Читать книгу Schwarz und Weiß - Irene Dische - Страница 12
Rauschen
ОглавлениеDie Älteren waren entsetzt. Ihre Kinder mussten nicht mehr heiraten. Aber zu ihrer Zeit war die Ehe, jedenfalls in ihren Kreisen, so unumgänglich gewesen wie der Tod. Ein paar hatten Glück gehabt und blieben von kostspieligen Scheidungen verschont, das galt auch für die Stones, die wegen eines Hotelzimmers geheiratet hatten. Der Süden hatte sie auf einer Pilgerreise zum Black Mountain College zur Ehe gezwungen. Avantgardistische Künstler hatten dieses kleine Zentrum für die freien Künste im hintersten Winkel von North Carolina errichtet. Es übte eine starke Anziehungskraft auf die geistige Schickeria aus dem Norden aus. Die Umgebung dieser Enklave hielt am Althergebrachten fest, und so kam es, dass ein zwei Dollar teures Hotelzimmer im nahen Asheville, das nur an ausgewiesene Ehepaare vermietet wurde, über Buckys und Vlados Zukunft entschied. In einem Dime Store kauften sie goldene Ringe für das Standesamt, die sie beim Einchecken trugen und nach dem Auschecken wegwarfen. Eine Feier gab es nicht, und sie kehrten nie wieder nach Black Mountain zurück. Denn schon bald diente der bescheidene Campus, der so viele berühmte Persönlichkeiten beherbergt hatte – Dichter, Maler und Komponisten –, als Sommerlager für christliche Jungen; ein dichtes geistiges Rankenwerk hatte das Institut so rasch überwuchert, dass kaum ein Einheimischer sich noch daran erinnert.
Trotz ihrer Heirat blieben die Stones einander zugetan. Beide hatten eine beengte Kindheit hinter sich – ihre Eltern waren russische Einwanderer, die auf altertümliche Weise zu neuem Reichtum gekommen waren, indem sie mit Schmuck oder mit Pelzen handelten. Sie hatten ihren jeweiligen Platz an der Sonne gefunden, die Stones in Las Vegas, die Rosensteins in Miami. Bucky und Vlado hatten ihre Tochter vor der eigenen Familie beschützt und das Thema Großeltern genauso wie den Weihnachtsmann als alberne Erfindungen behandelt, aus denen man herauswuchs.
Nach dem ersten Schock waren die Stones doch gerührt. Das junge Paar hatte die kluge Entscheidung getroffen, sich auch offiziell zu lieben. Sie wollten an der Hochzeit teilhaben. Als die beiden Jungvermählten nach Hause kamen, warteten Bucky und Vlado im Foyer auf sie.
Bucky trug ein Kleid, ein gelbes Marimekko-Zeltkleid, in dem sie wie ein Schulbus aussah, Vlado einen Anzug. »Was gibt’s zu feiern?«, fragte Lili. Bucky begann mit ihrer Rede »Großes Glück, wie Weißbrot, hält sich nicht lange. Nicht meine Meinung. Die von anderen Leuten. Zynikern. Dein Vater und ich beweisen ihnen schon seit Jahrzehnten, dass sie falschliegen. Doch eine eigene Wohnung hilft.«
Sie präsentierte die Schlüssel zu einer solchen, ein Hochzeitsgeschenk, ein Fünfundzwanzigtausend-Dollar-Schnäppchen im selben Haus, eine Etage tiefer, drei Zimmer kleiner, genauso hübsch und bezugsfertig. Dr. Schwarz, nach zehn Jahren Therapie, hatte das Geschenk befürwortet. Er glaubte, diese Geste von verschwenderischer Generosität werde Bucky glücklich machen. Sie freute sich auf eine engere Mutter-Tochter-Bindung.
Die Stones begleiteten die Butlers nach unten. Bucky hatte sich vom Hausmeister einen alten Malertisch geliehen und vier Klappstühle aufgestellt. Auf dem Tisch standen Pappteller und Becher, ein Taschenmesser und eine klassische dreistöckige weiße Hochzeitstorte im Miniformat, das Paar aus Zuckerguss obendrauf, dazu mehrere Flaschen billigen Proseccos aus Kalifornien. Vlado wies die Gastgeberin darauf hin, dass sie das wichtigste Geschenk, die essentiellste Zutat für eine Hochzeitsnacht vergessen hatte: ein Ehebett. Der Rest der Möbel konnte warten.
Bucky zeigte sich, wie immer, als erfinderisch. Sie rief in einem Woolworth an, der rund um die Uhr geöffnet hatte und konnte den Manager davon überzeugen, zwei Luftmatratzen zu senden, die sie bei der Ankunft bezahlen würde. Dem Lieferjungen versprach sie ein Trinkgeld, wenn er sie aufbliese. Während er im zukünftigen Schlafzimmer seine Lungen im Luftventil leerte, schlug Bucky mit einem Löffel gegen ein Weinglas und hielt eine Rede epischen Ausmaßes. Sie lobte den guten Männergeschmack ihrer Tochter, die Unnachahmlichkeit ihres Schwiegersohns und ihr Hochzeitsgeschenk. An diesem Punkt unterbrach der Lieferjunge die Rede, er hatte fertig geblasen und wollte gehen. Bucky drückte ihm einen Scheck für die Matratzen in die Hand, ein Stück Kuchen war sein Trinkgeld.
Er legte es unberührt im Eingangsbereich ab. Als ihre beiden Gäste abrupt die Wohnung verließen, war das junge Paar wieder allein. Sie konnten ihr Glück kaum fassen. Sie hatten Hunger und teilten sich das letzte Stück Kuchen. Dann legten sie sich auf ihr neues karges Bett, um, wie sie es jetzt nannten, Liebe zu machen. Der Ausdruck kam ihnen noch nicht leicht über die Lippen.
Als es dämmerte, lagen sie immer noch wach da. »Erinnerst du dich an unser erstes Hotelzimmer in Kenia?«, fragte Lili. Duke antwortete: »Ich weiß noch, wie du ausgesehen hast, als ich dich zum ersten Mal schlafen gesehen habe.«
Sie setzten sich an den wackligen Malertisch, sahen sich an, was vom Fest übriggeblieben war, und tranken noch ein bisschen Champagner, Lili sogar noch ein bisschen mehr. Sie war noch nie betrunken gewesen. »Erzähl mir, wie ich ausgesehen habe«, bettelte sie und öffnete die letzte Flasche Champagner – der Korken ein Projektil, das auf Dukes Gesicht zuschoss. Er duckte sich, und sie lachten wie verrückt. »War ich schöner, als ich jünger war?«, fragte sie, plötzlich ernst.
»Du warst noch nie so schön wie heute Nacht«, versicherte er ihr.
»Ich möchte jedes Jahr schöner werden, über alles menschliche Maß hinaus. Für dich. Sonst habe ich dich nicht verdient.« Duke sagte nichts. Während er grazil wie üblich mit seiner Gabel hantierte, stand Lili auf, stellte sich hinter ihn, hob die Champagnerflasche hoch und kippte sie über ihm aus. Duke blieb aufrecht sitzen, als die farblose Flüssigkeit sich über sein Gesicht ergoss, über seine nackten Schultern und seinen Oberkörper, und in seinem Schoß zusammenlief. »Ich taufe dich als mein eigen!«, intonierte Lili. Er rührte sich nicht. Sie schnappte sich das mit Vanilleglasur beschmierte Messer und hielt es ihm an die Kehle. Er rührte sich nicht. Sie ritzte ihn mit der Klinge, ein winziger Tropfen Blut trat aus. Duke saß reglos da. Lili wollte wissen, ob er sie immer lieben werde, komme, was wolle. Er lachte. »Natürlich, deswegen haben wir doch geheiratet! Jetzt leg das Messer weg.« Sie rieb seinen nassen Oberkörper mit den Händen und leckte mit ihrer rosigen kleinen Zunge die weiße Glasur und den Blutstropfen von seinem schwarzen Hals, schließlich seinen Lippen, bis sie sich ruhig öffneten. Sie murmelte: »Ich liebe dich, wie noch nie eine Frau geliebt hat. Ich liebte dich vom ersten Augenblick an. Ich liebte dich schon, bevor ich dich traf. Ich liebte dich, ehe die Zeit begann.«