwei, drei Jahren vorhersagen wollen, dass wir uns sehr bald mit all dem abfinden, was die Corona-Maßnahmen erzwingen? Und wer wollte orakeln, dass selbst ganz vernünftige Menschen, vielleicht sogar aufgeklärte Linke dabei sein werden, Widerspruch und Ablehnung (gegen die Corona-Maßnahmen) auf eine Weise zu verfolgen und zu denunzieren, die jener staatsautoritären Gesinnung sehr nahekommt, gegen die man in den 1960er- und 1970er-Jahren aufbegehrt hatte.

Und ein letztes, bitteres Wort: Wenn man Solidarität in den Mund nimmt und damit die Regierungsformel: Wir stehen das gemeinsam durch absegnet, dann verschleiert man Herrschaftsverhältnisse, anstatt sie offenzulegen. Es geht ganz und gar nicht darum, die Kosten der Krise auf alle gerecht zu verteilen, denn eine Krise unter kapitalistischen Bedingungen sorgt nicht für Ausgleich oder gar (mehr) Gerechtigkeit, sondern für deren Verschärfung und Zuspitzung.

Eine Linke, die angesichts des drohenden Schlimmeren den Jetztzustand hinnimmt (und gar verteidigt), macht sich selbst überflüssig. Es kann und muss darum gehen, im Jetztzustand das lebendig, sichtbar und greifbar zu machen, was dem Jetzt eine Alternative entgegensetzt und so dem Schlimmeren den Weg abschneidet.

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