Читать книгу Der Schrei der Kröte - Roland Benito-Krimi 1 - Inger Gammelgaard Madsen - Страница 23

19

Оглавление

Tarzan machte einen Satz zu ihr aufs Sofa hinauf. Leise schnurrte die Katze, während sie ihr in Gedanken versunken den Nacken kraulte. Seltsam, dass die schlechten Fotos vom Container die Polizei tatsächlich auf eine Spur gebracht hatten. Sie wussten nun, dass die Puppe aus dem Container entfernt worden war, was vielleicht ein Hinweis darauf war, dass sie etwas mit dem Verbrechen zu tun hatte.

Sie griff nach dem Fotoalbum im Regal und bekam es zu fassen, ohne Tarzan aufzuscheuchen. Seite um Seite blätterte sie es durch, erst ohne die Fotos richtig anzusehen – Bilder von ihr und Jan auf ihrer ersten Reise nach Paris, Fotos von Festen, die sie gemeinsam besucht hatten. Aber auf der nächsten Seite hörte sie auf zu blättern. Lange saß sie nur da und betrachtete das Foto von Jan und ihr mit dem neugeborenen Rasmus, den sie in ihren Armen hielt. Danach kamen all die vielen Fotos von Rasmus, die sie im Lauf der Jahre geknipst hatte. Sie starrte lange auf eine Nahaufnahme, ließ liebevoll einen Finger über sein Gesicht gleiten. Die Hoffnungslosigkeit und die Sehnsucht erwachten wieder, überrollten sie mit brutaler Gewalt. Eigentlich sollte sie das Album irgendwo verstecken. Vielleicht sogar verbrennen. Nichts von alledem, was sich darin befand, gab es jetzt noch in ihrem Leben.

Sie war bei den letzten Fotos von Rasmus angelangt, als sie die Türglocke hörte. Tarzan richtete sich auf und drehte die Ohren aufmerksam in Richtung Eingang. Sie stand auf. Durch den Türspion konnte sie niemanden sehen, aber dann klingelte es wieder, und sie öffnete die Tür. Sie hatte den Jungen nur deshalb nicht gesehen, weil er nicht sehr groß war. Obwohl sie gleichaltrig waren, war Jonas schon immer ein wenig kleiner als Rasmus gewesen. Da stand er nun vor ihr, die große Sporttasche über der Schulter. Es wirkte beinahe, als wolle die Tasche ihn zu Boden ziehen und nach vorn umkippen lassen. Sein weißes Sportshirt mit dem Logo auf der Brust war grün von Grasflecken, und seinen Shorts war anzusehen, dass es beim Training mit Tacklings und Grätschen hart zur Sache gegangen war.

»Hallo, Jonas!«, grüßte sie. »Möchtest du eine Tasse Kakao?«

Jonas lächelte fröhlich und trat ein. Mit einem lauten Plumpsen ließ er die Sporttasche in die Ecke am Eingang fallen, ganz so wie er und Rasmus das immer gemacht hatten, wenn sie zusammen vom Fußball gekommen waren und traditionsgemäß bei Rasmus’ Mutter Kakao bekommen hatten.

In der ersten Zeit nach dem Unfall war Jonas weggeblieben, aber jetzt kam er manchmal wieder, weil seine Eltern am Tag des Fußballtrainings immer lange arbeiteten und er nicht gern im großen Haus allein war. Es war Kamilla ganz recht gewesen, dass sie ihn nicht mehr so oft gesehen hatte. Selbst jetzt noch war es schwierig, einen Jungen vor Augen zu haben, den mit ihrem Sohn zusammen zu sehen sie gewohnt war. In ihr setzte das Gefühle in Gang, die sie nicht mochte. Als ihr das erste Mal der Gedanke gekommen war, warum denn nicht Jonas statt Rasmus getötet worden war, hatte sie sich dafür gehasst, aber der Gedanke war wieder und wieder zurückgekommen. Majken behauptete, dass das ein ganz natürlicher Gedanke sei.

»Tarzan ist da!«, jubelte Jonas, als er die Katze entdeckte, die immer noch auf dem Sofa lag und mit selbstzufriedener Miene ihre Vorderpfote schleckte, wie nur eine Katze es kann. Kamilla ging in die Küche, öffnete einen Tetra Pak Kakao der Marke »Mathilde«, wärmte den Inhalt auf, schüttete ihn in eine Kanne und stellte sie dann zusammen mit zwei Bechern auf den Tisch. Auch sie brauchte jetzt etwas Warmes. Jonas war so mit Tarzan beschäftigt, dass er das Fotoalbum nicht bemerkte, das vor ihm aufgeschlagen lag und ein großes Foto von einem lachenden Rasmus auf seinem ersten Fahrrad präsentierte. Sie wollte es gerade zumachen und ins Regal zurückstellen, da fiel der Blick des Jungen auf das Foto. Seine Unterlippe fing an zu zittern. Die Augen füllten sich mit Tränen. Sie machte sich Vorwürfe, weil sie das Album nicht noch weggelegt hatte, bevor sie die Tür aufmachte. Sie trat zu dem Jungen hin und hockte sich vor ihn. Tränen liefen seine schmutzigen Wangen hinunter, zogen eine hell gestreifte Bahn bis zu den zitternden Lippen hinab. Aus einer instinktiven Anwandlung heraus nahm sie ihn in die Arme und streichelte ihm übers Haar.

»Ich vermisse ihn so sehr«, schluchzte er an ihrem Hals. Sie konnte nicht antworten. Gerade vom Fußballspielen gekommen, roch der Junge nach frischem Gras und Schweiß. Der Geruch erinnerte sie an Rasmus. Sie musste selbst gegen ihre Tränen ankämpfen.

»Lass uns etwas Kakao trinken, solange er noch warm ist«, sagte sie mit einer Stimme, die sich leicht überschlug.

Sie saßen schweigend und tranken.

»Gestern habe ich das Auto gesehen«, begann Jonas plötzlich.

»Welches Auto?«

»Das Auto, das Rasmus umgebracht hat.«

»Wo hast du es gesehen, Jonas? Was ist das denn für ein Auto? Woher kennst du es?« Es waren viele Fragen auf einmal, aber sie hatte plötzlich das Gefühl, dass es da etwas gab, was er ihr noch nicht erzählt hatte.

Jonas saß da und blickte auf seine Strümpfe. »Damals, als Rasmus nicht wie verabredet in die Sporthalle gekommen ist, bin ich rausgegangen, um nach ihm Ausschau zu halten«, fing er zögernd an. »Da habe ich das Auto gesehen, das ihn getötet hat. Als ich dort hin bin, stand es neben dem Krankenwagen und den Polizeiautos.«

Sowohl Jonas als auch Rasmus waren Autofans gewesen. Sie lasen Autozeitschriften, studierten Zeitungsinserate mit Autos und kannten fast alle Marken und Modelle auswendig. Kamilla hatte die zwei kleinen Jungen wegen ihres Wissens auf diesem Gebiet oft bewundert.

»Was für ein Auto war es, Jonas?«

»Es war ein Opel Vectra GTS, in Dunkelblau.«

»Bist du dir ganz sicher, Jonas? Es ist schließlich über ein Jahr her, dass du das Auto gesehen hast.«

Er wischte sich mit seinen schmutzigen Fingern die Tränen weg und schmierte sich den Dreck über das ganze Gesicht. Seine Nase lief. In die blauen Augen unter den hellen Locken trat ein trotziger Ausdruck. »Ich bin mir ganz sicher! Ich habe es vorbeifahren sehen. Ich hasse dieses Auto!«

Kamilla blickte in das schmutzige Gesicht des Jungen. Der Wunsch nach Rache leuchtete in seinen Augen. War sie der einzige Mensch, der Rasmus’ Tod nicht rächen wollte? Oder wollte sie es vielleicht doch, in ihrem Innersten? Sie zog den Pullover enger um sich. Ihr war plötzlich kalt und sie überlegte, ob sie Jan etwas von der Sache sagen sollte. Sollte sie ihn bei der Suche unterstützen, ihren Beitrag dazu leisten, den Menschen, den er den Mörder seines Sohnes nannte, weiter zu bestrafen? Sie schüttelte den Gedanken ab. Das Ganze war sicher ein Zufall. Einfach nur ein ähnliches Auto.

Es kostete Kamilla etwas Überredungskraft, Jonas ins Badezimmer zu bugsieren; er sollte sich das Gesicht waschen und dann nach Hause gehen. Doch er erzählte ihr, dass er zu Hause ganz allein sei und eigentlich zu den Nachbarn hätte hinübergehen sollen, langweilige Leute, da sei er viel lieber hier bei ihr. Von seinen Worten berührt, rief sie die Nachbarn an, um ihnen mitzuteilen, dass Jonas bei ihr war. Nachdem sie das Gespräch mit dem älteren Ehepaar erledigt hatte, verspürte sie Hunger. Schon wieder war nun fast ein ganzer Tag vergangen, an dem sie kaum etwas gegessen hatte. Jonas hatte nach dem vielen Sport bestimmt ebenfalls Hunger, aber sie hatte nicht daran gedacht, irgendetwas zum Auftauen aus der Tiefkühltruhe zu nehmen.

»Hast du Lust, irgendwohin essen zu gehen?«, fragte sie.

Jonas’ Gesicht erhellte ein breites Lächeln. »So in einem richtigen Restaurant mit Kellner und so weiter?«, hakte er misstrauisch nach. Es klang nicht gerade, als sei er es gewohnt, an solche Orte mitgenommen zu werden.

»Wir können zum Restaurant Egå Marina fahren, dort ist es sehr gemütlich«, sagte sie, wobei sie sich zugleich überlegte, warum sie gerade dieses Restaurant gewählt hatte.

Es waren nicht viele Gäste da, so dass es nicht schwer war, einen freien Tisch zu finden. Sie bestellte für Jonas ein Fischfilet mit Remouladensoße sowie eine Cola und für sich eine Fischsuppe mit Brot. Während sie auf ihre Suppe wartete, betrachtete sie Jonas, der wortlos seinen Fisch vertilgte. Er erinnerte sie in so vieler Hinsicht an Rasmus. Nur, dass Rasmus bestimmt nicht ohne ein einziges Wort hätte dasitzen und essen können. Er hätte ständig geredet und in einem fort gelacht. Sie ließ ihren Blick über die anderen Gäste schweifen. Da entdeckte sie die beiden. Als Majken sich ein wenig zurücklehnte, sah Kamilla, dass sie mit ihm zusammen war – Danny. Für einen Augenblick nahm ihr der Kellner die Sicht, der nun die warme Suppe vor sie hinstellte. Sie schöpfte einen Löffel voll und richtete ihren Blick wieder auf das Paar am Fenster. Sie sahen nicht so aus, als würden sie sich für die Welt um sie herum interessieren. Sie könnte jetzt zu ihnen hingehen und sie begrüßen, aber irgendetwas hielt sie zurück. Vielleicht die lähmende Empfindung von Eifersucht. Jetzt ist Majken an der Reihe, sagte sie sich. Das war nichts, worüber sich zu grämen es einen Grund gab. Ganz im Gegenteil.

Jonas war mit seinem Fischfilet fertig. Sie schöpfte den letzten Löffel Suppe und er trank seine Cola aus.

»Komm, gehen wir«, sagte sie und stand auf. Sie bezahlte bei einem zufällig vorbeikommenden Kellner. Jonas lief zum Auto. In der Tür drehte sie sich um. Sie wollte ihn noch einmal sehen. Plötzlich hob er den Blick und starrte sie an. Rasch schloss sie die Tür.

Der Schrei der Kröte - Roland Benito-Krimi 1

Подняться наверх