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September 2014 – London – Unerwarteter Besuch
ОглавлениеBereits nach einer knappen Stunde waren sie mit dem R8 am Schloss außerhalb von London angekommen. Eine Fahrt, die unter Beachtung der Verkehrsregeln erheblich länger gedauert hätte.
Rayan hatte von Cho noch im Jet auf dem Flug hierher einen Plan mit dem Grundriss des Internats erhalten, den er sich eingeprägt hatte. Auch wo das Zimmer seines Sohnes sein musste, hatte Cho ihm markiert.
Vor Ort bat er Hanif, im Wagen zu bleiben. Alleine war er schneller und kam besser voran. Hanif stimmte ihm zu, er wollte nicht schon wieder eine Auseinandersetzung provozieren.
Daher schlich Rayan wenige Minuten später über das nächtliche Schulgelände. Aus seinem Spezialkoffer, den er aus dem Schließfach am Bahnhof mitgenommen hatte, war nicht nur eine Waffe, sondern auch ein Nachtsichtgerät zum Vorschein gekommen. Und außerdem Spezialwerkzeug zum Öffnen von Türen.
Hanif hatte nicht schlecht gestaunt und wieder zu sich selber gesagt, dass er am besten nicht genauer wissen wollte, welche Art von Geschäften sein Herr hier üblicherweise betrieb.
Die Gänge lagen verlassen da. Fast zu leicht kam er in den dritten Stock, in dem sich Tahsins Zimmer befand. Es handelte sich um ein Doppelzimmer und daher vermutete Rayan, dass auch der Mitbewohner schlafend in seinem Bett liegen würde. Er musste entsprechend absolut lautlos sein.
Als er leise die Türe öffnete und in das Zimmer schlüpfte, setzte sein Herz einen Schlag aus: Tahsin war nicht dort! Hatten die Gegner doch von seiner Reise Wind bekommen und bereits zugeschlagen? Einen Moment wurde ihm fast schlecht bei dem Gedanken. Dann zwang er sich, logisch nachzudenken. Auch der Zimmergenosse seines Sohnes war nicht da, beide Betten schienen unberührt.
Er war einen Blick zur Uhr: 2 Uhr 42! Wo konnten die Jungen sein? Tahsin war vierzehn Jahre alt und morgen war Unterricht - er sollte längst schlafen.
Dann kam ihm eine Idee und er rief Cho an. Der meldete sich bereits nach dem ersten Klingeln, denn er wusste, dass sie gerade im Internat waren, und war auf Stand-by.
„Kannst du mir Tahsins GPS anpeilen?“, fragte Rayan halblaut, wie üblich ohne Gruß oder einleitenden Satz. Für Cho war das vollkommen in Ordnung. Im Einsatz war keine Zeit für Höflichkeiten.
„Er muss im Stock über dir sein – im Eckzimmer in der südlichen Ecke.“ Rayan fluchte und legte auf. Was machte Tahsin dort mitten in der Nacht?
Dann verließ er das Zimmer ebenso leise, wie er eingetreten war, und schlich ein Stockwerk höher. Vor dem von Cho beschriebenen Zimmer blieb er stehen und hielt lauschend den Atem an. Doch durch die Türe konnte er nicht viel hören, offenbar waren diese gut isoliert.
Ihm blieb nichts anderes übrig, als auch diese Türe leise mit seinem Equipment aufzusperren. Schon als er sie einen Spalt von wenigen Zentimetern geöffnet hatte, hörte er gedämpfte Musik und ein unangenehmer Geruch dran in den Flur. Ihm schwante Fürchterliches und er schlüpfte schnell ins Innere, bevor noch jemand etwas hören oder riechen konnte.
Das Zimmer war einer der größeren Räume, die eine Art Vorraum oder Flur besaßen.
Zügig glitt Rayan völlig lautlos bis zur nächsten Ecke und spähte vorsichtig in das Zimmer.
Er sah genau das, was er anhand des Geruches schon befürchtet hatte: Alkohol und Joints.
Fünf Jungen lagen an verschiedenen Stellen des Zimmers, keiner von ihnen war nüchtern oder noch bei sich. Es gab nur schummriges Licht und es brauchte einen Moment, bevor Rayan erkannte, welche der Gestalten Tahsin war.
Als er ihn entdeckt hatte, ging er zu ihm, doch Tahsin reagierte noch nicht einmal, als Rayan ihn hochhob und aus dem Zimmer trug.
Er verschloss das Eckzimmer wieder in der gleichen Weise, wie er es vorgefunden hatte, und trug Tahsin vorsichtig nach unten. Sein Verstand arbeitete analytisch. Noch hatte er keine Zeit, das soeben Erlebte emotional zu verarbeiten.
Ein Stockwerk tiefer brachte er Tahsin in sein Zimmer. Er vermutete, dass einer der anderen vier Jungen oben der fehlende Zimmergenosse war. Ihm konnte es recht sein.
Er brachte Tahsin direkt ins Badezimmer. Inzwischen fing dieser an, sich wieder etwas zu regen. Er schien zu merken, dass etwas nicht stimmte, und begann die Augen zu öffnen. Rayan hielt Tahsins Kopf und steckte ihm über der Toilette den Finger in den Hals. Und der Körper reagierte wie erwartet mit einem Brechreiz. So zwang er ihn, zumindest den Alkohol wieder zu erbrechen.
Tahsin versuchte sich gegen diese unerwartete Misshandlung zu wehren, er wurde nun schnell munter, doch Rayan hielt ihn fest und führte die ganze Prozedur noch einmal durch. Er hatte nur bedingt Mitleid mit Tahsin; es hatte ihn schließlich niemand gezwungen sich derart daneben zu benehmen.
Im Anschluss packte er Tahsin noch in die Badewanne und begann ihn mit eiskaltem Wasser abzuduschen. Wie er war, samt seiner Kleidung.
Erst als Tahsin anfing zu schreien, ließ er ihn los.
Er war einige Minuten mit lallendem Schimpfen beschäftigt, weil er seine Freunde als Ursache für einen üblen Streich vermutete, erst dann erkannte er Rayan und verstummte abrupt.
„Vater? Was …? Wieso …?“ – es dauerte einen Moment, bis er in seinem vernebelten Gehirn die Situation verstand. „Wie kommst du hierher?“ Und dann schaute er eine ganze Weile auf seine Uhr, doch es dauerte, bis er erfasst hatte, dass es noch mitten in der Nacht war. „Was tust du hier um diese Zeit?“
Rayan antwortete auf keine seiner Fragen. Am liebsten hätte er ihn geohrfeigt und geschüttelt, doch er beherrschte sich.
„Du hörst mir jetzt zu! Es ist wichtig! Wir werden bedroht. Alle. Du, ich und Jassim auch. Wir wissen noch nicht einmal, ob er noch lebt. Hast du das verstanden?“
Tahsin sah ihn einen Moment lang mit offenem Mund an, doch dann drang es durch sein langsam arbeitendes Gehirn, dass dies kein Scherz war. Sein Vater war tatsächlich hier. In Eston Castle. Mitten in der Nacht. Es musste also tatsächlich etwas passiert sein.
„Ja, ich habe verstanden“, bestätigte er unendlich langsam.
Rayan fuhr fort: „Du wirst morgen ganz normal zum Unterricht gehen. Lass dir nichts anmerken! Schaffst du das?“
Erst als Tahsin wieder zögerlich genickt hatte, fuhr Rayan fort: „Bevor du zum Unterricht gehst, wirst du deine Sachen packen. Lass alle Kleidung und Schulsachen da, nimm nur die wichtigen Sachen mit: Ausweis, Schlüssel, Geld, falls du welches hast. Diese Gegenstände packst du in deinen Rucksack und lässt ihn nicht aus den Augen. Ich komme morgen Mittag und hole dich ab. Bisher ahnt noch niemand etwas - du bist also noch sicher. Sobald ich aber hier offiziell auftauche, muss es schnell gehen. HAST DU DAS VERSTANDEN?“, fragte er nochmals eindringlich.
Rayan stellte für Tahsin den Wecker, um sicherzugehen, dass der in wenigen Stunden nicht verschlief. Zusätzlich würde er ihn dann anrufen. Aber er hatte das Gefühl, dass Tahsin den Ernst der Lage inzwischen verstanden hatte und sich damit auch der Nebel in seinem Gehirn zu lichten begann.
Er half seinen Sohn beim Ausziehen der nassen Kleider, die er achtlos auf einen Haufen in die Ecke des Badezimmers warf, und beim Anziehen seines Pyjamas.
Dann deckte er ihn zu und wartete, bis er bereits wenige Minuten später tief und fest eingeschlafen war. Er sah auf die Uhr: 3 Uhr 15. Mit einem letzten Blick auf Tahsin verließ er schweren Herzens das Zimmer. Er ließ ihn nicht gerne hier zurück. Aber wenn er ihn sofort mitnahm, würden die anderen unmittelbar Bescheid wissen, und Jassim töten. Das konnte er nicht riskieren.
Bis er die Schule wieder verlassen hatte und zurück zu Hanif geschlichen war und sie anschließend zurück im Hotel waren, war es nach 4 Uhr 30.
Hanif hatte gefragt, ob Rayan mit Tahsin hatte sprechen können, was er bestätigte. Von Tahsins Zustand erzählte er ihm nichts. Dann fügte er gähnend hinzu „Lass uns schlafen gehen, es war ein langer Tag.“
Und so fuhren sie in ihr Hotel, wo Hanif sich todmüde direkt ins Bett begab und sofort in Schlaf viel. Rayan dagegen setzte sich noch eine Weile im Dunkeln ans Fenster seines Zimmers, er hatte sich aus der Minibar noch einen weiteren Whisky eingeschenkt und genoss die Lichter der Stadt.
Eigentlich liebte er London, er hatte viele gute Erinnerungen an seine früheren Besuche hier. Doch dieses Mal war alles so anders. Mit Absicht verdrängte er Tahsins Zustand – „ein Problem nach dem anderen“, sagte er sich.
Er beschloss, Leila anzurufen. Es war hier fast fünf Uhr morgens, das hieß, Zuhause war es bereits fast neun Uhr. Viel zu früh für Leila. Trotzdem nahm sie sofort ab, als hätte sie seinen Anruf schon erwartet.
„London ist nicht dasselbe ohne dich“, meldete er sich ohne seinen Namen zu nennen. Und Leila lächelte, als sie antwortete: „Ich hatte gehofft, dass du anrufst.“
Er erzählte ihr einige Episoden ihrer Reise, wie üblich nicht zu viele Details.
Dann fragte er sie plötzlich ohne jeden Zusammenhang: „Du hast dich in ihn verliebt, nicht wahr?“ Eine Weile war es still am Telefon, dann sagte Leila leise: „Ich konnte dir noch nie etwas vormachen, nicht wahr? Du hast mich als Einziger immer sofort durchschaut.“
Rayan lachte leise: „Ach komm, das war ja wirklich nicht schwer. Ihr beide wart in diesem Hotelzimmer wie die Motte und das Licht. Hätten wir ein wenig mehr Zeit gehabt, hätte ich Euch gefragt, ob ich Euch einige Stunden alleine lassen soll.“ Er schwieg kurz, ob sie etwas dazu sagen wollte, aber verlegen blieb sie still und so fuhr er schmunzelnd fort: „Weißt du, ich bin ein Prinz und daher gewohnt, dass sich alle Aufmerksamkeit um mich dreht. Ich habe egozentrische Bedürfnisse! Ihr beide habt mich aber zeitgleich ignoriert, als wäre ich Luft.“
Nun lachte auch Leila, denn sie hörte an seinem Tonfall, dass er scherzte. „Du Armer. Mein armer Prinz!“.
Dann wurde er ernst: „Hör zu, sobald wir hier alles geregelt haben, sorge ich dafür, dass er zu dir kommt, einverstanden? Ich gebe zu, dass ich im ersten Moment sehr eifersüchtig war, aber ich gönne dir wirklich von Herzen, dass du glücklich bist. Und wenn du mit Hanif vielleicht endlich den richtigen Mann für dich gefunden hast, vergraule ihn nur nicht gleich wieder!“
Sie alberten noch eine Weile herum, dann beendete Rayan das Telefonat und ging ebenfalls ins Bett. Er mochte Hanif und wer war besser geeignet als er, sich um Leila zu kümmern? Mit diesem Gedanken schlief er ein, es würde ein anstrengender Tag werden.