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September 2014 – Flug von Alessia nach London – Bericht aus der Vergangenheit
ОглавлениеRayan nickte und sagte mehr zu sich selbst: „Diesen Albtraum hatte ich schon eine lange Zeit nicht mehr, früher träumte ich ihn allerdings fast jede Nacht. Nur dass ich dieses Mal zum ersten Mal IHN deutlich vor mir gesehen habe.“
Und er versank wieder in seinen Gedanken. Ab und zu nippte er an seinem Wasserglas.
Eine Weile wartete Hanif ab, ob Rayan ihm von sich aus mehr erzählen würde. Dann stellte er fest, dass dieser so tief in Gedanken verloren war, dass er wohl keine weiteren Erklärungen abgeben würde. Es ärgerte ihn, dass Rayan nach all den Jahren über viele Dinge noch immer nicht mit ihm sprach. Also versuchte er, ihn aus der Reserve zu locken: „Ihr habt auch etwas von Salz gesagt – der Wortlaut war in etwa „nein, nicht das Salz.“
Rayan wurde durch die Bemerkung tatsächlich aus seinem Grübeln gerissen, aber statt etwas zu sagen, schaute er ihn eine Weile sinnierend an und Hanif dachte schon, er würde seinen Satz einfach ignorieren. Dann begann er doch noch leise, wie zu sich selbst, zu reden:
„Als mich die Handlanger meines Vaters damals verhört haben, hatten sie eine ganz bestimmte Methode, mit der sie mich zum Reden bringen wollten: immer zehn Peitschenhiebe, danach einen Kübel mit Salzwasser, direkt auf die offenen Wunden, die die Striemen hinterlassen hatten. Dann ließen sie mich stundenlang in der prallen Sonne warten, nur um dann von Neuem zu beginnen.“
Er sagte es bewusst teilnahmslos, beobachtete Hanif dabei jedoch, um dessen Reaktion zu sehen. Der war etwas blass geworden, aber nachdem er die abscheulichen Narben auf Rayans Rücken kannte, hatte er Ähnliches erwartet.
„Ihr sprecht nie über Euren Vater …“, entgegnete Hanif, auch um das Thema zu wechseln.
Rayan lächelte matt: „Das stimmt nicht. Ich spreche nur nicht mit DIR über meinen Vater.“ Wie er erwartet hatte, spiegelte Hanifs Gesicht zuerst Überraschung und dann Kränkung wieder, doch bevor dieser wirklich beleidigt sein konnte, fuhr Rayan fort: „Weißt du, dass ich dich beneide, Hanif?“
Wieder wartete er erst die Reaktion des anderen ab und Hanif fragte erwartungsgemäß überrascht: „Ihr? Mich? Das verstehe ich nicht.“
„Als ich damals von Zarifa weggegangen bin, hatte ich nichts. Manchmal hatte ich noch nicht einmal etwas zu essen und musste tagelang hungern, bis ich genug verdient hatte, um mir Essen zu kaufen. Anderen Males habe ich nur für ein wenig Essen stundenlang gearbeitet. Aber wenn man mich in dieser Zeit gefragt hätte, was ich mir am meisten wünsche, hätte ich die gleiche Antwort wie heute gegeben.“ Vor sich hin sinnierend schwieg er erneut eine ganze Weile. Wieder überlegte Hanif, ob das alles gewesen sei, und holte gerade Luft um etwas zu sagen, da fuhr Rayan leise fort:
„Nach dem Angriff auf deine Familie und dem Tod deines Vaters hat mein Vater dich wie seinen Sohn angenommen. Diese – wie viel? – sechs, sieben Jahre sind es, um die ich dich beneide. Ihr habt gemeinsam gegessen, über alles geredet, gemeinsam gelacht …Wenn ich an die Jahre zurückdenke, bevor ich weggelaufen bin, fallen mir nur Begriffe wie: ‚Unnahbar, unbarmherzig, ehrgeizig, verbittert‘ ein.“
Er hielt inne, machte eine wegwerfende Handbewegung, zuckte die Schultern und fügte hinzu: „Ach was soll‘s – das ist lange her.“ Sein Tonfall machte klar, dass er nicht weiter über das Thema reden wollte.
Hanif war aber entschlossen, sich dieses Mal nicht wieder abspeisen zu lassen und fragte: „Seid ihr deshalb damals weggelaufen?“
Rayan sah ihn prüfend an und antwortete abweisend und mit einem bewusst arroganten Tonfall: „Glaubst du eigentlich, nur weil wir nicht mehr auf dem Boden sind, hat sich etwas geändert? Warum sollte ich dir diese Fragen beantworten wollen?“
Es war klar, dass er Hanif in seine Schranken weißen wollte. Doch dieser hatte mit genau der Reaktion gerechnet. Er kannte sie nur zu gut aus der Vergangenheit. Immer wenn sie dieses Thema anschnitten, baute Rayan eine unüberwindbare Mauer auf. Doch dieses Mal würde er nicht zurückstecken. Vielleicht lag es auch tatsächlich daran, dass sie über den Wolken waren, dass er sich auf einmal traute, auf einer zufriedenstellenden Antwort zu beharren. Er spürte, dass sich ihm eine Chance bot. Daher reagierte er nicht etwa verlegen oder gar beleidigt, sondern bemerkte mit kühlem Kopf:
„Nein, geändert hat sich überhaupt nichts. Ihr seid nach wie vor mein Herr und ich Euch verpflichtet. Doch glaube ich, dass ich nach so vielen Jahren einige Antworten verdient habe …“
Rayan war verblüfft. War Hanif die Höhenluft zu Kopf gestiegen? Seit wann stand es ihm zu, in einem derartigen Tonfall mit ihm zu reden?
Bevor er eine passende Antwort für Hanif parat hatte, fuhr dieser schon fort: „Immer wenn das Thema aufzukommen droht, stoßt ihr mich von Euch. Ihr habt es gerade aber selbst gesagt: Ich hatte ein sehr enges Verhältnis zu Eurem Vater – und darum habe ich es auch verdient, endlich zu verstehen, was zwischen euch vorgefallen ist.“
Einen Moment lang war Rayan verärgert – musste er sich vor Hanif rechtfertigen? Dann jedoch gestand er sich ein, dass er dem Thema lediglich auswich, weil es ihm unangenehm war. Er wusste, dass es der sehnlichste Wunsch seines Vaters gewesen war, dass sie sich gut verstünden und so etwas wie Brüder würden.
Also zuckte er resignierend die Achseln und fragte Hanif: „Bist du sicher, dass du das alles wissen willst? Ich möchte nicht deine guten Erinnerungen an meinen Vater mit schlechten Gedanken vergiften. Du musst das verstehen: Ich habe dir gerade gestanden, dass ich dich um die schönen Jahre mit meinem Vater beneide. Gerade deshalb will ich nicht derjenige sein, der nun ein ungünstiges Licht auf ihn wirft. Man redet nicht schlecht über die Toten.“
Doch Hanif nickte überzeugt: „Ich möchte es endlich verstehen.“
Also begann Rayan zu erzählen: „Die einzigen schönen Erinnerungen, die ich an meinen Vater habe, stammen aus der Zeit vor dem Tod meiner Mutter. Da war ich keine sieben Jahre alt. Ab diesem Moment hat sich alles verändert.
Freunde hatte ich nie welche, denn ich war für alle nur der Ehrgeizling, der immer alle übertreffen musste, immer besser als die anderen sein wollte. Wie habe ich das gehasst! Aber das war IHM egal.
Wenn du ehrlich bist, hast du mich auch so gesehen, nicht wahr?“
Hanif nickte verlegen. Er konnte sich gut an seine Kindheitserlebnisse mit Rayan erinnern.
Rayan nickte zufrieden über diese Bestätigung und fuhr fort: „Doch das war niemals ich selbst – es war ER, der mich dazu gezwungen hat.“
Er hielt wieder einen kurzen Moment inne, als überlege er seine nächsten Worte. „Du hast mich vor einigen Jahren einmal gefragt, warum ich mein Büro in Zarifa oben im ersten Stock habe, wenn doch die Bibliothek unten viel größer ist und mehr Platz bieten würde. Die Antwort lautet: weil ich diesen Raum hasse! Es ist das ehemalige Büro meines Vaters. Dort war ich damals nur aus einem einzigen Grund: weil er mich zu sich befehlen ließ. Um mir zu sagen, wo ich versagt hatte und welche Strafe er sich deshalb für mich ausgedacht hat. Er war darin sehr erfinderisch. All die Male, als ich nicht zusammen mit den anderen Jungen meines Alters an Ausflügen oder anderen Aktionen teilnehmen durfte. Und dann ließ er mich von seinem persönlichen Diener verprügeln. Er machte sich nie selbst die Hände schmutzig. Ich kann und will mich nicht mehr daran erinnern, wie viele Male ich noch am folgenden Tag kaum laufen konnte …und so begann ich bald nicht nur den Raum, sondern IHN zu hassen.
Der Tag, an dem ich weggelaufen bin, ist mir noch gut in Erinnerung. Ich hatte beim Kampftraining wieder einmal nicht gut genug abgeschnitten. Zwar war ich der Schnellste beim Laufen, doch hatte ich vor lauter Eile zu oft danebengeschossen. Als Strafe sollte ich die Ställe ausmisten, anstatt mit den anderen Jungen einen schon lange geplanten Ausflug zu machen. Ich wäre - wie so oft - der Einzige gewesen, der nicht dabei war und alle hätten - wieder einmal! - gedacht, ich wäre zu arrogant, um mitzukommen. Da ist etwas in mir zerbrochen. Ich denke, es war das letzte bisschen Respekt, das ich noch vor ihm hatte. Ich habe ihn angeschrien. Vor seinen Männern. Ein böser Fehler! Das Andenken an die Ohrfeige die er mir versetzt hat, habe ich noch heute im Gesicht. Von seinem Rubinring.“ Rayan wies mit dem Zeigefinger auf die etwa einen Zentimeter lange strichförmige Narbe auf seiner rechten Wange.
„Für den nächsten Morgen hat er mir dann wieder eine unserer ‘speziellen ‚Unterredungen‘ angekündigt. In dieser Nacht habe ich meine Sachen gepackt und bin gegangen. Und ich hatte nicht die Absicht, jemals zurückzukehren.“
Lange Zeit schwiegen beide. Hanif versuchte, sich vorzustellen, was er getan hätte. Außerdem dachte er an seine Zeit mit Scheich Sedat Suekran zurück. Wie anders war er dieser zu ihm gewesen!
Da fühlte er den prüfenden Blick Rayans auf sich und sah auf, er lächelte seinen Herren an: „Ich danke Euch für das Vertrauen, dass ihr mir diese Geschichte erzählt habt. Es bedeutet mir viel.“ Und das meinte er auch genauso, wie er es sagte.