Читать книгу Der Schrei der Kröte - Roland Benito-Krimi 1 - Inger Gammelgaard Madsen - Страница 11

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Roland würde sich nie an jene Räumlichkeiten gewöhnen, in denen sich Henry Leander offenbar sehr wohlfühlte. Jedes Mal, wenn Roland durch die Tür zum Obduktionssaal im Institut für Rechtsmedizin trat, gerieten seine Eingeweide in eine rollende Bewegung, die er bis in den Rachen hinauf spüren konnte – zusammen mit dem bitteren Geschmack von Galle. Das war nicht etwa so, weil es dort drinnen schmutzig gewesen wäre oder einem beim Eintreten ein übler Geruch entgegenschlug. Die Räume waren vielmehr klinisch sauber, kalt und steril. Letztlich war sein eigenes Büro dreckiger. Vielleicht war es bloß der Gedanke an all das, was er auf den sterilen Stahltischen gesehen hatte, was dieses Gefühl in ihm hervorrief – und nicht zuletzt die Vorstellung, was ihn jetzt dort erwartete, wenn er das kleine Mädchen vor sich liegen sehen musste. Verbrechen gegen Kinder lösten an sich schon einen unerträglichen Brechreiz bei ihm aus.

Die anderen waren bereits eingetroffen: Henry Leander, der staatliche Rechtsmediziner Ole Albertsen und ein Arzt, den er nicht kannte, sowie Vizepolizeidirektor Kurt Olsen und Kriminaltechniker Steen Dahl, der mit seiner Kamera bereitstand.

»Haben wir immer noch keine Vermisstenanzeige?«, raunte ihm Kurt Olsen leise zu. Es herrschte eine Atmosphäre wie bei einer Beerdigung. »Nein, nicht für ein Mädchen in diesem Alter. Es werden zwei fünfzehnjährige Freundinnen gesucht, aber die treiben sich höchstwahrscheinlich nur irgendwo herum«, flüsterte Roland genauso leise zurück. Dann konzentrierten sie sich beide auf Leander, der nun feierlich seinen Kopf in die Höhe reckte und das Wort ergriff.

»Das Mädchen wurde erdrosselt. Hier sieht man die Male von Fingern am Hals.« Er zeigte auf eine Reihe blauschwarzer und lila Spuren auf dem weißen Kinderhals. Steen Dahl machte Fotos.

»Auch die dunkle, blauviolette Farbe der Leichenflecken ist ein Zeichen für Sauerstoffmangel im Blut zum Todeszeitpunkt.« Leander ließ nun seinen deutenden Zeigefinger zu den Augen des Mädchens emporwandern, die an die Decke starrten.

»Die klassischen Merkmale einer Erdrosselung – die kleinen punktförmigen Blutungen in den Augen – sind ebenfalls deutlich zu erkennen. Sie entstehen, wenn die vom Gehirn wegführenden Blutadern blockiert werden, so dass das Blut nur zum Gehirn geführt werden kann. Wenn das passiert, entsteht in den Adern ein Überdruck und die kleinen Blutadern platzen, wodurch sich diese kleinflächigen Hautblutungen bilden. Sie können auch an der Gesichtshaut, hinter den Ohren oder im Mund vorkommen.«

Steen Dahl beugte sich über den Stahltisch und machte ein Foto von den Augen, die, als nun das Blitzlicht sie traf, für einen kurzen Moment einen ganz lebendigen Ausdruck annahmen.

»Es braucht nicht viel Kraft, um so ein kleines Kind zu erwürgen, daher können wir nicht ausschließen, dass der Täter auch eine Frau gewesen sein könnte.«

»Gibt es sonst noch etwas, was darauf hindeuten könnte?«, fragte Kurt Olsen und kratzte sich am Nacken. Seine Haare wurden langsam zu lang und wellten sich wie sein Hemd, das ihm an einer Seite über die Hose hing. Überhaupt war seine ganze Person deutlich von der Tatsache gekennzeichnet, dass ihn neulich seine Frau verlassen hatte. Es war nicht einfach, im Polizeiberuf die Frauen zu behalten. Roland schätzte sich glücklich, dass er Irene hatte. Irene, die sich nie über die zeitweise vielen Überstunden und sein tagelanges Verschwinden in eine andere Welt beschwerte, wenn er einem Verbrechen nachforschte. Er hatte sie auf der Polizeiwache in Kopenhagen kennengelernt, wo sie damals als Sekretärin gearbeitet hatte. Vielleicht war das der Grund für ihr großes Verständnis. Sie wusste einigermaßen, womit sie es zu tun hatte.

»Nein, nichts Spezielles. Ich erwähne es nur, weil wir von dieser Möglichkeit nicht absehen dürfen. Es gibt keine Anzeichen für einen sexuellen Übergriff. Keine Verletzungen, kein Sperma.«

»Sie hat sich nicht verteidigt? Nicht gebissen, geschlagen, gekratzt? Hast du irgendwelche Spuren an ihren Fingernägeln gefunden?«, fragte Kurt Olsen.

Leander hob eine Hand des Mädchens an und zeigte dem Vizepolizeidirektor ihre Fingernägel. »Wie du siehst, gibt es nicht viel abzuschaben. Sie hat an den Nägeln gekaut.« Die Nägel des Mädchens wiesen kleine Reste von rosarotem Nagellack auf, alles Übrige war abgeblättert. Alle waren sie bis ganz zu den Fingerkuppen abgenagt.

»Der Tod trat sofort ein, ungefähr um fünf Uhr gestern Nachmittag.« Henry Leander sah das Mädchen liebevoll an. Roland nahm an, dass er während seiner Arbeit in beruhigendem Tonfall auf die Tote eingeredet hatte. Leanders weißer Bart hing leicht nach unten wie ein umgekehrter Fahrradlenker, der an den Seiten geknickt war, was seinem Gesicht einen traurigen Ausdruck gab, ihm aber trotzdem irgendwie den Anschein eines leisen Lächelns verlieh. Aber Leanders blaugrüne Augen lächelten nicht.

»Vielleicht war es kaltblütige Berechnung, dass der Mörder die Leiche gerade in einen Abfallcontainer geworfen hat. Auf diese Weise sorgen die äußeren Umstände dafür, dass wir von den Spuren, die wir auf der Kleidung des Mädchens gefunden haben, keinen richtigen Gebrauch machen können, solange wir nicht den Mörder und seine DNA haben, um sie mit den Spuren auf der Kleidung und mit all dem vergleichen zu können, was wir am Tatort dann womöglich noch entdecken.«

»Weil sich im Container so viel Schmutz von den Anwohnern befindet?«, hakte Ole Albertsen nach.

»Genau. Es dürfte schwierig werden zu beweisen, dass, was immer wir finden, nicht vom Abfall der anderen stammt. In einem Abfallcontainer befinden sich unzählige Spuren von allen möglichen Leuten. Da gibt es ganz viel, was wir erst einmal ausschließen müssen.«

»Kannst du uns etwas über die Seile sagen, mit denen sie gefesselt wurde?«, fragte Roland. Er brauchte jetzt dringend eine Zigarette. Unglücklicherweise überkam ihn der Drang zu rauchen immer gerade dann mit doppelter Stärke, wenn er sich an Orten befand, an denen er nicht rauchen durfte. Er fürchtete sich vor dem Rauchverbot, mit dessen baldiger Einführung die Politiker des Landes drohten.

»Die Hände wurden ihr auf den Rücken gebunden, das lässt sich an der Position der wundgeriebenen Druckstellen erkennen.« Leander griff erneut nach den Händen des Mädchens und drehte sie ein bisschen, so dass alle die roten Hautabschürfungen sehen konnten, die beide Handgelenke wie Bänder umgaben. Steen Dahl knipste weitere Fotos.

»Es ist höchstwahrscheinlich ein raues Naturseil oder ein gedrehtes Kordelseil gewesen. Vielleicht ein Manilaseil von der Sorte, wie es etwa von den Pfadfindern, in der Landwirtschaft, der Fischerei, aber auch in der Industrie benutzt wird.«

»Wir haben gerade diese Sorte Seil verwendet, als wir unsere neue Terrasse angelegt haben. Allerdings waren diese Seile mit Öl imprägniert. Gibt es Spuren von Öl?«, fragte Steen Dahl.

»Nein, leider nicht, es handelt sich um ein bereits intensiv gebrauchtes Seil. Das könnte auch erklären, warum es so starke Hautabschürfungen verursacht hat. Das Mädchen könnte natürlich auch versucht haben, es irgendwie durchzuscheuern, um sich zu befreien«, antwortete Leander nachdenklich. »Die Spuren deuten auf ein Acht-Millimeter-Seil hin.« Er packte das Mädchen mit seinen behandschuhten Händen an und drehte es vorsichtig auf die Seite, so dass ihr nackter Rücken sichtbar wurde. Direkt unter dem rechten Schulterblatt hatte sie ein kleines braunes Muttermal, das an eine Landkarte der Insel Seeland in Miniaturformat erinnerte.

Roland erfüllte es mit Abscheu, hier inmitten einer Gruppe von Männern mittleren Alters zu stehen, die alle auf einen nackten Kinderkörper starrten.

Was treibt einen Pädophilen zu seinem Handeln? Rolands kriminalistische Philosophie beruhte auf dem Grundsatz, dass ein Ermittler immer so wie der Mörder zu denken hat, um ihn finden zu können. Das würde in diesem Fall schwierig werden. Der Gedanke machte ihn mutlos.

Leander zeigte auf einen Fleck auf dem Rücken des Mädchens. Es war ein Abdruck auf der Haut, eine Vertiefung, in der sich eine Blutansammlung gebildet hatte.

»Ich finde beim besten Willen keine Erklärung, woher dieser Fleck herrühren könnte. Es sieht aus, als käme er von irgendeiner Art von Gerät mit einer blattförmigen Spitze. Schwer zu sagen, wie der Abdruck auf den Rücken des Mädchens gekommen ist. Vielleicht hat sie auf etwas gelegen.«

Leander richtete seinen Blick direkt auf Roland und Kurt Olsen. Der Ausdruck seiner Augen machte unmissverständlich deutlich, dass es jetzt ihr Problem sei herauszufinden, worum es sich dabei handelte und wo sich dieser Gegenstand nun befand.

Während des Rests der Obduktion – es war der schlimmste Teil – versuchte Roland, all seine Sinne auszublenden. Nur der Gehörsinn war ganz allein auf die Stimme des Rechtsmediziners konzentriert, der routiniert jedes Organ kommentierte, das er gerade untersuchte. Alle übrigen Geräusche versuchte er zu überhören. Er hielt den Atem an, damit die Gerüche nicht in ihn eindringen konnten, und nahm deutlich wahr, wie steif er hier dastand und auf seine Hände starrte, wobei er selbst eine so belanglose Sache bemerkte wie den schwarzen Trauerrand unter seinem rechten Daumennagel. Er hatte Irene gestern Abend im Garten ein wenig mit dem Rosenbeet geholfen. Die Obduktion eines Kindes war ein Erlebnis, das einfach nur unerträglich war.

»Ihr bekommt meinen Bericht morgen im Laufe des Nachmittags«, schloss Leander und entließ sie mit diesen Worten in die Freiheit.

Es war eine Erleichterung, aus dem Institut für Rechtsmedizin zu treten und die frische Luft einzuatmen. Die Sonne brach für einen kurzen Besuch durch die Wolken und strahlte erbarmungslos grell auf die Autodächer. Die Wärme seines schwarzen Fiat Stilo, aus dem es nach Ledersitzen roch, verlieh Rolands Brechreiz neuen Nachdruck, als er die Fahrertür öffnete. Er lehnte sich einen Augenblick gegen den Wagen, während er die dringend nötige Zigarette rauchte und den Fiat mit offenen Türen durchlüftete. Vizepolizeidirektor Kurt Olsen hatte nun ebenfalls das Gebäude verlassen und stellte sich neben ihn.

»Verdammte Sache«, meinte er und zog seine blankpolierte Stanwell-Pfeife hervor. Die Pfeife des dänischen Herstellers war sein Markenzeichen. Er stopfte sie sorgfältig mit duftendem Mac-Baren-Tabak, und man sah ihm an, wie sehr er den ersten Zug genoss. Kurt Olsen war ein Mann, der etwas von Pfeifen verstand. Roland hatte die Stanwell nie wegen zu viel Feuchtigkeit gurgeln hören.

»Wir müssen eine Pressekonferenz ansetzen. Die Buschtrommeln sind bereits lebhaft in Gang und schüren die Gerüchteküche. Keine Ahnung, wie diese Journalisten das hinkriegen. Sie scheinen eine Leiche aus der Ferne riechen zu können«, murmelte Roland halblaut.

»Wir gehen nicht an die Presse, solange wir das Mädchen nicht identifiziert haben und die Eltern nicht benachrichtigt sind. Nur blöd, dass die Presse schon davon weiß.« Kurt Olsen zog missmutig an seiner Pfeife. »Verdammt, uns fehlt eine DNA-Datenbank sämtlicher Einwohner, dann wäre sie leicht zu identifizieren. Aber wieso gibt es denn niemanden, der ein kleines Mädchen vermisst? Wir können ja nicht in ganz Brabrand herumlaufen, an jeder Tür klingeln und fragen, ob jemandem eine Tochter fehlt«, sagte Roland und klopfte die Asche von der Zigarette ab. »Sollten wir jetzt schon eine Suchmeldung herausgeben?« Kurt Olsen nickte abwägend und nahm erneut einen Zug von seiner Pfeife. »Ich möchte aber zunächst noch ein wenig abwarten – vielleicht meldet sich die Familie ja noch selbst. Aber falls das bis heute Abend nicht passiert ist, müssen wir es tun.« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Ich würde meine Tochter nie eine ganze Nacht fortbleiben lassen, ohne zu reagieren, du etwa? Es muss besondere Umstände geben, warum das Mädchen nicht vermisst wird.«

»Oder die Eltern haben etwas zu verbergen«, knurrte Roland.

Kurt Olsen setzte sich in seinen Wagen und wollte gerade die Tür zuziehen, als er sie unvermittelt wieder aufstieß und Roland direkt ins Gesicht sah.

»Ich will alle Pädophilen haben sowie alle, die uns in Verbindung mit Kinderpornografie bekannt sind. Hol sie aus der Versenkung. Wir werden sie uns vornehmen. Dieser Typ muss verdammt noch mal gefunden werden.«

Der Schrei der Kröte - Roland Benito-Krimi 1

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