Читать книгу Der Schrei der Kröte - Roland Benito-Krimi 1 - Inger Gammelgaard Madsen - Страница 7

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Rechtsmediziner Henry Leander kam nach Möglichkeit immer sofort mit den Kriminaltechnikern zum Fundort – ehe andere damit anfingen, auf Spuren herumzutrampeln, die möglicherweise entscheidende Beweismittel liefern könnten.

Obwohl er sich als ein erfahrener Rechtsmediziner fühlte, musste er zugeben, dass sich ihm bei jeder neuen Aufgabe angstvoll der Magen zusammenzog. Er wusste nie, welcher Anblick ihn erwartete. Doch zugleich war dieses Zusammenziehen auch das, was ihn antrieb. Es war auch ein Ziehen der Spannung, der Lust, ein Rätsel zu lösen, die Fehler des Mörders zu finden und ihn – oder sie – zu entlarven. Ohne Frage, er liebte seinen Beruf, obwohl er zur Folge gehabt hatte, dass er nach Marys Tod vor neun Jahren die Suche nach einer neuen Frau mittlerweile hatte aufgeben müssen. Sie war ihm fünfundzwanzig Jahre lang eine gute, treue und vertraute Partnerin gewesen. Nachdem sie viele Jahre lang stark geraucht hatte, war sie kurz nach ihrer Silberhochzeit an Lungenkrebs gestorben. Sie hatte sich nie daran gestört, wenn er, spät in der Nacht nach Hause gekommen, zu ihr ins Bett kroch, obwohl er bis eben mit einer verwesten Leiche beschäftigt gewesen war. Sie war Tierärztin gewesen und hatte bei ihrer Tätigkeit selbst ausgiebig in diesem und jenem gewühlt. Drei Jahre nach ihrem Tod hatte er bei Freunden eine junge Witwe kennengelernt. Sie war englischer Herkunft, wie er selbst auch und wie es auch Mary gewesen war, also hatte er geglaubt, dass sie etwas gemeinsam haben müssten. Aber die junge Witwe konnte den Gedanken an seine Toten nicht ertragen, wie sie es nannte. Sie behauptete, dass er nach ihnen stinke, und wich zurück, wenn er sie umarmen wollte. Er hatte versucht ihr zu erklären, dass er beim Berühren der Toten sterile Handschuhe trug und dass er sich duschte, bevor er zu ihr nach Hause fuhr, aber das hatte nicht geholfen. Natürlich hatte es auf Dauer nicht gutgehen können. Und so hatte er sich entschlossen – nicht zuletzt auch angesichts seines nicht mehr ganz jugendlichen Alters von neunundfünfzig Lenzen –, die Frauenjagd aufzugeben. Er kaufte sich einen English Setter, den er Bruce nannte, weil ihn etwas an ihm an Bruce Willis erinnerte, trat in den English-Setter-Verein ein und fing an, auf eine Jagd anderer Art zu gehen. Die letzten beiden Schritte unternahm er vor allem um des sozialen Miteinanders willen. Die Jagd passte zudem gut zu seinem aristokratisch britischen Aussehen, und er sah, wie er selbst fand, in seiner khakifarbenen Jagdkleidung einfach perfekt aus. Gleichzeitig gab ihm das Jagen oft die Gelegenheit, am frühen Morgen in den großen Wäldern unterwegs zu sein, wenn noch Tau auf den Spinnweben lag und sich der Morgennebel wie kühle bläuliche Bänke zwischen die Baumstämme schob. Zwar gingen nicht viele Frauen auf die Jagd, und so hatte ihm sein Hobby auf diesem Gebiet keine weiteren Möglichkeiten eröffnet, aber zumindest Bruce hatte ein Weibchen gefunden und war Vater eines Wurfs geworden, so dass sie auf diese Weise einen kleinen Familienzuwachs erhalten hatten.

Kriminalkommissar Roland Benito war bereits eingetroffen und begrüßte ihn mit einem Kopfnicken, als er den Container erreichte. Sie hatten einander lange nicht gesehen, und die Stimmung reichte nur für das formelle Nicken.

»Es ist ein kleines Mädchen«, sagte Roland. Es klang wie eine Warnung. Ein Beamter von der kriminaltechnischen Abteilung war in weißer Schutzkleidung, mit Plastiküberzügen über den Schuhen und mit einer Kamera in der Hand in den Container geklettert. Die Blitzlichter leuchteten in der Dunkelheit auf. Der Container war so eng, dass immer nur einer hineinpasste. Endlich kletterte der Kriminaltechniker heraus und bedeutete ihm mit einem Nicken, dass er mit seiner Arbeit fertig war. Ungeschickt kletterte nun Leander in den Container. Die Öffnung befand sich etwa einen Meter über dem Boden, und sein Fuß versank im Abfall, als er hineintrat. Etwas Feuchtes drang durch seine Socke. Er roch sofort die Verwesung und dachte an Ratten. Er verabscheute Ratten mehr als alles andere. Ratten konnten eine Leiche bis zur Unkenntlichkeit entstellen. Das konnte zum einen die Identifikation verzögern. Zum anderen war es kein schöner Anblick.

Er knipste die Taschenlampe an. Das Mädchen lag gebettet wie auf einer Bahre von schwarzen Abfallsäcken. Ihre Augen fixierten das Dach des Containers, als hätte etwas dort oben ihren Blick zum Erstarren gebracht. Spontan blickte auch er nach oben und schlug mit dem Hinterkopf gegen die Containerdecke. »Au, verflixt!«, rief er.

»Ist etwas passiert?«, fragte Roland und steckte den Kopf durch die Öffnung. Leander hatte die Taschenlampe verloren. Der Lichtkegel leuchtete schräg ins Gesicht des toten Mädchens und warf groteske Schatten – wie wenn sich Kinder auf ihr Kinn leuchten, um sich gegenseitig in der Dunkelheit zu erschrecken.

Leander hob die Taschenlampe auf und hockte sich neben das Mädchen, nachdem er nun schmerzhaft erfahren hatte, dass man im engen Container nicht aufrecht stehen konnte. Vorsichtig strich er die schlammigen Haare von ihrer Wange und verlor beinahe wieder die Lampe, als er sah, wie ein schwarzer Käfer eilig vom Ohr des Mädchens krabbelte und sich zwischen fauligen Blättern versteckte. Leander zog eine Grimasse, als er ihn als einen Vertreter der Gattung Necrodes littoralis erkannte – auch Totengräber genannt. Seit vielen Jahren waren Insekten sein großes Hobby. Auch das fanden die meisten Frauen bizarr. In einer Ecke im Keller hatte er einen kleinen Raum mit Brettern und Regalen eingerichtet, die voll von Gläsern und Terrarien mit Insekten waren. Einige hatte er selbst in der Natur aufgelesen, andere wurden im Keller ausgebrütet und hatten das Leben draußen nie kennengelernt. Dennoch behielten sie ihre Instinkte und ihre gewohnte Lebensart bei, und genau das faszinierte ihn. Ein Insekt kann sehr viel über das Alter einer Leiche verraten. Eier und Puppen entwickeln sich innerhalb eines exakten Zeitschemas zu Insekten, und er hatte so viel über das Thema gelesen, dass er die Entwicklungsstadien auswendig wusste, obwohl sie auch von den Temperaturen und der Luftfeuchtigkeit vor Ort abhängig waren. Er leuchtete mit der Taschenlampe im Container umher. Wie es hier um die Luftfeuchtigkeit bestellt war, war unschwer festzustellen. Nasse Tropfen troffen an den Seiten des Containers herab. Der verregnete Sommer draußen sorgte hier drinnen für ein ganz eigenes Klima. »Wie lange ist sie schon tot?«, fragte Roland draußen vor der Öffnung und Henry Leander blickte nach oben.

»Rigor Mortis ist eingetreten. Die Leichenstarre beginnt nach zwei bis vier Stunden einzusetzen. Ihr ganzer Körper ist bereits steif, das heißt, dass es auf jeden Fall mehr als acht Stunden her ist. Allerdings ist das bei einem so kleinen Körper schwieriger zu beurteilen. Aber ich kann präzisere Angaben machen, sobald ich sie bei mir in der Rechtsmedizin habe. Das Mädchen ist ungefähr zehn Jahre alt. Mit bloßen Händen erwürgt.«

Er hob die steife Hand des Mädchens an und drehte sie im Licht der Taschenlampe. »Sieht aus, als ob sie festgebunden gewesen wäre«, murmelte er und zeigte auf die wohl von einem Seil herrührenden roten Streifen an beiden Handgelenken. Roland schaute in die andere Richtung.

Henry Leander unten im Container blieb einige Zeit lautlos. Roland kannte seinen alten Freund. Sie hatten viele Jahre zusammengearbeitet, und er wusste, dass der Rechtsmediziner jetzt wie ein Spürhund das tote Mädchen untersuchte, obwohl hier weiß Gott nicht die beste Umgebung dafür war. Mit einem Ausdruck des Unbehagens im Gesicht kletterte Leander schließlich aus dem Abfallcontainer. Roland reichte ihm seinen Arm als Stütze.

»Pfui, wie abscheulich, ein Kind an so einem Ort abzulegen!«

Roland antwortete nicht. Sie hatten beide schon vieles erlebt und gesehen – insbesondere in ihrer gemeinsamen Zeit in Kopenhagen –, aber glücklicherweise war es lange her, dass sie mit einer Aufgabe wie dieser konfrontiert worden waren.

Das rot-weiß gestreifte Absperrband der Polizei flatterte im Wind um den Container. Sie gingen ein paar Schritte zur Seite. Leander zog die weißen Latexhandschuhe aus und schob sich die Nasenschutzmaske unter das Kinn. Beide schwiegen und dachten an das, was sie gerade im Container gesehen hatten.

Sobald sie den Fundort der Leiche verließen, zündete sich Roland Benito eine Zigarette an. Er musterte Leander, wobei er – wegen des Rauchs – die Augen zusammenkniff. Ein totes Kind war seiner Ansicht nach der schlimmste Anblick, dem man überhaupt ausgesetzt werden konnte.

»Hast du etwas von Bedeutung gefunden?«

»Da ließ sich nicht viel machen – mit Schutzanzug, Handschuhen und Nasenschutzmaske. Es gibt da drinnen so viel Dreck, Gartenabfall und allen möglichen Mist. Wir müssen den Container genauer untersuchen, wenn wir das Mädchen herausgenommen haben.«

Roland nickte. »Natürlich.« Er nahm einen tiefen Zug.

Den Edwin Rahrs Vej entlang hatten die Leute angefangen, falsch zu parken. Sie glotzten aus den Autofenstern oder standen neben den Autos und verfolgten das Geschehen am Container. Roland war sich darüber im Klaren, dass der Mord nicht mehr lange geheim gehalten werden konnte.

»Leider muss ich davon ausgehen, dass es sich um ein Sexualverbrechen handelt«, sagte er, während er mit finsterem Blick nach Leuten Ausschau hielt, die es wagten, über die Absperrbänder zu steigen. Er hatte Angst vor den Reaktionen in der Stadt. Schon ein Kindermord drüben in Kopenhagen, weit weg auf der Insel Seeland, konnte die Bevölkerung hier tief erschüttern. Was würde dann ein Kindermord in ihrer eigenen Stadt auslösen – Aarhus, gütiger Gott, auch »Stadt des Lächelns« genannt? Er sah schon die fettgedruckten Überschriften auf den Titelseiten der Tagespresse. Kindermord in der Stadt des Lächelns. Kleines Mädchen erdrosselt in Container aufgefunden. Und warum in einem Container gerade hier im Problembezirk Gellerup? Kein Zweifel, dass viele die Gelegenheit nutzen würden, den Vorfall mit den vielen Ausländern, der Gewalt und der hohen Kriminalitätsrate in diesem Bezirk in Zusammenhang zu bringen. Nicht gerade das Beste, was dem ohnehin schon vom Schicksal geschlagenen Viertel passieren konnte.

»Das Mädchen ist aber ganz normal angezogen. Nur ihre Beine sind nackt – und die sockenlosen Füße in den weißen Sandalen«, antwortete Leander.

Roland kam das eigenartig vor. Das Wetter diesen Sommer war für nackte Beine nicht gerade vorteilhaft. Zum Teufel mit den Pädophilen, dachte er. Wenn es nach ihm ginge, sollten sie sich ruhig nackte Kinderkörper anschauen, so viel sie wollten – auch wenn er selbst es pervers fand –, wenn sie die Kleinen nur in Ruhe ließen und nicht zur Ursache dafür wurden, dass sie auf Henry Leanders Tisch in der Rechtsmedizin landeten.

»Keine Vermisstenanzeigen?«, fragte Leander und machte einen großen Schritt über eine Pfütze.

»Nein, jedenfalls keine kleinen Mädchen. Nur die üblichen Dementen, die sich verlaufen haben, aber die finden wir zum Glück in aller Regel wieder. Du bist dir also über den Todeszeitpunkt nicht ganz sicher?«

»Noch nicht, aber das wird die Obduktion ergeben. Vielleicht erhalten wir dadurch auch einen Hinweis auf den Tatort. Das Mädchen ist erst in den Container gelegt worden, als sie schon tot war.«

»Dann haben wir also auch noch einen Tatort zu finden«, seufzte Roland.

Leander nickte. »Der Container ist nur der Fundort der Leiche. Der Tatort hat für uns eine viel größere Bedeutung. Aber den aufzuspüren wird nun deine Aufgabe sein, alter Freund.« Er tätschelte Roland ein wenig an der Schulter, um seine Worte weicher klingen zu lassen.

Roland kratzte sich die dunkle Haarpracht. »Ja, dort sollten die Kriminaltechniker die entscheidenden Beweise finden können – wenn wir ihn erst einmal ausfindig gemacht haben, heißt das.«

»Ich kann dir bestimmt schon bald eine Antwort geben«, antwortete Leander beruhigend. »Ihre Haare sind voller Schlamm und ihre Kleider durchnässt, das ist doch schon mal ein Hinweis. Beides kann unmöglich im Container passiert sein.«

»Schlamm! Wasser!« Roland breitete resigniert die Arme aus, so dass die Asche von seiner Zigarette bröselte. »In diesem feuchten Sommer kann das ja überall sein.«

Leander richtete seinen Blick in den Himmel, der schon wieder Wolken für den nächsten Schauer herantrieb. »Es hängt davon ab, was die Analyse über die Zusammensetzung des Schlamms ergibt. Schlamm ist nicht gleich Schlamm. Ich habe auch Blut auf ihrem Rock gefunden.«

»Blut! Ihr Blut?« Er befürchtete das Schlimmste.

»Es ist noch zu früh, um das zu sagen. Dazu brauchen wir erst die DNA-Analyse. Aber unmittelbar sieht es nicht so aus, als hätte sie Wunden, die so heftig geblutet haben könnten.«

»Was ist mit den Wunden von den Seilen?«

»Es sind nur Hautabschürfungen, und die haben nicht geblutet. Ich glaube nicht, dass sie allzu lange festgebunden gewesen ist – aber lange genug, um Striemen zu hinterlassen.«

Sie hatten ihre Wagen erreicht. Leander öffnete die Tür seines gebrauchten Volvos. Hinter ihnen trafen nun auch die ersten Pressevertreter ein. Sie stürzten sich auf die Polizisten, die das Gelände sicherten, und überschütteten sie mit ihren bohrenden Fragen, auf welche die Polizisten keine Antworten hatten. Stattdessen gaben sich die Beamten alle Mühe, die anstürmende Horde auf Abstand zum Container zu halten. Die blauen Blinklichter hatten Menschen aus dem Umkreis von Meilen angezogen.

»Die Schmutzgeier sind eingetroffen. Lass uns verschwinden«, seufzte Roland.

Der Schrei der Kröte - Roland Benito-Krimi 1

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