Читать книгу Der Schrei der Kröte - Roland Benito-Krimi 1 - Inger Gammelgaard Madsen - Страница 15

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Er musste die Gelegenheit nutzen, einigermaßen zeitig nach Hause zu kommen. Roland hatte das deutliche Gefühl, dass es dazu in nächster Zeit nicht mehr so viele Möglichkeiten geben würde. Aber heute waren sie noch nicht recht vorangekommen. Am späten Nachmittag hatten sie noch eine Vermisstenmeldung an die Medien weitergegeben, die in Radio und Fernsehen ausgestrahlt worden war. Sie konnten jetzt hoffen, dass es bald Reaktionen gab, die zur Identifizierung des Mädchens führten. Dann erst konnten sie weiterkommen.

Auf dem Strandvej spürte er die Kühle des Meeres, und er roch die See und den Tang durch das offene Fenster. Ein Transporter des Aarhuser Zubringerunternehmens Unifeeder, schwer beladen mit farbigen Containern, war in gemächlichem Tempo Richtung Hamburg unterwegs. Einige Segler nutzten die Sonnenscheinphase aus, um ihre Boote ins Wasser zu lassen. Die Straßen waren bisher ziemlich frei gewesen, und wüsste er es nicht anders, es wäre ein ganz normaler Vorabend nach der Arbeit. Doch das Bild vom toten Mädchen im Container zerstörte diese Illusion. Er zündete sich eine Zigarette an und blieb geduldig im Stau stehen, der sich prompt nun doch noch eingestellt hatte. Als er endlich auf den Oddervej einfuhr, löste die Kühle des Waldes die des Meeres ab. Sein Magen knurrte hungrig. Er fragte sich, was Irene wohl zum Abendessen kochen würde. Sie selbst machte gerade eine Diät, was auch ihn in Mitleidenschaft zog – aber gerade jetzt hätte er alles essen können. Für einen kurzen Augenblick überlegte er, schnell abzubiegen und bei »Pizza und Bøf« eine Pizza mit einer dicken Schicht Mozzarella zu verdrücken und eine Cola zu trinken, aber er verkniff es sich. Er kam ohnehin schon zu spät zum Abendessen. Das konnte er Irene nicht antun. Das Haus im Aarhuser Vorort Højbjerg war Irenes Elternhaus. Es war 1953 erbaut worden, und sie hatten es übernommen, als Irenes Eltern nach ihrer Pensionierung in eine kleine Wohnung ohne großen Garten und ohne Treppen im Zentrum von Aarhus gezogen waren. Roland hatte das Haus geliebt, seit er es das erste Mal gesehen hatte. Letztes Jahr hatten sie eine Hypothek auf das Haus aufgenommen und mit dem Geld die Villa vom Keller bis zum Dachboden modernisiert. Sie hatten sich sogar ein neues Dach leisten können.

Als er in die Wohnstraße einbog, konnte er bereits den hohen Giebel und das Fenster im ersten Stock über die Bäume ragen sehen. Die Einfahrt und der Terrassenbereich waren mit italienischen Fliesen gepflastert und mit Irenes Terrakottatöpfen geschmückt, in die sie blaue Hortensien gepflanzt hatte. Ein besseres Haus hätten sie nicht haben können. Es war nicht weit bis zum Wald und zum Strandbad Ballehage, das er oft besuchte. Er liebte das Wasser – nicht nur im Sommer, sondern auch im Winter, denn er war ein aktiver Winterschwimmer. Eigentlich war das Eisbaden für einen Südländer wie ihn nicht gerade üblich. Aber wo er sich doch schon entschieden hatte, ein Wikinger zu werden, warum sollte er dann nicht auch das volle Programm absolvieren? An den frühen Wintermorgen, wenn hell die Kristalle des Schnees blitzten und die Kälte in die Haut schnitt, traf er dort auf andere mit demselben eisigen Hobby. Viele von ihnen standen bereits im hohen Alter. Ein paar dieser Kerls waren schon über neunzig, was in Roland die Überzeugung geweckt hatte, dass, wenn man in Eiswasser von ungefähr zwei Grad Celsius einstieg, das Leben von dem kalten Schock verlängert werden konnte.

Er fluchte leise und bremste, als er sah, dass sein Parkplatz besetzt war. Der blaue Saab der Schwiegereltern, Baujahr 1998, ragte bedrohlich im Schatten unter der Blutbuche auf.

Sie hatten die Gewohnheit, einen Teil des Sommers auf einem Campingplatz bei Ørnereden zu verbringen, einem beliebten Ausflugsziel im Süden von Aarhus, und während dieser Zeit waren sie häufig Gäste in der alten Villa. Natürlich war klar gewesen, dass sie diese Woche kommen würden – sie wussten, dass er und Irene gerade ihre Urenkelin zur Betreuung dahatten. Aber warum denn gerade heute Abend, wo er einfach nur mit Irene auf der Terrasse ein Glas Barolo trinken und gemeinsam das Tagesgeschehen bereden wollte? Das einzig Gute an diesem Besuch war, dass wahrscheinlich kein kalorienreduziertes Essen serviert werden würde.

Widerwillig stieg er aus dem Wagen und nahm seine Jacke vom Rücksitz. Als er in den Eingangsbereich der Villa trat, konnte er die beißenden Zigarren des Schwiegervaters riechen, die dem Duft von Speck und Knoblauch keine Chance ließen. Er bekam von diesem Zigarrengestank immer Kopfweh, obwohl er selbst rauchte – Zigaretten der dänischen Marke Cecil. Aber man musste dem armen Schwiegervater sein kleines Laster lassen, schließlich hatte er nicht viele anderen Vergnügen im Leben.

Er öffnete die Tür zum Wohnzimmer und hörte die schneidende Stimme der Schwiegermutter aus der Küche dringen. Der Schwiegervater saß gemütlich mit Zeitung und Zigarre in Rolands Lieblingsstuhl. Er blickte notgedrungen nach oben, als Roland ihn grüßte. Carl Ernst sah aus wie eine welke Topfpflanze.

Seine Frau Dagny würde wohl selbst aus dem stärksten Mann alle Kraft saugen. Er hatte sich oft gefragt, wie es denn möglich war, dass zwei solche Menschen eine Tochter wie Irene haben konnten. Sowohl Carl Ernst als auch Dagny waren voller Vorurteile. Sie hatten große Schwierigkeiten gehabt, sein »dunkelhäutiges« Aussehen zu akzeptieren, als er Teil der Familie wurde. Nur die Tatsache, dass er bei der Polizei schnell die Karriereleiter nach oben stieg, wurde als mildernder Umstand gelten gelassen. Sie waren das totale Gegenteil von Irene, die imstande war, alle möglichen Obdachlosen mit nach Hause zu bringen, damit sie etwas essen konnten und einen Ort zum Schlafen hatten. Irene hatte, nachdem sie ihre Anstellung bei der Kopenhagener Polizei aufgegeben hatte, eine Ausbildung zur Sozialarbeiterin gemacht.

Unvermittelt füllte Dagny die Türöffnung zur Küche. Sie war eine kleine Dame, fast so breit wie hoch. Eine Wulst aus überschüssigem Fett wabbelte unter ihrem Kinn. Sie hatte seit ihrer letzten Begegnung sogar noch zugelegt und sah nun aus wie eine überfette Pute. Falls Irene ohne Diät dieser Frau je in irgendeiner Weise zu ähneln drohte, würde er sie in ihren diesbezüglichen Ambitionen auf jede erdenkliche Art und Weise unterstützen.

»Guten Abend, Roland. Ich habe mir schon gedacht, dass du es bist. Du kommst gerade rechtzeitig. Das Essen steht schon auf dem Tisch«, begrüßte sie ihn. Ihr Gesicht glänzte vor Schweiß – sicher deshalb, weil sie Irene am heißen Herd energisch herumkommandiert hatte. Für den mageren alten Mann in Rolands Sessel waren das die magischen Worte, auf die er gewartet hatte. Er legte die Zigarre in den Aschenbecher und faltete mühselig die Zeitung zusammen. Dann bedachte er Roland mit einem zufriedenen Lachen und stakste an ihm vorbei in die Küche, wo er sich erneut auf Rolands gewohnten Platz setzte.

Irene stand mit dem Rücken zu ihm am Herd und war gerade dabei, einen Topf Coq au Vin mit Salz und Pfeffer abzuschmecken. Sie trug ein geblümtes Sommerkleid, das die runden Hüften erahnen ließ, die sie zur Zeit zu bekämpfen versuchte. Die dunklen Haare – nicht ihre natürliche Farbe – waren mit einer Spange hochgesteckt, aber einige reizende Locken hatten sich trotzdem an ihren verschwitzten Nacken verirrt. Hätten sie nicht Gäste gehabt, er hätte sie umarmt und auf den Hals geküsst, aber er beherrschte sich. Als sie sich aufrichtete, gab er ihr stattdessen einen Kuss auf die Wange und sah in ihre müden Augen. Sie rollte sie mit einem resignierten Ausdruck nach oben. Die Eltern hatten sie offensichtlich schon länger geplagt. »Schläft Marianna?«, flüsterte er. Sie nickte. Er lächelte sie aufmunternd an und entkorkte die für heute Abend vorgesehene Flasche Barolo. Nicht alle Pläne sollten ihnen verdorben werden. Er hoffte, dass das Campingleben ohne Fernseher sichergestellt hatte, dass seine Schwiegereltern keine Nachrichten verfolgten, aber dieses Glück blieb ihm leider versagt.

»Hast du diesen Mörder gefunden?«, fing Dagny an, sobald er sich an den Tisch gesetzt hatte. Irene ließ die Salatschüssel herumgehen.

»Wir haben es im Radio gehört, als wir hier rausgefahren sind. Ist ja schrecklich, so ein kleines Mädchen – und dann noch vergewaltigt! Was ist heutzutage denn bloß mit den Männern los!« Dagny schüttelte entrüstet den Kopf, so dass die Hautwülste unter ihrem Kinn wabbelten.

»Das Mädchen ist nicht vergewaltigt worden. Aber es ist trotzdem unheimlich«, antwortete Roland. Dieses eine Mal zumindest konnte er seiner Schwiegermutter zustimmen.

»Ich bin mir absolut sicher, dass einer dieser Ausländerjungen dahintersteckt, wie sie massenweise in Gellerup herumlaufen und Ärger machen. Ist sie nicht in Brabrand gefunden worden, ganz in der Nähe von Gellerup?«, fragte Carl Ernst, den Mund voller Huhn in Weinsoße. Dagny nickte bestätigend und sah Roland mit einem selbstgewissen Blick an, als sei sie fest überzeugt, zusammen mit ihrem Mann die Sache jetzt für ihn aufgeklärt zu haben. Zugleich spürte er Irenes Hand unter dem Tisch, die einen beruhigenden Druck auf seinen Oberschenkel ausübte. Er verstand es als Zeichen, dass er sich nicht aufregen sollte und dass sie hier an seiner Seite war und zu ihm hielt.

»Wir sind schon dabei, den Mörder zu finden, und wir werden ihn auch finden«, sagte er und bemühte sich, überzeugend zu klingen. Er hob prostend das Glas und stieß mit seinen Gästen an. Sie brachten den Rest des Abendessens ohne dramatische Zwischenfälle hinter sich. Nachdem Dagny Irene beim Abwasch geholfen und Roland derweil im Wohnzimmer versucht hatte, mit Carl Ernst ein vernünftiges Gespräch in Gang zu bringen, fuhren die Schwiegereltern zu ihrem kleinen Familienzelt nahe Ørnereden zurück.

Roland kippte den Aschenbecher mit den stinkenden Zigarrenstumpen in den Müll, füllte sich sein Weinglas neu, setzte sich in seinen skandinavischen »Stressless«-Bequemsessel und streckte die Beine entspannt auf dem dazugehörigen Hocker für die Füße aus. Irene hockte sich auf die Armlehne und vergrub ihre Hand in seinen dunklen Nackenhaaren. »Du möchtest jetzt am liebsten ein wenig Ruhe und Zeit für dich allein haben, nicht wahr, Schatz?«

Sie kannte seinen Rhythmus in einem Mordfall und wusste, dass der Besuch der Eltern zu einem unglücklichen Zeitpunkt gekommen war. Er nickte und küsste ihre Hand.

»Es ist ja auch schon spät. Ich gehe nach oben und sehe nach Marianna. Die arme Kleine ist ein wenig erkältet. Und dann geh ich ins Bett. Wir können uns morgen früh unterhalten. Soll ich etwas Musik auflegen?« Er nickte wieder und bedachte sie mit einem Blick, in dem die Dankbarkeit der ganzen Welt lag. Kurz danach drang Pavarottis Stimme wie ein verhaltener Donner durch das abgedunkelte Wohnzimmer.

Er schloss die Augen und ließ die Töne von Puccinis »Nessun dorma« seinen Kopf ausfüllen. Er versuchte, ganz in der Arie zu versinken und in seine Heimat zu entschwinden, über der der Duft von Apfelsinenund Zitronenhainen lag, aber stattdessen landete er jedes Mal in einem ekligen Container und blickte in die glänzenden, starren Augen des toten Mädchens.

Er war schon am Einnicken, als neben ihm die Titelmelodie des Films James Bond – 007 jagt Dr. No ertönte: sein Handy. Das Polizeirevier. Ein Beamter teilte ihm mit, dass sie endlich die Vermisstenmeldung eines Mädchens erhalten hatten, das auf die Beschreibung der Ermordeten passte. Die Eltern würden morgen früh um sieben Uhr im Institut für Rechtsmedizin zur Identifizierung eintreffen.

Der Schrei der Kröte - Roland Benito-Krimi 1

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