Читать книгу Der Schrei der Kröte - Roland Benito-Krimi 1 - Inger Gammelgaard Madsen - Страница 22

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»Die Berichterstattung in den Medien hat uns schon ein Stück weitergebracht!«, verkündete der Kriminalbeamte Mikkel Jensen und setzte sich auf den Stuhl gegenüber von Roland Benito. Roland hatte soeben seine Leute zu einer Besprechung der augenblicklichen Sachlage zusammengerufen. Zuvor hatten sie am Mittag eine kurze Pressekonferenz abgehalten, um der Presse einige handverlesene Informationen zu liefern, damit die Polizei ein bisschen mehr Ruhe für ihre Arbeit hatte. Inzwischen hatte TV 2 News die Neuigkeiten bereits ausgestrahlt.

»Haben wir neue Hinweise? Zeugen?«, fragte Roland und eine leise Hoffnung keimte in ihm auf. Sie hatten noch immer keine Ergebnisse der DNA-Untersuchung, und er verlor allmählich die Geduld, weil sie bei diesen Analysen, die sie selbst nicht vornehmen konnten, immer so lange warten mussten. Zeugen zu haben wäre ein guter Anfang.

»Ja, wir haben soeben einen Anruf von einer Gerda Poulsen aus Brabrand bekommen. Ihre Tochter Louise geht in dieselbe Klasse wie Gitte und ist – äh, war – ihre Freundin. Sie hat ihrer Mutter erzählt, Gitte mehrere Male dabei gesehen zu haben, wie sie auf dem Spielplatz mit einem Mann in einem dunklen Auto gesprochen hat.«

»Würde das Mädchen den Mann oder das Auto denn wiedererkennen?«

»Sie konnte bisher nur angeben, dass es ein großes dunkles Auto gewesen ist.« Mikkel seufzte.

»Kennen sich Kinder im Alter von zehn Jahren schon mit Automarken aus?«, ging Niels Nyborg dazwischen. Er lag fast auf seinem Stuhl, die Beine unter dem Tisch ausgestreckt.

»Dieses Mädchen wohl nicht«, erwiderte Roland. Auf alle Fälle hatten sich seine Töchter nie für so etwas interessiert, das wusste er. Und Irene übrigens bis heute nicht.

»Aber Gerda Poulsen meint, dass ihre Tochter den Wagen vielleicht wiedererkennen könnte, sobald sie ein Foto davon sieht.«

»Wir fahren gleich nach der Besprechung dort raus, Mikkel.« Roland warf ein Protokoll auf den Tisch und klopfte mit den Fingerspitzen darauf. »Der Obduktionsbericht ist fertig«, fuhr er fort. »Ich habe ihn gerade mit Kurt Olsen durchgesehen. Jetzt fehlen nur noch die Ergebnisse der DNA-Analyse und der Untersuchung des Schlamms. Wir haben auch einen ungefähren Überblick über Gitte Mikkelsens Tagesablauf am Montag.« Er informierte sie kurz über den Obduktionsbericht. Anschließend ging er alle relevanten Fakten durch, die über Gittes letzte Stunden bekannt waren: »Gitte hatte am Montagnachmittag schulfrei und verließ daher die Schule früh. Auf dem Schulhof hat sich eine Lehrerin noch ein wenig mit ihr unterhalten. Bei diesem Anlass hat ihr Gitte erzählt, dass sie bei Mathilde Beck, einer Schulfreundin, zum Geburtstag eingeladen sei und dass sie jetzt schnell nach Hause müsse, um sich umzuziehen. Ungefähr Viertel vor zwei war sie zu Hause in Brabrand, zog dort die Kleider an, in denen sie gefunden wurde – einzig die weiße Strumpfhose haben wir bisher noch nicht ausfindig machen können –, und verließ dann ihr Zuhause per Fahrrad mit der Puppe im Rucksack. Den Rucksack und das Fahrrad müssen wir auch noch finden. Der Rucksack ist rosarot und mit Motiven des Kuscheltiers Diddlina Ballerina versehen. Das Fahrrad ist rot, Marke Winther. Ein besonderes Kennzeichen ist der gebrauchte schwarze Sattel. Näher konnten es die Eltern nicht beschreiben. Übrigens trug sie noch einen roten Fahrradhelm der Marke Etto. Kurz vor zwei wurde Gitte im Bazar Vest gesehen, wo sie Obst kaufte. Die Obduktion hat ergeben, dass dieses Obst Gittes letzte Mahlzeit war.« Roland räusperte sich und schluckte einen Mundvoll lauwarmen Kaffee.

»Mathildes Geburtstagsparty fing um zwei Uhr an, aber Gitte ist dort nie aufgetaucht – nach ihrem Besuch im Bazar Vest gibt es also keine Spur mehr von ihr. Niemand hat sie mit dem Fahrrad wegfahren sehen, und sie ist niemandem mehr begegnet, bis sie am nächsten Tag nach ein Uhr mittags tot im Abfallcontainer aufgefunden wurde, also fast vierundzwanzig Stunden nach Verlassen ihres Elternhauses. Ihre Eltern erwarteten sie nicht zu Hause, weil sie zusammen mit ein paar anderen Mädchen bei der Schulfreundin, die die Party gegeben hat, hatte übernachten wollen.«

»Warum hat niemand bei dieser Feier darauf reagiert, dass Gitte nicht aufgetaucht ist?«, wagte der junge Dan Rolands Redestrom zu unterbrechen, seinerseits ohne damit aufzuhören, eifrig Kaugummi zu kauen.

»Die Eltern des Geburtstagskindes hatten keinen Überblick darüber, wie viele Kinder ihre Tochter eingeladen hatte«, fuhr Roland mit gereiztem Stirnrunzeln fort. »Von Mathilde auf Gittes Abwesenheit aufmerksam gemacht, versuchte ihre Mutter immerhin, Gittes Eltern anzurufen, aber niemand ging ran, und dann vergaß sie es wieder. Von mehreren Seiten wird Gitte als ein Mädchen beschrieben, das immer wieder launisch sein konnte und sich wiederholt nicht an die Abmachungen hielt, so dass sich niemand sonderlich darüber wunderte, dass sie nicht auftauchte. Den Schilderungen zufolge war sie ein eher verschlossenes, schüchternes Mädchen. Dass ihre beste Freundin Louise nicht auch zum Geburtstag kommen durfte, könnte Grund genug für ihr Nichterscheinen gewesen sein.« Roland sah vom Bericht auf und warf einen Blick in die Runde. Alle saßen schweigend und lauschend da, als hätte er aus einem Märchenbuch vorgelesen. Mikkel kritzelte Notizen auf seinen Block.

»Wir haben also nach zwei Uhr, als Gitte den Bazar Vest verließ, keine weitere Spur, und wir müssen ein Fahrrad, einen Rucksack, eine weiße Strumpfhose und einen Fahrradhelm finden«, schloss Roland sein Briefing ab.

Niemand sagte etwas. Die Stimmung war so deprimierend wie der Regen, der gegen die Fenster schlug.

»Noch Fragen?«, erkundigte sich Roland und sammelte seine Papiere zusammen. Alle verneinten und verließen leise den Konferenzraum. Die Sache ging ihnen unter die Haut. Roland saß schweigend da und starrte auf die Fotos vom toten Mädchen auf der Tafel. Dann fiel ihm auf, dass Mikkel Jensen immer noch dasaß.

»Ach ja, verdammt. Der Besuch bei dem Mädchen, das das Auto gesehen hat«, meinte er verlegen.

Mikkel nahm den letzten Schluck aus der Colaflasche, die er in die Besprechung mitgenommen hatte. »Wenn Louise Gittes engste Freundin war, die sogar der Grund hätte sein können, warum Gitte bei der Geburtstagsfeier nicht auftauchte, sollten wir sie uns auf jeden Fall vornehmen«, unterstrich er und sprang dienstfertig auf.

Roland nickte. »Hast du die Adresse?«

Mikkel Jensen nickte zurück.

»Dann auf nach Brabrand.«

Gerda Poulsen war eine kleine, magere Frau Ende dreißig. Sie trug einen luftig gestrickten und von Glitzerfäden durchzogenen lila Pullover mit einem riesigen Rollkragen sowie einen dezent geblümten, sehr weiten Sommerrock. Sie lächelte müde, als sie die Tür öffnete und die Beamten in ein Wohnzimmer bat, in dem überall Spielzeug verstreut lag. Ein ungefähr zweijähriger Junge saß mittendrin und schlug zwei Holzklötze gegeneinander. Der Sabber tropfte ihm das Kinn herunter und sickerte auf seine blaue Latzhose.

»Hallo, kleiner Freund«, grüßte Roland freundlich, als ihn das Kind mit großen blauen Augen verwundert ansah und ängstlich einen Finger in den Mund steckte. Dann fing der Kleine an zu heulen. Seine Mutter nahm ihn hoch und redete ihm zu, sich doch zu beruhigen.

»Das mit Gitte ist schrecklich. Sie ist oft hierhergekommen. Sie haben in Louises Zimmer zusammengesessen, herumgealbert und im Internet gechattet. Sie war so ein goldiges Mädchen. Man kann es gar nicht begreifen.« Sie sprach mit lauter Stimme, um das weiterbrüllende Kind zu übertönen, das sie im Arm wiegte. Mit Tränen in den Augen sah sie die Polizisten an, als verfügten sie über ein spezielles Wissen, mit dem sie ihr erklären könnten, warum so etwas passierte.

»Ist Louise zu Hause? Wir würden gern mit ihr über das Auto reden, das sie auf dem Spielplatz gesehen hat.«

Das Kind schrie, dass es in die Ohren schnitt.

»Ich habe Louise gebeten, zu Hause zu bleiben, weil Sie gleich kommen würden, aber sie musste nur mal rasch ein paar Schulbücher bei einer Klassenkameradin abholen gehen. Sie ist gleich wieder da. Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten?« Mit dem Jungen im Arm, dessen Weinen allmählich nachließ, ging sie hinüber ins Kinderzimmer. Mit vor Tränen und Rotz nassem Gesicht sah er sie vorwurfsvoll über die Schulter der Mutter hinweg an, während sie zwischen den Laken im Kinderbett nach etwas suchte. Sie fand den Schnuller und stopfte ihn in seinen verschmierten Mund. Endlich hörten sie nur noch das Ticken der Wohnzimmeruhr und den leisen, stoßweisen Schluckauf des Kindes.

»Nein danke, wir müssen gleich wieder weiter, sobald wir mit Louise geredet haben. Ich bedauere, dass die Polizei eine solche Wirkung auf Ihren Sohn hat«, meinte Roland lächelnd. Er wusste, dass seine Züge grob und schroff wirkten – für so schlimm hätte er sein Aussehen aber auch wieder nicht gehalten. Sie legte den Jungen ins Bett und zog ihm die mit Teddybärenmotiven geschmückte Bettdecke bis unters Kinn hinauf. »Er ist nur übermüdet«, sagte sie. Die Erklärung, die jede Mutter für ein unmögliches Kind parat hat, dachte Roland und setzte sich neben Mikkel Jensen auf das schwarze Ledersofa. Durch die Hose hindurch fühlte sich das Leder kalt an.

»Kann ich Ihnen irgendetwas anderes anbieten, solange Sie warten?« Vorsichtig schloss sie die Tür zum Kinderzimmer. Dann nahm sie ein Bilderbuch über Tiere auf dem Bauernhof vom Sessel und setzte sich ihnen gegenüber. Beide Polizisten lehnten dankend ab.

»Louise war nicht mit bei der Geburtstagsfeier der Schulfreundin letzten Montag.« Roland sagte es wie eine Frage.

Gerda Poulsen blickte traurig drein. »Nein, wir mussten zu einer Beerdigung.«

»Das tut mir leid. Ein enger Freund?«, fragte er teilnehmend.

»Louises Großvater väterlicherseits. Er wohnte in Skagen, wir hatten kein enges Verhältnis zu ihm. Aber trotzdem.« Sie saß da und presste die Hände zusammen. Es machte ihr sichtlich zu schaffen, mit zwei Männern von der Polizei allein zu sein.

»Ich kann Louise auf ihrem Handy anrufen. Ist aber komisch, dass sie noch nicht zurück ist.«

Roland setzte zu einer abwehrenden Geste an. Handy? Sie sprachen von einem Kind von zehn Jahren! Ihm fiel immer noch schwer, sich daran zu gewöhnen, dass heutzutage sogar schon die Kinder im Kindergarten ein Mobiltelefon bei sich haben, aber nicht wissen, was eine Langspielplatte ist. Gleichzeitig fiel ihm siedend heiß ein, dass er noch überhaupt nicht daran gedacht hatte, dass Gitte Mikkelsen bestimmt auch ein Handy besessen hatte. Dem musste er nachgehen, sobald sie zurück waren.

»Das ist nicht nötig, wir warten einfach«, sagte er stattdessen einfach und zwang sich zu einem Lächeln. Aber Gerda Poulsen hatte die Nummer schon gewählt und lauschte gespannt in den Hörer hinein. Plötzlich wirkte sie sehr nervös. So ist es, Mutter zu sein, wenn in der Nachbarschaft ein Kindermord geschehen ist. Die Angst sickert schleichend in den Alltag; Dinge, die bisher ganz normal waren, erfüllen dich plötzlich mit Angst. Roland kannte das. Sie mussten diesen Mord möglichst schnell aufklären, damit der Alltag wieder normal werden konnte.

»Sie nimmt nicht ab«, sagte Gerda Poulsen mehr zu sich selbst und tippte schnell eine neue Nummer in die Telefontasten. Als die Verbindung zustande kam, sprang sie aus ihrem Sessel, stellte sich mit dem Rücken zu ihnen und starrte zum Fenster hinaus. Mikkel Jensen warf Roland einen besorgten Blick zu.

»Hallo, Tina.« Da war ein leichtes Zittern in ihrer Stimme. »Ist Louise schon auf dem Heimweg? Wir warten auf sie.« Sie lauschte auf die Antwort, dann sackte sie auf die Kante des nächststehenden Stuhls. »Ist gar nicht gekommen? Bist du sicher? Sie ist vor einer Stunde hier weg. Sie wollte nur ein paar Bücher bei Lise abholen gehen. Ist Lise zu Hause?« Dann war das kurze Gespräch auch schon wieder beendet. Schnell atmend klappte Gerda Poulsen das Handy zu. Nach einer kurzen Pause, in der sie einfach nur gedankenverloren dasaß, sagte sie: »Sie ist überhaupt nicht bei Lise gewesen. Wo ist sie nur?«

Roland erhob sich aus seinem Sitz und stellte sich hinter die Frau. Er blickte zum Fenster hinaus. Die Sonne war hinter den Häusern gegenüber verschwunden, und am Horizont zogen bedrohliche Gewitterwolken auf. Er legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter.

»Wahrscheinlich hat Louise nur eine Schulfreundin getroffen und sich mit ihr verquasselt. Welchen Weg nimmt sie normalerweise, wenn sie Lise besucht?«

»Sie geht immer über den Spielplatz.« Angst leuchtete in den Augen der Frau, als sie Roland ansah.

»Wir gehen mal nach ihr schauen«, erbot sich Mikkel Jensen und stand auf. Im selben Augenblick öffnete sich die Flurtür, aber es war nicht Louise, sondern ein kleiner Mann, der mit seiner Aktentasche unterm Arm wie ein Vertreter aussah. Als er ins Wohnzimmer trat, wirkte er überrascht, seine Frau mit zwei Fremden zu sehen.

»Louise ist weg!« Gerda Poulsen warf sich schluchzend in seine Arme. Eilig legte er die Aktentasche in eine Ecke des Esstischs vor ihm. Während er seine Frau umarmte, blickte er die beiden Männer erklärungssuchend an.

Roland stellte sich und Mikkel Jensen vor.

»Beruhigen Sie sich, es ist ja keineswegs davon auszugehen, dass Louise verschwunden ist. Bevor wir zurückfahren, drehen wir noch eine Runde und schauen nach ihr. Falls wir sie dabei nicht aufgabeln, dürfen Sie gerne bei uns anrufen, sobald sie wieder aufgetaucht ist«, sagte er zu Frau Poulsen, die den Kopf an die Schulter ihres Mannes drückte und weinte. »Ja, und dann können Sie sie erst einmal bei sich im Haus lassen«, fügte Mikkel hinzu.

»Sie geht nicht ran, wenn ich sie auf dem Handy anrufe. Das tut sie sonst immer, das weißt du doch, Peter!« Gerda Poulsen sah ihren Mann verzweifelt an.

»Was geht hier vor sich? Hat es etwas mit Gitte zu tun und dem Auto, das Louise gesehen hat?«, erkundigte sich Peter Poulsen. Beruhigend tätschelte er seiner Frau den Rücken.

»Ja, wir wollten eben nur mal kurz Ihre Tochter sprechen. Wir haben gehofft, sie könnte uns den Mann beschreiben, den sie gesehen hat, wie er sich mit Gitte auf dem Spielplatz unterhalten hat.«

Das Kind im Kinderzimmer begann erneut, lautstark zu weinen. Gerda Poulsen trocknete sich die Augen und ging hinüber.

»Ich habe selbst Töchter, die einmal in Louises Alter waren. Sie denken nicht unbedingt daran, dass man sich Sorgen um sie macht, wenn sie nicht rechtzeitig nach Hause kommen. Deshalb muss Louise nicht gleich etwas passiert sein«, sagte Roland gedämpft. Er gab Mikkel Jensen ein Zeichen, ihm zu folgen.

»Wollen Sie Louise suchen gehen? Dann komme ich mit«, versetzte Louises Vater so bestimmt, dass Roland sofort klar war, dass er sich auf keinerlei Diskussion einlassen würde.

Sie folgten ihm die Treppen hinunter und hinaus auf einen Platz mit Fahrradständern und massenweise Fahrrädern. Das Zwitschern einer Amsel hallte zwischen den Betonblöcken der Häuser wider. Sie gingen weiter zu einem Spielplatz. Es war davon auszugehen, dass er um diese Zeit ganz verlassen daliegen würde, weil alle Kinder nun zum Abendessen zu Hause waren – vorausgesetzt, es war überhaupt irgendetwas noch so wie damals, als Roland selbst ein Kind gewesen war.

Plötzlich rissen die Gewitterwolken auseinander. Der Regen strömte wie aus einer riesigen Dusche und trommelte auf das Blechdach über den Fahrradständern. Verdammter Sommer, dachte Roland.

Der Schrei der Kröte - Roland Benito-Krimi 1

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