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2.2 Die Hattie-Studie
ОглавлениеWenn man John Hattie gerecht werden will, sollte man mindestens die einleitenden Kapitel 1 bis 3 und das Schlusskapitel 11 aufmerksam durchlesen (vgl. HATTIE 2009, deutsche Übersetzung Hattie 2013; ich beziehe mich stets auf die englische Originalausgabe). Viele kennen Hatties Untersuchung nämlich nur vom Hörensagen, andere haben das Buch durchgeblättert und einige Passagen gelesen. Wie beim Rorschach-Test (vgl. ROLFF 2013), einem psychotherapeutischen Verfahren zur Deutung von Tintenklecks-Faltbildern, legen viele in Hatties Ausführungen hinein, was ihren Interessen und Überzeugungen entspricht. Das muss auch David C. feststellen, nachdem sich interessierte Kolleginnen und Kollegen mit dem Inhalt des Buches vertraut gemacht haben.
• Die einen sind begeistert, weil Hattie die Bedeutung engagierter, kompetenter Lehrpersonen besonders unterstreicht. Andere sehen Hatties Plädoyer für die Lehrperson differenzierter: Wer spielt innerhalb einer Schule eine so entscheidende Rolle wie die Lehrkraft? Wenn man Schulen mit Schulen vergleicht, kann eigentlich nur herauskommen, dass die Unterschiede zwischen einzelnen Lehrenden wichtiger sind als Unterschiede zwischen Schulen (vgl. HATTIE 2009: 72f.).
• Ein Kollege hat schon länger nach Ausführungen zu verschiedenen Formen des Feedbacks gesucht und sich sofort in Hatties Ausführungen zum Feedback vertieft. Endlich hat er Anregungen gefunden, die mit seinen Überzeugungen übereinstimmen. Nun möchte er einige Vorschläge möglichst bald in seinem Unterricht umsetzen (vgl. HATTIE 2009: 12f.; 23ff.; 173ff.).
• Eine Kollegin hat Hatties Studie lediglich durchgeblättert und zur Seite gelegt. Sie stört, dass so viele Faktoren unverbunden nebeneinander stehen. Eher zufällig stößt sie auf den Abschnitt zum Kooperativen Lernen (vgl. HATTIE 2009: 212ff.). Da verschiedene Formen von Gruppenarbeit im Schulkonzept eine herausragende Rolle spielen, beschäftigt sie sich näher mit den einzelnen Effektstärken und findet ihre Einschätzungen weitgehend bestätigt.
• David selbst hat natürlich zuerst nach der Wirksamkeit für individualisiertes Lernen geschaut, weil Hattie für diesen Faktor nur eine geringe Effektstärke nachweist (HATTIE 2009: 198, d = 0.23). Nachdem er den kurzen Abschnitt durchgelesen hat, in dem Hattie verschiedene Meta-Analysen bespricht, ist er beruhigt. Die Definition von Individualised Instruction in der Hattie-Studie stimmt nur zu einem geringen Teil mit dem Vorgehen an seiner Schule überein.
Da David Fachsprecher für Deutsch ist und zudem die Sitzungen seines Jahrgangsteams moderiert, möchte er sich selbst und den Kolleginnen und Kollegen zunächst einen Überblick verschaffen, bevor man sich von pauschalisierenden Urteilen zur Hattie-Studie in der einen oder anderen kürzeren Rezension in die Irre führen lässt. Allen Lehrpersonen und sonstigen an Unterricht interessierten Personen kann man die ausführlicheren Darstellungen von Ulrich Steffens sowie von Ulrich Steffens und Dieter Höfer empfehlen. Ein Hintergrundartikel der beiden zuletzt genannten Autoren vom 27.08.2012 (STEFFENS/HÖFER vgl. bm:ukk: Die Hattie-Studie) ist besonders zu empfehlen. Interessant ist auch Ewald Terhart (2011), der Hattie in verschiedener Hinsicht kritisiert und angreift, sich aber hinsichtlich der Kritik am Forschungsdesign (vgl. unten) auffällig zurückhält. Informieren kann man sich außerdem auf den eigens eingerichteten Lernplattformen www.visible-learning.de. und www.visible-learning.org/de. Hier findet man zahlreiche weiterführende Hinweise und Videos, die Hattie bei Vorträgen und Interviews zeigen.
Den Titel Visible Learning gibt man im Sinne evidenzbasierter Forschung am besten mit ‚belegbar‘ bzw. ‚erkennbar‘ wieder (vgl. STEFFENS 2011). Die Hattie-Studie ist klar gegliedert:
In der Einleitung unterstreicht Hattie u.a. die herausragenden Leistungen des neuseeländischen Bildungssystems und seiner Lehrpersonen. Nach der jüngsten PISA-Studie befindet sich Neuseeland eher im Mittelfeld: „In the 2013 rankings, New Zealand slipped from seventh to 13th in reading, seventh to 18th in science and form 13th to 23rd in maths” (Campbell 2013 online). Anschließend erläutert Hattie (Chap. 1: The challenge, HATTIE 2009: 1–6) die Herausforderung, vor die ihn seine Mega-Analyse gestellt hat. Studien haben bisher hauptsächlich belegt, dass eine bestimmte Strategie irgendwie lernwirksam ist. Nun will Hattie herausfinden, welche Unterrichtsstrategien besonders große Lerneffekte hervorrufen.
Bereits im Vorwort legt Hattie dar, dass er in seiner Studie auf Kritik an der bestehenden Forschung grundsätzlich verzichtet (vgl. HATTIE 2009: IX). Darüber hinaus räumt er ein, dass er sich vornehmlich auf Korrelationsstudien und nur zu einem geringen Teil auf randomisierte Kontrollgruppenuntersuchungen bzw. Quasi-Experimente stützt (vgl. HATTIE 2009: 4) (vgl. die kritische Rezension von HIGGINS & SIMPSON 2009). Wichtiger für ihn ist, was „über jeden vernünftigen Zweifel hinaus“ („beyond reasonable doubt“) Gültigkeit beanspruchen kann, und er betont, dass das Unterrichtsmodell, welches er in Kapitel drei (Chap. 3: The argument, ibid.: 22–38; vgl. auch Chap. 11: Bringing it all together, ibid.: 237–261) vorstellt, möglicherweise spekulativ ist: “The model I will present in Chapter 3 may well be speculative …” (HATTIE 2009: 4).
Im zweiten Kapitel (Chap. 2: The nature of the evidence – A synthesis of meta-analyses, ibid.: 7–21) beschreibt Hattie sein Vorgehen beim Synthetisieren der Meta-Analysen und der Berechnung der Effektstärken. Auch hier begründet Hattie noch einmal die fehlende Auswahl der Studien (ibid.: 11): “The aim should be to summarize all possible studies regardless of their design – and then ascertain if quality is a moderator to the final conclusions.” Hattie fasst also alle vorhandenen Studien unabhängig von ihrem Design zusammen, um am Ende zu klären, ob deren Qualität einen Einfluss auf die Schlussfolgerungen hat.
Leicht nachzuvollziehen ist hingegen Hatties Forderung (ibid.: 7ff.), dass man nicht einfach fragen darf: Was wirkt?, sondern vielmehr fragen muss: Was wirkt am besten? Als Schwellenwert für die Effektstärke legt er d = 0.40 fest. Effektstärken von d = 0.20 bis d = 0.40 bei den Outcomes gelten nach Hattie als klein, von d = 0.40 bis d = 0.60 liegen sie im mittleren Bereich, und Lerneffekte über d = 0.60 bezeichnet er als groß. Dass andere Forscher Effektstärken anders bewerten, wird im Rahmen der unten dargestellten Untersuchungen von Marzano (vgl. 2.5) und Wellenreuther (2.6) deutlich. Ab dem „hinge point“ (wörtlich: Gelenkpunkt; HATTIE 2009: 17f.) von d = 0.41 befinden wir uns nach Hattie im „Bereich der erwünschten Effekte“ („zone of desired effects“, HATTIE 2009: 19). Hatties Überzeugung nach kann man ab d = 0.41 nämlich von einem Effekt sprechen, der eine Erprobung bzw. Einführung der Maßnahme im Unterricht als lohnend erscheinen lässt.
Besonders interessant und für die Praxis hilfreich ist Hatties Vorgehen bei den festgelegten Faktoren: Er bringt sie aufgrund der für jeden Faktor berechneten mittleren Effektstärke in eine Rangfolge (Appendix B; Appendix A listet alle Meta-Analysen auf) und bietet in den Kapiteln 4 bis 10 für alle Faktoren die Visualisierung in Form eines Barometers an. Auf diesem Barometer ist die mittlere Effektstärke für den jeweiligen Faktor eingetragen. Zusätzlich weist das Barometer jedes Mal aus, welche Effektstärken durch Reifung und durch die Teilnahme am Unterricht bei einer (durchschnittlichen) Lehrperson während eines Schuljahrs eintreten. Die beiden letzten Werte sind logischerweise für alle Faktoren gleich.
Abb. 4: Effektstärken-Barometer (Hattie 2009: 168)
Im Begleittext zu den einzelnen Effektstärken gibt Hattie zusätzliche Hinweise. Da es sich bei den angegebenen Effektstärken um Mittelwerte handelt, sollte man auf alle Fälle diese kurzen Erläuterungen durchlesen, wenn man einem Faktor besondere Bedeutung beimisst. Beim Faktor ‚Hausaufgaben‘ (d = 0.29) erfährt man dann beispielsweise, dass die Lernwirksamkeit im Primarbereich sehr gering, im Sekundarbereich aber vergleichsweise hoch ist und mit zunehmender Klassenstufe weiter ansteigt (vgl. HATTIE 2009: 234–236). Bedenken muss man auch, ob es sich um die übliche oder eine optimierte Hausaufgabenpraxis handelt (vgl. Wellenreuther: 2004, 22010, Neubearbeitung 2013). Das gilt übrigens für viele Faktoren.
Im dritten Kapitel (Chap. 3: The argument, ibid.: 22–38) erläutert Hattie die (älteren und neueren) Lernmodelle, auf die er sich stützt (ibid.: 26ff.). Auf dieser Grundlage fasst er die Fülle der vorliegenden Forschungsgegenstände zu Faktoren zusammen, welche die (messbare) kognitive Lernleistung beeinflussen können. Aus den Primärstudien filtert er 138 Faktoren heraus (in der Publikation von 2012 sind es bereits 150, vgl. 2.3), die er sechs Bereichen zuordnet: Einflüsse des Schülers, des Elternhauses, der Schule, des Curriculums, der Lehrperson sowie der Unterrichtsverfahren. Oberhalb des Schwellenwerts von d = 0.40, also ab d = 0.41, liegen 63 Faktoren, darunter 75.
Fünf dieser Bereiche werden in je einem Kapitel, die Kategorie Unterrichtsstrategien in zwei Kapiteln dargestellt (Chap. 4–10, ibid.: 39–236). Im Schlusskapitel (Chap. 11: Bringing it all together, ibid.: 237–261) versucht Hattie, die einzelnen Faktoren in Beziehung zueinander zu setzen und zu einem Unterrichtsmodell zusammenzufügen, obgleich er nur isolierte Faktoren empirisch untersucht.
Es ist nicht allein das gigantische Ausmaß von Hatties Studie, welches zur weltweiten Diskussion seiner Ergebnisse geführt hat. Für Überraschung sorgt die Tatsache, dass viele Faktoren, von deren Wirkung man überzeugt war bzw. ist, nur geringe Effektstärken in Hatties Mega-Analyse erreichen (z.B. Individualized Instruction Rang 100 von 138, d = 0.23). Einige in vielen westlichen Ländern abgelehnte oder zumindest kontrovers diskutierte Faktoren hingegen weist er als besonders lernwirksam aus (z.B. Direct Instruction Rang 26 von 138, d = 0.59).
Um den Vorrang von Direkter Instruktion – oft auch als Interactive Whole-Class Instruction bezeichnet – gegenüber offenen Unterrichtsformen zu untermauern, stellt Hattie den Lehrer als aktivierenden Gestalter („activator“) demjenigen des unterstützenden Lernbegleiters („facilitator“) gegenüber (vgl. ibid.: 243):
Abb. 5: Effektstärken für Lehrer als „Gestalter“ und Lehrer als „Lernbegleiter“
Die Zuordnung der Konzepte in obiger Tabelle könnte auch anders erfolgen. Das unterstreichen Ulrich Steffens und Dieter Höfer in ihren Betrachtungen zur Hattie-Studie (2012: 13):
Einige der wirkungsmächtigen Faktoren zu „teacher as activator“ könnten ebenso gut den offenen Lernformen zugerechnet werden. Beispielsweise enthalten die Konzepte „Reciprocal teaching“, „Meta-cognitive strategies“ und „Mastery learning“ auch typische Komponenten offener Lernformen. Ferner kann gefragt werden, warum die Faktoren „Smaller class sizes“ und „Different teaching for boys and girls“ dem „Teacher as facilitator“ zugeschlagen werden.
Die beiden Autoren empfehlen daher eine differenzierte Betrachtungsweise. Wie wir in den folgenden Kapiteln (vgl. insbesondere Kap. 5 bis 10) sehen werden, verbindet Hattie ebenso wie andere Experten mit Direkter Instruktion keineswegs darstellenden oder darbietenden Frontalunterricht. Vielmehr geht es um eine Methodenkonzeption, die sich entscheidend auf „Reciprocal teaching“, „Meta-cognitive strategies“ und „Mastery learning“ sowie weitere schülerorientierte Lernformen stützt.