Читать книгу Der Schrei der Kröte - Roland Benito-Krimi 1 - Inger Gammelgaard Madsen - Страница 9

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Es war über ein Jahr her, dass er zuletzt hierhergefahren war. Ein Kloß steckte ihm in der Kehle. Er hustete, um ihn wegzubekommen. Warum machte er das? Er hatte seine Strafe gehabt. Sanne hatte ihn verlassen, weil sie mit dem, was er getan hatte, nicht leben konnte – oder vielleicht konnte sie auch eher mit den Schuldgefühlen nicht leben, die ihn seither nicht losließen. Als ihm nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis nahegelegt worden war, Urlaub von seiner Arbeit zu nehmen, auf die er sich ohnehin nicht mehr konzentrieren konnte, hatte sie geglaubt, er würde nun entlassen. Sie hatte geglaubt, dass nun Schluss wäre mit dem schönen Leben, dass das gute Einkommen nun weg wäre – und dann war eben Schluss mit ihr, und sie war weg. Er war weder dazu in der Lage, für ihren Lebensunterhalt zu sorgen, noch vermochte er ihr ein Kind zu schenken.

Im Gefängnis zu sein, von allen isoliert und wie ein gemeiner Verbrecher behandelt, war völlig gegen seine Natur und gegen alle Grundsätze seiner Erziehung gegangen. Er hatte es als sehr ungerecht empfunden, dass er verurteilt und eingesperrt worden war – bis ihm dann allmählich klar wurde, was er getan hatte. Er war froh, dass sein Vater bereits gestorben war. Sonst hätte er diese Schande wahrscheinlich nicht überlebt. Das senile Gehirn seiner Mutter konnte die Sache sowieso nicht verstehen, auch wenn eine Krankenschwester ihr vielleicht erzählt hatte, was geschehen war und warum ihr Sohn nicht mehr zu den gewohnten wöchentlichen Besuchen kam. Sie würde einfach lächeln und nicken und am obersten Knopf ihrer Bluse fummeln, wenn man ihr davon erzählte. Vielleicht hatte sie seine Abwesenheit ja nicht einmal bemerkt. An seine Mutter zu denken tat genauso weh wie der Gedanke an seine eigenen Leiden und Beschwernisse. Auch sie befand sich in einer Art Gefängnis. Ihrem eigenen Gefängnis. Ein Alter ohne Erinnerungen. Als der Vater starb und sie ins Pflegeheim kam, hatte er erst gemerkt, wie verwöhnt er als Kind gewesen war. Er war es gewohnt gewesen, erst von seiner Mutter bedient und umsorgt zu werden und dann von Sanne, die sich aber zunehmend dagegen verwehrte. Sie hatte es auch nicht leicht mit ihm gehabt.

Eigentlich war er ganz froh, eine Pause von der Arbeit zu haben. Er konnte die vorwurfsvollen Blicke der Kollegen nicht mehr ertragen. Auch sie waren an dem Abend angetrunken nach Hause gefahren, aber für sie war die Sache gutgegangen. Verdammte Katze! Er konnte nicht damit aufhören, sie innerlich zu verfluchen, auch wenn er sich dessen schämte. Zum Glück war sein Chef auch sein privater Freund, so dass er alles Verständnis der Welt gezeigt hatte. Wäre er nicht mit ihm befreundet gewesen, dann wäre er ohne Zweifel wirklich gefeuert worden. Es war die Idee des Psychologen gewesen, bei dem er Hilfe gesucht hatte – eigentlich hätte er nie geglaubt, dass es einmal so weit kommen würde. Der Psychologe hatte ihm den Rat gegeben, nach Jütland zurückzufahren, als eine Form von Therapie. Es sei das Beste für alle Beteiligten, hatte der Psychologe gesagt, die Angehörigen aufzusuchen und mit ihnen, falls sie es wünschten, ein Gespräch zu führen. Aber er wusste, dass er dazu nie den Mut haben würde und seine Skrupel viel zu groß waren.

Er stellte fest, dass er gerade an der Stelle vorübergekommen war, wo das Auto vor einem Jahr zum ersten Mal beinahe in den Graben gefahren wäre. Kurz danach passierte er den Unfallort selbst. Instinktiv trat er auf die Bremse, als er einen Jungen sah, der auf dem Fahrradweg fuhr, eine große Sporttasche auf dem Gepäckträger. Bilder von einem Fußball, der wie in Zeitlupe auf die Fahrbahn rollt, flimmerten vor seinen Augen, als handele es sich um eine Filmszene. Der Fußball, wie er unendlich langsam rollt, dann liegen bleibt, noch einen Augenblick leicht hin und her wiegend, als könne er sich nicht entscheiden, ob er nicht doch weiterrollen solle. Ein Anblick, der ihn noch immer wie ein Fluch verfolgte. Plötzlich wusste er, worauf es der Psychologe mit seinem Ratschlag abgesehen hatte. In ihm hatte die ganze Zeit das Bedürfnis geschlummert, den Ort wiederzusehen und die Strecke in nüchternem Zustand zurückzulegen. Vielleicht hoffte er einfach, die Zeit zurückdrehen zu können. Dass es ihm gelang, die Katze zu sehen und rechtzeitig zu bremsen. Oder dass er die verfluchte Katze einfach überfuhr, statt ihr auszuweichen. Wieder bereute er seine Hassgedanken gegenüber der Katze. Das wirklich Verfluchte war schließlich, dass er an jenem Abend nicht über Nacht geblieben war, sondern versucht hatte, die Fähre der »Mols-Linien« zurück nach Seeland zu erreichen.

Er wollte auch den Ort wiedersehen, wo alles begonnen hatte. Er fuhr nur wenige Minuten weiter, bis er den Jachthafen vor sich sah, mit seinen schönen weißen Booten auf dem blauen Meer, das im Sonnenlicht funkelte. Als er das Schild sah – Restaurant Egå Marina –, bog er auf den Parkplatz ein und parkte.

Hier hatten sie jenen verhängnisvollen Empfang gehabt, um den Abschluss eines großen Auftrags zu feiern, an dem sie über mehrere Monate hinweg gearbeitet hatten. Er wunderte sich immer noch, dass eine Aarhuser Firma eine Werbeagentur aus Seeland gewählt hatte, wo es doch so viele gute Agenturen in Aarhus gab, aber das hatte bestimmt an ihrem guten Ruf gelegen. Sie hatten im Laufe der Zeit ziemlich viele Werbepreise gewonnen. An jenem Auftrag hatten sie fast ununterbrochen Tag und Nacht gearbeitet, um die Deadlines einzuhalten und um mit den Models, den Fotos und den Filmaufnahmen alles richtig hinzubekommen. Es war eine sehr erfolgreiche Kampagne für mehrere Millionen Kronen gewesen – hatte er sich dann nicht jenen letzten Drink redlich verdient?

Im Restaurant duftete es nach gegrilltem Fisch und frischem Dill. Er merkte, dass er seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Er setzte sich an einen gedeckten Tisch mit Aussicht über den Hafen und hängte seine Jacke über den Stuhl. Obwohl das Restaurant recht voll war, dauerte es nicht lange, bis ein junger Kellner kam und ihm die Speisekarte reichte. Er entschied sich rasch für warmen Räucherlachs und reichte dem liebenswürdigen Kellner die Speisekarte zurück. Der verbeugte sich, wie er es in der Berufsschule für Kellner gelernt hatte. Der Kellner reichte ihm noch die Weinkarte, aber er winkte mit einer knappen Handbewegung ab und bat stattdessen um einen Krug kaltes Wasser mit Eiswürfeln.

Während er auf den Lachs wartete, schweiften seine Gedanken zu jenem festlichen Empfang zurück. Alle waren sie so fröhlich und sorglos gewesen. Nichts hatte ihnen passieren können.

Unvermittelt setzte sich ein langer, schlanker Mann auf den Stuhl ihm gegenüber, ein Sandwich auf dem Teller und ein kaltes Bier in der Hand. Aus seinen Erinnerungen gerissen, nahm er erst jetzt wahr, dass auch am Stuhl gegenüber eine Jacke hing und er sich also an einen Tisch gesetzt hatte, der schon besetzt war. Er entschuldigte sich und wollte aufstehen, aber der schlanke Mann bat ihn zu bleiben.

»Ich kann ein wenig Gesellschaft brauchen. Troels Mortensen«, stellte er sich vor, bevor er sich seinem Sandwich zuwendete.

»Danny Cramer. Sind Sie sicher, dass ich nicht störe?«

Der andere kaute und nickte nachdrücklich. »Sie sind nicht von hier, oder? Kopenhagener?«

Er erklärte, dass er Seeländer sei und sich in Jütland in den Ferien befinde.

Kurz danach wurde der Lachs serviert.

»Das sieht verdammt gut aus«, sagte Troels und nickte zu seinem Teller hin. »Jemand, der sich’s leisten kann. Darf ich fragen, was Sie beruflich machen?«

»Ich arbeite in der Führungsetage einer Werbeagentur«, antwortete er, wohl wissend, dass der andere keine Ahnung haben würde, was das bedeutete. Nicht viele haben eine Vorstellung davon, was in der Werbebranche vor sich geht, hatte er erfahren müssen. Sie rümpfen nur die Nase über die viele Werbung im Briefkasten und werfen sie in den Mülleimer. Manchmal sogar, ohne sie auch nur mit einem einzigen Blick anzusehen. Ohne zu wissen, dass hinter den bunten Seiten harte Arbeit steckt.

»Und Sie?«

Troels Mortensen zuckte gleichgültig die Schultern. »Ich bin immer beim Militär gewesen und vor einem Jahr aus dem Irak zurückgekommen. War verdammt gut, einmal das wirkliche Leben als Soldat kennenzulernen und nicht einfach nur irgendwo auf einem Übungsplatz zu liegen und bäng, bäng zu sagen.« Er lachte mit vollem Mund.

Danny nahm einen Schluck aus seinem Wasserglas. Er war froh darüber, dass er selbst nicht die militärische Laufbahn eingeschlagen hatte, die das Risiko mit sich bringt, international versetzt zu werden – nach Bosnien, ins Kosovo, nach Afghanistan, in den Irak und weiß Gott, was der Welt sonst noch bevorstand. Er hatte seinen Wehrdienst abgeleistet, das war für ihn genug. Er bevorzugte ein ruhigeres und sicheres Leben, auch wenn sein jetziges an ein Leben in Einsamkeit grenzte.

»Und was machen Sie jetzt, zu Hause – Urlaub?«, fragte er, um das Gespräch in Gang zu halten.

»Nein, ich habe meine Militärlaufbahn an den Nagel gehängt. Jetzt lebe ich ganz für die Fischerei. Ich habe hier in Egå einen Laden eröffnet. Angelzubehör und so weiter.« Er sagte es mit einem gewissen Stolz in der Stimme.

Nachdem er den perfekt bereiteten Lachs genossen hatte, saß er nun da und genoss die Aussicht. Er fühlte sich jetzt besser und fing an zu glauben, dass ihm das Wiedersehen mit dieser Gegend in der Tat würde helfen können. Auf einmal beugte sich eine große schlanke Frau über den Mann am Tisch. Ihre Haare hatten einen rötlichen Schimmer, als die Sonne darauf schien. Ihr Parfüm roch zart und diskret.

»Hallo, Troels!«, sagte sie und sah Danny dabei fragend und mit sehr blauen Augen an.

»Was zum Teufel – Sie sind auch hier!« Troels erhob sich verlegen, und während er seinen Arm ungeschickt um den Rücken der Frau legte, stellte er ihr Danny vor, der sich nun verpflichtet fühlte, ebenfalls aufzustehen.

»Das ist Majken Thorup«, stellte Troels vor. »Sie ist Ärztin – und eine Gehirnverdreherin.«

Sie reichte Danny ihre schmale Hand, während sie Troels mit einem finsteren Blick bedachte, in dem eine Warnung lag. Sie hatte einen warmen und selbstsicheren Händedruck.

»Wollen Sie sich nicht setzen?«, fragte Troels und deutete mit einer respektvollen Handbewegung auf einen der freien Stühle am Tisch.

Danny kam sich plötzlich aufdringlich vor. Vielleicht hatte Troels auf sie gewartet, und jetzt hatte er ihr den Platz weggenommen?

»Danke nein, ich warte auf eine Freundin«, erwiderte sie und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, um dann wieder Danny anzusehen. Ihre Augen hatten einen prüfenden Ausdruck, als würde sie ihn analysieren. »Kopenhagener?«, sagte sie.

Es klang mehr wie eine Feststellung denn wie eine Frage. Warum denken die Jütländer immer, dass alle Seeländer aus Kopenhagen kommen?, dachte er.

»Nein, Klampenborg – nahe beim Freizeitpark Dyrehavsbakken; der Ort, wo die Galopprennbahn ist«, erklärte er, um zu betonen, dass sein Kopenhagener Vorort nichts mit der Kleinen Meerjungfrau, den Sexshops in der Istedgade oder der Pusherstreet in Christiania zu tun hatte. »Aha, dort wo man ›Galf‹ spielt und ›Galapp‹ reitet«, ahmte Troels Mortensen lachend den hochgestochenen Akzent seiner Heimatgegend nach, wobei er übertrieben die Nase rümpfte und den kleinen Finger ausstreckte, was nun auch Danny zum Lachen brachte.

Der Schrei der Kröte - Roland Benito-Krimi 1

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