Читать книгу Der Schrei der Kröte - Roland Benito-Krimi 1 - Inger Gammelgaard Madsen - Страница 8

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Als sie im Regen den Edwin Rahrs Vej entlangfuhr, sah sie sogleich das Blaulicht der Polizeiautos und die rot-weißen Bänder, die das Gelände auf der anderen Straßenseite absperrten. Sie bereute jetzt, dass sie die Journalistin nicht doch gefragt hatte, um was für eine Aufgabe es sich da handelte. Hier war offensichtlich ein Unglück geschehen – oder ein Verbrechen. Nicht gerade das, was sie momentan unbedingt brauchte. Sie hatte auf die Eröffnung einer neuen Fabrik irgendwo hier draußen im Industriegebiet gehofft oder etwa auf eine Preisverleihung für einen außergewöhnlich schönen Garten im Gartenverein Brabrand.

Die Frau, die ihr entgegenkam, sobald sie ihren silbergrauen Ford Ka geparkt hatte, sah sie aus grauen Augen unter einem roten Regenschirm prüfend an. Die Journalistin. Ihr Gesichtsausdruck machte klar, dass sie wusste, was in Kamillas Leben vorgefallen war. Der sensationslüsterne Redakteur Thygesen hatte es selbstverständlich nicht lassen können, ihr die Geschichte auf seine eigene dramatische Weise unter die Nase zu reiben. Kamilla hatte es satt, all die mitfühlenden Augen zu spüren, die deutlich ausdrückten: du arme Kleine. Sie konnte es nicht ausstehen, bemitleidet zu werden – weil sie sich selbst stark fühlte. Oder vielleicht auch deshalb, weil sie soeben gemerkt hatte, dass sie denn doch nicht ganz so stark war, wie sie geglaubt hatte.

Die junge Journalistin reichte ihr die Hand. »Anne Larsen«, stellte sie sich vor, gefolgt von einem fragenden »Kamilla Holm, ja?«. Ihre Stimme war selbstbewusst, ihr Dialekt verwies auf den Kopenhagener Szenestadtteil Nørrebro.

Für Kamilla bestand gar kein Zweifel, dass ihr Gegenüber aus der Hauptstadt stammte. Die Journalistin war klein und mager. Doch obwohl sie eher zierlich gebaut war, hatte sie einen festen, warmen Händedruck. Ihre Hand war schlank und sehnig und passte gut zum übrigen Körper. Sie kam Kamilla bleich vor unter der kurzen, rabenschwarzen Frisur. Ihr eines Auge hatte einen traurigen Ausdruck, das Lid des anderen wirkte ein wenig hängend. Kamilla schätzte sie auf Mitte bis Ende zwanzig. Das schwarze Sweatshirt mit Kapuze, das sie unter dem gelben Regenmantel trug, war etwas zu lang, die Jeans hatte verwaschene weiße Flecken, und die Hosenbeine waren unten umgeschlagen, so dass in einem Paar weißer Sportsandalen, die nun aber von Gras und Schlamm schmutzig waren, die nackten Knöchel sichtbar wurden.

»Ja, ich bin Kamilla Holm. Woher wussten Sie, dass ich es bin?«, gab sie zurück. Ihr eigener Dialekt, eine charakteristische Mischung aus den Dialekten der Städte Horsens und Aarhus, klang in ihren Ohren plötzlich hinterwäldlerisch. Auch das hatte sie zu fragen vergessen: Wie sehen Sie aus? Woran kann ich Sie erkennen? Sie kam sich unprofessionell vor und kniff im Regen die Augen zusammen. Natürlich hatte sie auch weder Regenschirm noch Regenmantel dabei.

»Thygesen hat mir ein Foto von Ihnen gezeigt«, antwortete Anne Larsen mit einem Augenzwinkern.

»Was ist hier passiert?« Kamilla ließ ihren Blick über die Meute nasser Menschen auf der einen und die wenigen Polizisten auf der anderen Seite schweifen, die die Menge auf Abstand zu halten versuchten. Ihre Stimme klang nervös.

»In einem Abfallcontainer hat man ein totes Mädchen gefunden.«

»Ein Mädchen? Tot?« Widerwillig schloss sie sich der schlanken Journalistin an, die bereits mit langen Schritten durch das nasse Gras auf die gaffende Menge zuschritt. »Ein Kind«, bestätigte sie und drehte sich um. Sensationslust schimmerte in ihren Augen. Kamillas Beine schienen nachgeben zu wollen. Ihre Knie waren wie schwere Klötze. »Ein Kind«, wiederholte sie murmelnd und folgte Anne trotzdem automatisch, als sei in ihr die alte Gewohnheit, Journalisten blind hinterherzutrotten, gewissermaßen gegen ihren Willen zu neuem Leben erwacht. Sie sah zu, wie Anne ihre journalistischen Gerätschaften vorbereitete, während sie selbst ihr den Regenschirm hielt und die Gelegenheit nutzte, für einen Moment einigermaßen im Trockenen zu stehen. Dann verschwand Anne in der Menschenmenge, während Kamilla, den Schirm in der Hand und die Kameratasche über der Schulter, am Rand des dichten Haufens stehen blieb. Die Situation war für sie ungewohnt. Früher hatte sie immer genau gewusst, was sie zu tun hatte, wenn sie mit einem Auftrag betraut worden war; das funktionierte damals rein instinktiv. Sie machte Anne ausfindig, die es geschafft hatte, das Mikrofon unter die Nase eines jungen Polizisten zu halten, der in der Menge stand und redete. Kamilla richtete einen abwägenden Blick gen Himmel und klappte den Regenschirm zu. Es sah danach aus, als würde es wieder aufklaren; eines der vielen Gewitter dieses Sommers war gerade vorübergezogen. Die Sonne schickte sich an, erneut durch die Wolken zu brechen, obwohl es noch ein wenig tröpfelte. Sie nahm die Kamera aus der Tasche und schoss eine Serie Fotos von den Polizisten, den Journalisten und den Schaulustigen, die sich um sie geschart hatten, auch wenn sie wusste, dass kein Kandidat für das Pressefoto des Jahres dabei sein würde. Irgendetwas musste sie schließlich tun.

Anne stand am Absperrband der Polizei zwischen den Büschen hinter dem Container und gab Kamilla ein Zeichen. Kamilla schielte erst zu den Polizisten hin, dann ging sie schnell zu Anne hinüber. Die Polizisten hatten so viel damit zu tun, die Leute wegzuscheuchen und Fragen zurückzuweisen, dass sie die beiden Frauen gar nicht bemerkten.

»Verdammt noch mal«, flüsterte Anne dicht an ihrer Wange, als sie sich vorbeugte, um Kamilla unter dem Absperrband hindurchzuhelfen. »Sie haben das Mädchen schon mitgenommen.«

Kamilla spürte Erleichterung in sich aufsteigen. Hätte sie den Blick von noch einem toten Kind ertragen? Warum bloß hatte sie gerade zu diesem Auftrag Ja gesagt? Es hatte zuvor bereits viele andere gegeben, die sie hätte annehmen können. Nur, weil sie nicht gefragt hatte. Deswegen hatte sie angenommen.

»Kommen Sie her!« Anne winkte sie zu sich. Die Büsche verbargen sie vor dem Blick der Polizisten. Anne hatte entdeckt, dass sich auch auf der Rückseite des Containers eine Tür befand. Diese hatten die Polizisten nicht abgesperrt. Sie hatten sie wahrscheinlich gar nicht bemerkt, weil sie hinter den Büschen versteckt lag und zudem genauso rostig war wie der Rest der Containerrückseite. Die Tür knirschte in den Angeln, als Anne sie öffnete. Intensiver Gestank drang ihnen in die Nase. Kamilla trat in etwas Schleimiges. Es war Kotze. Fast hätte sie sich ebenfalls erbrechen müssen.

»Es scheint, als ob diese Tür erst vor kurzem das letzte Mal geöffnet worden ist«, murmelte Anne. Erneut winkte sie Kamilla näher. »Los! Machen Sie ein Foto!«, sagte sie leise.

»In den Container hinein? Meinen Sie wirklich?« Sie hörte ihre eigene Stimme, laut und verwundert, wiewohl sie sich auf beiden Ohren taub fühlte. Aber sie tat, worum sie gebeten worden war. Der Blitz leuchtete im dunklen Container auf. Sie konnte auf dem Display der Kamera kein Motiv ausmachen, auch nicht im Sucher, und so schoss sie einfach ein paar Fotos aufs Geratewohl. Wenn der Blitz aufleuchtete, sah sie kurz schwarze Müllsäcke, blau gestreifte Aldi-Tüten, prallvoll mit Abfall, Kartons, altes Gerümpel, Essensreste, Blätter, Äste und vermoderte Pflanzen. »Das reicht jetzt.« Unvermittelt zog Anne sie am Ärmel. Sie hatte von ihrem Wachposten aus gesehen, dass ein Polizist auf dem Weg zu ihnen war.

»Was machen Sie da?«, rief er, gerade als sie unter dem gestreifte Band hindurchgeschlüpft und damit zurück auf »legalem« Boden waren. Anne zeigte ihm ihren Presseausweis.

»Ich kann Ihnen leider nichts über diese Sache sagen«, unterstrich er. Dann deutete er auf die Kamera, die an einem Riemen um Kamillas Hals hing. »Wovon haben Sie Fotos gemacht?«

»Nur vom Container. Wir müssen verdammt noch mal etwas in die Redaktion mitbringen, ansonsten werden wir gefeuert«, antwortete Anne Larsen und strich sich die Haare zurück.

Kamilla wunderte sich, dass Anne so gut den Unschuldsengel mimen, ja sogar dem großen Polizisten kontra geben konnte, der sich nun breitschultrig vor ihnen auftürmte. Sie selbst hatte rote Wangen vor Aufregung und hoffte, dass der Polizist es nicht bemerkte. Sie fing an, die Kotze an ihren Schuhen ins nasse Gras zu wischen.

Der Polizist nickte, vergewisserte sich sicherheitshalber aber trotzdem, dass das Schloss an der Vorderseite des Containers nicht aufgebrochen worden war und dass das Klebeband, das anzeigte, dass der Container von der Polizei versiegelt worden war, immer noch unversehrt an Ort und Stelle saß. Man konnte ja nie wissen, was die Presseleute so anstellten.

»Okay, und jetzt verschwinden Sie!« Er wandte ihnen den Rücken zu und schritt auf seine Position zurück. Groß, aufrecht und in seiner Polizeiuniform vor Autorität strotzend.

Der Schrei der Kröte - Roland Benito-Krimi 1

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