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Eine wirklich große Beförderung

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Eines schönen Frühlingsnachmittags, als sie gerade zweiundzwanzig Jahre alt war, fand Lili heraus, was sie bis dahin nicht gewusst hatte – sie war nicht nur schön, sie war die Schönste im Land. Der Manager einer großen Modelagentur entdeckte Schwester Lili auf der Altenpflegestation, als sie die Untersuchungsergebnisse nachschlug, die seine demente Mutter betrafen. Dankbar für jede Ablenkung nahm der Sohn die Figur der Schwester wahr. Sein Jagdinstinkt erwachte. Sie hatte Porzellanhaut, langes blondes Haar, das zu einem losen Knoten hochgebunden war, und einen schlanken Hals. Ihre karamellbraunen Augen wurden von einer Brille verschattet. Keine Spur von Make-up. Er lud sie zu Probeaufnahmen ein. Ohne Brille natürlich.

Lili schrak zurück.

Aber als sie an diesem Nachmittag heimging, schaute sie sich auf der Straße um, und dabei fiel ihr auf einmal auf, dass die Männer zurückschauten. Auf einmal spürte sie in jedem zufälligen Blick sexuelles Interesse an ihr. Während ihr die Blicke folgten, erkannte sie, dass sie nicht jeder Frau folgten. Damit wusste Lili nicht umzugehen.

Ihre Einstellung war dem Manager unheimlich. Er erzählte Frauen unentwegt, dass sie atemberaubend schön seien, und sie stimmten ihm ausnahmslos zu. Diese hier war entsetzt. Doch sie war von Natur aus freundlich, und sie konnte nicht nein sagen. Sie war einverstanden damit, dass er sie persönlich zu einem Optiker brachte, der ihr Kontaktlinsen anpasste. Lili fühlte sich bei dem Manager geborgen. Mit seinen weißen Stummelfingern nahm er ihr persönlich das klobige schwarze Brillengestell ab, und da wurde ihr schwindlig – sie breitete die Hände über ihr Gesicht, um es vor dem turbulenten Raum zu schützen, der sie umgab. Dann setzte der Optiker ihr die Kontaktlinsen ein, und die beiden Männer führten Lili vor den Spiegel.

Sie sah ihr Gesicht zum ersten Mal nackt. Sie atmete schneller. Schönheit ist keine Ansichtssache. Sie runzelte ein wenig die Stirn, was niedlich aussah, und die zwei hässlichen alten Männer lachten und stupsten sie vom Spiegel fort. Sie musste lernen, die winzigen durchsichtigen Näpfchen auf der Fingerspitze zu balancieren und sie in die weit aufgerissenen Augen zu befördern. Sie übte zu Hause, bis ihre Augen von den darin herumwühlenden Fingern wund waren, und immer wieder fielen ihr die Linsen von der Fingerspitze und mussten gereinigt werden, ehe sie es wieder versuchen konnte. Duke protestierte. Mit Brille gefalle sie ihm sehr gut, sagte er. Die Brille unterstreiche ihre Schönheit, behauptete er. Lili hörte nicht auf ihn, übte fieberhaft weiter, als hinge ihr Leben davon ab, und nach zwei Tagen schon gehorchten ihr die Linsen, und sie warf alle ihre Brillen in den Müll und ging nach draußen, um zu promenieren.

Die Zahl der auf Lili gerichteten Blicke stieg rasant an.

Eine leidenschaftliche Liebesaffäre mit dem Spiegel begann. Anfangs verheimlichte sie es ihrem Mann. Verstohlen betrachtete sie während der kurzen, aber immer ekstatischeren Zusammenkünfte ihr Abbild. Sie war vernarrt. Bei der Arbeit verschwand sie für längere Zeit im Pausenraum. Der Agent hakte nach, rasch willigte sie ein und nahm an ein paar »Go-See«-Terminen teil, bei denen ganze Räume voller »Mädchen« wieder weggeschickt wurden.

Nur Lili nicht. Sie brachte es quasi über Nacht vom Probelauf zur Professionalität. Sie schloss einen Vertrag mit einer Tabakfirma für Fernsehreklame im Ausland, von Italien bis Südkorea. Die Spots waren auf die jeweilige Landeskultur zugeschnitten, und in allen stand eine blonde Schönheit im Mittelpunkt. Der Vertrag wurde unterzeichnet, doch sie hatte es ihrem Mann immer noch nicht gesagt. Sie hatte Angst, dass er auf längere Reisen genauso wie sie reagieren könnte, mit wütender Ablehnung.

Duke ahnte nichts. Ihm gefiel ihr Gesicht mit Kontaktlinsen genauso wie mit Brille. Sie erklärte ihm, dass sie jetzt immer Frühschicht hatte, und er stand jeden Morgen früher auf, um ihr Kaffee zu kochen. Hätte er hinausgeschaut, hätte er gesehen, wie die lange Limousine die Straße entlangglitt. Aber er legte sich immer wieder schlafen. In der Nacht vor ihrem ersten Auslandsshooting schien es an der Zeit, alles zu beichten.

»Heute ist was Sensationelles passiert, Duke«, flötete sie, als sie zu ihm aufs Sofa hüpfte. »Wie ich dich liebe!«, erinnerte sie ihn, holte tief Luft und datierte die Aufwartung durch den Talentscout nach, wobei Lili sie zu einer einzigen freudigen Episode verdichtete. Sie glaubte, dass Duke ihrem Enthusiasmus unmöglich widerstehen könne.

Duke war baff. Das war ihm nie in den Sinn gekommen, Lilis Anblick einmal mit irgendjemandem teilen zu müssen. Er saß da, betrachtete sie und fühlte sich verletzt, weil er nicht davon ausgehen konnte, dass eine solche Schönheit nur einen einzigen Bewunderer hatte.

»Darling«, fuhr sie fort, »meine Karriere ist quasi vorherbestimmt. Mein erster Kunde ist eine Zigarettenfirma, die Butler & Butler heißt. Unglaublich, oder? Ich habe einen eigenen Manager. Das Beste hab ich dir noch nicht erzählt – ich werde unglaublich gut bezahlt.«

»Wirklich?«

»Du hast keine Ahnung, wie viel. Darf ich’s dir zeigen?«

Sie zog ihren alten Koffer aus dem Flurschrank. Seit dem Tag, an dem sie sich in Nairobi begegnet waren, hatte Duke den Koffer nicht mehr gesehen, und sein Anblick griff ihm ans Herz. Er war aus einfachem blauem Stoff, mit großen aufgemalten gelben Lettern stand auf der Seite: LILI STONE. Jetzt sah Duke, wie hässlich und billig der Koffer war. Sie pfefferte ihn auf den Boden und forderte Duke auf, ihn zu öffnen. Ein grüner Geldscheinteich. Einhundertdollarnoten schwappten heraus: »Wenn ich will, bezahlen sie mich bar.« Das Geldmeer überschwemmte alle Sorgen, die er hätte haben können.

Wenige Monate später sah man Lili auf dem Cover von Mademoiselle, und es kamen immer neue Anfragen.

Der Talentscout fühlte sich geehrt, dass ihm das Glück so hold war. Er hieß Stanley Heaps. Er schätzte weibliche Schönheit, rechnete sie den Frauen aber nicht an. Ohne ihn war ihre Schönheit wertlos. Der schlaffe Rotschopf fühlte sich auf romantische Weise nur zu uniformierten kraftstrotzenden Typen hingezogen – am liebsten mochte er die Monturen von Spezialeinheiten. Seine Mutter war die einzige Frau, die er je geliebt hatte, eine Tyrannin mit Witz. Der Witz war weg, die Tyrannin lag im Krankenhaus. Jetzt zog Lili in sein Herz ein. Stanley Heaps’ schweifende Gedanken sammelten sich wie Regen in Gullis und flossen zu ihr hin. In ihrem Beisein erzählte er jedem, dass sie die außergewöhnlichste Frau sei, die er je getroffen habe. Er nannte sie um in Lilith, wie die jüdische Dämonin. Er überließ ihr die Limousine für alberne kleine Besorgungen, und dann wartete der Fahrer vor dem Geschäft. Wenige Menschen können der Versuchung widerstehen, über einen Chauffeur zu verfügen – es bläht das Ego auf, noch stärker als Geld.

Seine Lilith war, wie sich herausstellte, aus Fleisch und Blut. Sie kündigte unverzüglich ihre Stelle im Krankenhaus, warf das Schwesterndiplom und ihre Geburtsurkunde in den Müll, schnitt fünf Jahre von ihrem Alter ab und teilte der Modelagentur mit, sie stehe zur Verfügung. Anfangs nannte sie ihren Mentor Sir Heaps und folgte seinen Anweisungen, wozu auch die Eliminierung ihres Nachnamens gehörte. »Lilith steht für den Asteroiden, der nach Lili Boulanger benannt ist«, erklärte sie Duke. »Du bist der Einzige, der mich Lili nennt.«

Über Nacht verwandelte sich ihr Erscheinungsbild – sie trug nun auch in ihrer Freizeit Make-up und ausgefallene Kostüme. Sie hatte ein Radarsystem eingeschaltet, das ihr sagte, wer sie anschaute und wie. Wenn sie abends nach Hause kam, sprach sie nicht mehr von endlosen Krankenhausfluren, sondern Gangways und Laufstegen, die wie Planken in einem Ozean von Gesichtern endeten.

Für die Stones war es genauso schwierig, sich mit dem Ruhm und der Kompetenz ihrer Tochter abzufinden, wie damals, als sie Krankenschwester geworden war. Sie heuchelten Stolz und fühlten sich dabei unbehaglich. Als auf einer Reklametafel am Times Square das Gesicht der rauchenden Lilith plakatiert wurde, machten die Stones einen Ausflug dorthin. Sie standen vor dem Plakat wie irgendwelche Touristen und gafften hoch, bis Bucky sagte: »Jedenfalls sieht sie keinem von uns ähnlich. Vielleicht hat man sie ja auf der Säuglingsstation verwechselt.«

»Nein«, erwiderte Vlado, der darüber offensichtlich auch schon nachgedacht hatte. »Sie hat mein Zahlengedächtnis. Sie hat das absolute Gehör, auch wenn sie nie davon Gebrauch macht. Das ist Beweis genug.«

Und dann fügte er selbstgefällig hinzu: »Und meine Haare.«

»Ich wusste gar nicht, dass du so eitel bist«, sagte Bucky überrascht. Vlados Selbsteinschätzung war rührend und richtig. Sein blondes Haar hatte sie früher angemacht. Aus lauter Sentimentalität tätschelte sie seinen dünnen Oberarm.

Einige Wochen nachdem Lili auf dem Cover der Vogue erschienen war, änderte sich ihr Verhalten gegenüber ihrem Mentor. Sie war nicht mehr so nett zu ihm. Sie machte sich über die Lichtung in seinen roten Locken lustig, einem leuchtenden Fleck auf seinem Hinterkopf, den sie eine »Plakette der Sterblichkeit« nannte. Sie stippte die Enden eines der makellosen weißen Schals, die seine marineblauen Anzüge abrundeten, in Rotwein. Die Schals waren seine weißen Flaggen, mit denen er den Kerlen, für die er schwärmte, seine Kapitulationsbereitschaft signalisierte, und er geriet in Panik, wenn einer der Schals schmutzig wurde. Lili kaufte ihm neue, und seine Augen strahlten vor Glück, als er sich bei ihr bedankte.

Täglich versicherte sie ihm: »Du bist der wichtigste Mensch in meinem Leben.«

»Und du in meinem«, antwortete er.

»Außer Duke«, sagte sie und beobachtete, wie er seine Gekränktheit unterdrückte. Sie hatte herausgefunden, dass gelegentliche Kränkungen die Liebe anheizten. Heaps war ihr erster wirklich guter Freund. Sie schwelgte in den Annehmlichkeiten ihres Ruhms: der kniefälligen Bewunderung und dem ohne Rückfragen immer verfügbaren Geld. Sie zählte es nicht. Sie kaufte sich einen Nerz, und wenn noch etwas übrig war, kaufte sie noch einen. Und noch einen. Sie besaß zehn Nerzmäntel, in jeder Länge und jedem Stil. Sie trug sie überall zu allem. Bis zum heutigen Tag wird Lilis Name damit verbunden, dass sie als erster Mensch auf Erden einen langen Nerzmantel über einem schlabberigen Tank Top und abgeschnittenen Blue Jeans trug. In diversen Frauenmagazinen machte das Schlagzeilen. Niemals wurden in diesen Gazetten die Eltern des Models erwähnt, von denen nur wenige Amerikaner etwas gehört hatten. In der Öde des Landesinneren würde man allenfalls fragen: »Bucky WER?«

Als Duke merkte, dass ihr Erfolg sie gleichzeitig immer abhängiger von ihm machte, legte sich seine Angst davor. Sie erklärte es ihm – anders, als die meisten Leute glauben, ist das professionelle Schönsein Knochenarbeit, Wolgasklavenschinderei. Man bekommt natürlich viel Zustimmung, muss aber auch stundenlang stillsitzen, während das eigene Gesicht sich in etwas verwandelt, das es in Wirklichkeit nicht ist, und dann wirst du herumgeschubst und angestarrt, während du dich entspannen sollst. Entspannst du dich nicht, ist alles für die Katz gewesen, also wirfst du eine Beruhigungstablette ein, aber wenn die Wirkung nachlässt, bist du erst recht nicht entspannt. Die Anerkennung durch Fremde befreit einen nicht von diesem furchtbaren Druck. Du brauchst jemanden um dich, den du liebst.

Je mehr man ihre Schönheit lobte, desto mehr ärgerte es Lili, wenn jemand sie übersah. Eine sehr kurze Zeit lang machte Duke sich über jede Unvollkommenheit lustig, die er entdecken konnte, von einem unspektakulären kleinen Pickel auf dem Rücken bis hin zu den Ohrläppchen, die eine Spur zu lang seien, wegen ihrer schweren Ohrringe, wie er sagte, sodass sie »afrikanischer« aussehe als er selbst. Sie akzeptierte sein Urteil, bekämpfte den Pickel und trug kleinere Ohrringe.

Eines Tages schoss Duke ein Foto von Lili, wie sie eine Tomatensuppe aß, mit vollen Backen, den Blick konzentriert auf den nächsten Löffel, einen Klacks Suppe am Kinn. Zu seiner Überraschung riss sie ihm die Kamera aus der Hand und warf sie aus dem Fenster im vierten Stock. Ein Engel lenkte sie einige Millimeter am Kopf eines alten Mannes vorbei, sodass sie auf dem Bürgersteig zerschellte.

Duke schämte sich. Seine Frau, ob jetzt Lili oder Lilith, ehrte ihn mit ihrer Liebe und ihrer Gegenwart. Nie wieder würde er etwas an ihr in Frage stellen. Von jetzt an wollte er der perfekte Ehemann sein. Er begriff, dass kein Kompliment überflüssig war und keines eins zu viel. Ihr Stolz war noch nie so zerbrechlich gewesen.

Sie lobte sich selbst. Schönheit sei »die größte aller Begabungen«, die einzige, für die man keine Muse benötigte, und er stimmte ihr begeistert zu. Sie ließ sich einen Umhang schneidern, nach einem Madonnenbild von da Vinci, »Die Jungfrau auf dem Felsen«, ein orangefarbenes Gewand mit dunkelblauem Futter. »Da Vinci ist dein Designer!«, sagte Duke.

Lili sorgte für Schlagzeilen, als sie in dem Gewand im Club 21 erschien, eine mondgesichtige, brachycephale Puppe in den Armen, die ein Fan ihr zugeschickt hatte. Stumm und ausdruckslos saß sie da, sah die Puppe an und trank Wodka. »Ich sehe aus wie die Mutter Gottes«, wurde sie zitiert. »Nur mit dem Unterschied, dass sie auf den meisten Bildern ganz belanglos aussieht. Hohl. Die Leute verwechseln Leere mit Güte. Wahre Schönheit ist weder gütig noch hohl.« Darüber musste Duke erst einmal nachdenken. Die Bemerkungen sorgten für Unmut in der Modeindustrie, einem Schutzgebiet vor dem Halligalli des weiblichen Intellekts. Die Boulevardpresse verbreitete das Bild.

Stanley Heaps hatte alle Hände voll damit zu tun, Liliths Verträge aufzustocken. Dafür musste er jede Menge Überzeugungsarbeit leisten, mit falschen Versprechen locken, denen seine Lieblingsklientin niemals zugestimmt hätte. Jedes kleine Mädchen wollte auch so eine Puppe haben, Tausende davon wurden verkauft, aber niemand bedankte sich bei Lili für ihre PR-Arbeit. Stanley bestellte sie stattdessen in sein Büro und berichtete ihr hinter verschlossener Tür von dem Aufruhr, den sie verursacht hatte. Lili nannte ihn einen »Feigling« und fegte alles von seinem Schreibtisch, eine Geste, die ihr aus Filmen vertraut war und die sie schon immer mal hatte ausprobieren wollen. Lili sah zu, als Stanley alles aufsammelte und seinen Tisch wieder ordnete. Die Schreibmaschine hatte keinen Schaden genommen. »Lilith, ein Model muss mysteriös sein. Ein Rorschachtest. Je mehr man über dich weiß, desto geringer dein Wert. Die Zeitschriften stellen keine Models ein, sondern Firmen.«

»Duke, dass wir verheiratet sind, muss in die Presse«, erklärte Lili zu Hause. »Ich sehe uns als das ›Große Amerikanische Paar‹. Und jetzt musst du posieren lernen.« Sie führte Duke sein Bild im Flurspiegel vor.

Er sah es an und sagte: »Was soll damit sein? Ich weiß, wie ich aussehe.«

»Wenn du könntest, hättest du am liebsten überhaupt kein Aussehen und wärst unsichtbar«, staunte sie. »Nimm bitte die Brille ab.«

»Nein«, erwiderte er. »Das mache ich nicht.« Er floh.

Er hasste Spiegel. In seinem Fall wussten sie zu viel. Sie erkannten den schwarzen Mann in ihm, den er nicht mehr sehen wollte.

Jenseits ihrer Schlafzimmertür, der Treppe und des Stadtzentrums, am anderen Ende der Stadt, lag der Schah danieder. Er hatte Krebs. Als er ein paar Wochen vor diesem schicksalhaften Sonntagnachmittag nach New York gekommen war, standen alle Türen weit offen. Solange er die Kosten seines Aufenthalts aus eigener Tasche zahlte, konnte man ihm die Gastfreundschaft nicht verwehren. Als zahlende Gäste nahmen der Schah und sein Gefolge einen ganzen Flügel der nobelsten Universitätsklinik in Beschlag. Kranke wurden umgebettet. Die New Yorker meckerten nicht darüber. Sie interessierten sich mehr dafür, was denn nun genau mit dem Patienten los war.

Lilith, das berühmte Model, hatte den allgemeinen Schrei nach Neuigkeiten vernommen. Sie rief ihren alten Freund Dr. Mays an. Sie aßen im Krankenhaus zu Abend wie in den guten alten Zeiten. Er konnte sein Glück kaum fassen, als sie ihm erzählte, dass sie sich an seinen Penis erinnere, und dessen Farbton und spektakuläre Proportionen beschrieb. Sie hatte nichts gegen eine neuerliche Begutachtung.

Durch diesen nicht unbesungenen Krankenhausbesuch wurde Lili für ihre Eltern interessant – sie besaß Insiderinformationen über den Schah, er hatte Waldenströms Makroglobulinämie, eine Form des Hodgkin-Lymphoms, die ihn wahrscheinlich nicht sofort dahinraffte; er sorgte sich mehr wegen seines Haarausfalls infolge der Chemo; sie hatten ein straff sitzendes Kopfband für ihn konstruiert, damit die in seinem Körper zirkulierenden Medikamente nicht zu seinen Haarwurzeln durchsickerten. Die Herrscherin, die Schahbanu, hatte darauf bestanden, obwohl das Band so scharf wie eine Dornenkrone war. Aber auch das würde ihn nicht umbringen. Das eigentliche Problem war auf seinen Lebenswandel zurückzuführen: Er hatte sich Hepatitis eingefangen, und seine Leber war im Eimer.

Als Lili ein paar Tage darauf die Neuigkeit hinterherschob, dass man einem Mädchenschwarm aus Hollywood soeben eine Gurke aus dem Rektum entfernt hatte, war die Upper West Side angenehm schockiert. Selbstverständlich erklärten alle, dass diese Nachricht dämlich sei, doch sie gaben sie weiter, als kleine Münze einer höflichen Konversation. Es war eine dieser langen, dünnen, aus Europa importierten Gurken gewesen.

»Der Arzt vom Schah hat auch Vlados Steißbeinfistel behandelt«, berichtete Bucky. War das angeberisch? »Er hat uns einen Sonderpreis gemacht. Er stammt aus Island!«

»Was hat das gekostet?«, fragten die anderen. »Inklusive Anästhesie? Wo hat der Chirurg studiert? Doch hoffentlich nicht in Reykjavik?« Sie fanden Vlados Problem interessanter als das des Schahs.

Wie Kreuz- und Schulterschmerzen war die Steißbeinfistel die Rache der Schwerkraft dafür, dass man seinen Geist in alle Richtungen schweifen ließ, während man den Körper einem harten Stuhl preisgab. Selbst ein Lastwagenfahrer gibt seinem Hinterteil ein paar Tage frei. Die erste Erfahrung mit bitterem Schmerz und Hilflosigkeit legte einen Schalter um in Vlados Gehirn – er erwies sich als Heulsuse und nahm einen Monat lang Schmerztabletten, und die hielten ihn vom Komponieren ab. Er hasste den Anblick seiner eigenen großen Hand, wenn sie ihm den entwürdigenden Sitzkringel unterschob, den er benötigte, sobald er sich hinsetzte, und sei es nur zum Essen. »Selbst für einen Takt Musik bin ich zu schwach«, schluchzte er. Es war kein Trost, dass vor allem junge Leute zwischen fünfzehn und zwanzig Jahren eine Steißbeinfistel bekamen, Männer zumeist, es war eine männliche Krankheit, und dass der Patient daraus schließen konnte, entweder eine bemerkenswerte Ausnahme oder immer noch jung zu sein. In Vlados Fall schien der Schmerz alle Komplimente zu entwerten.

Sein neuer Psychiater Dr. Goldberg verschrieb ihm mehr Pamelor und ermutigte ihn, sich bewusst zu machen, dass Bucky sich über seine Krankheit irgendwie freute. Nicht aus Gehässigkeit, sondern weil er ihr einen Dienst erwies und ein abscheuliches Terrain sondierte – er war ein Jahrzehnt vor ihr sechzig geworden und dann fünfundsechzig, und nun erforschte er das Invalidendasein.

Bucky dachte auch an einen ganz anderen Weg, den sie mit ihm zusammen erkunden wollte. Ein Königreich braucht eine Dynastie. Bucky war es leid, um den Fortbestand ihrer Macht zu kämpfen. Die Stones hatten ihren guten Namen an ihre Tochter weitergereicht; so sehr daran gewöhnt, machte sie sich nicht viel daraus.

Jedes Jahr marschierte eine Brigade cleverer junger Leute an die vorderste Front, und sie rempelten sich gegenseitig an, während sie die ältere Garde bedrohten und sogar offen attackierten. Nichtbeachtung war die einzige taugliche Waffe, aber irgendwann wurde sie stumpf. Vor langer Zeit war Bucky eine von ihnen gewesen, und sie hatte nie aufgehört, sich selbst als junge Aufsteigerin zu betrachten. Sie hatte es fertiggebracht, ihren fünfzigsten Geburtstag zu ignorieren. Nicht einmal um die routinemäßige Instandhaltung ihres Äußeren hatte sie sich geschert.

Stattdessen hatte sie sich an gelegentliche Komplimente geklammert, wie jung sie doch aussehe, keinen Tag älter als dreißig, und daran geglaubt. Aber die in ihre Biographie eingebrannte Zahl sechzig war unwiderruflich. Sie würde sich nicht ewig an ihrem Intellekt erfreuen können. Schon jetzt fand sie ihre Einfälle weniger berauschend als früher. Während ihr einst die Ideen zugeflogen waren und die Hauptaufgabe darin bestanden hatte, sie in die richtigen Bahnen zu lenken, tröpfelten sie jetzt nur noch von Zeit zu Zeit und ohne jede Kraft herein. Der Hauptmotor, der die Ideen angetrieben hatte, war Ehrgeiz, und der war hin. Aber dann kam ihr ein neues, eher konventionelles Projekt in den Sinn, das auch die Nachkommenschaft und die Statuserhaltung betraf.

Es war Herbst geworden. Der Schah regenerierte sich in einer Villa auf Long Island. Ein neues Schuljahr begann. Der Preis einer Gallone Benzin schnellte von den allseits beliebten rund fünfundsechzig Cent, einem Drittel des Preises für eine Gallone Milch, auf empörende fünfunneunzig Cent. Eines Abends berichtete Lili auf einer Party, dass sie bei einem Besuch in ihrer einstigen Wirkungsstätte, dem Krankenhaus, von einer neuen Krankheit gehört habe, die schon bald Schlagzeilen machen würde, weil sie viel, viel schlimmer sei als alles bisher Dagewesene, viel schlimmer als jeder Tripper, es gebe kein Heilmittel, und man stecke sich einfach durch Sex damit an. Die Leute feixten, und Lili stimmte mit ein – selbst im Krankenhaus, wo sie davon gehört hatte, würden die Ärzte und Krankenschwestern sich aufführen wie wild gewordene Kaninchen.

Für kurze Zeit erlebte Bucky eine Glanzzeit. Ihr bahnbrechender Essay über den Zusammenhang zwischen Leere und Reinheit in den Madonnendarstellungen aus mehreren Jahrhunderten der Kunstgeschichte war erschienen, eine Erweiterung von Lilis skandalträchtigen Äußerungen über da Vinci. Er war mit Bildern geistig zurückgebliebener Patienten und berühmter Marienjungfrauen illustriert. Buckys Wagemut, die Wahrheit zu erkennen und sie auszusprechen, war eine Sensation, in New York und in Europa. Als der Aufruhr sich legte, wie es jeder Aufruhr unweigerlich tut, ließ Bucky einen Essay folgen, in dem sie den Prozentsatz – siebenunddreißig Prozent – der täglichen Fernsehsendezeit, in der es entweder um Mutterschaft oder um Kriminalität ging, mit dem Prozentsatz – achtunddreißig Prozent – repräsentativer Gemälde im Louvre verglich, die sich entweder dem Säugen oder der Geiselnahme widmen.

Diesmal horchte auch die amerikanische Presse landesweit auf. Bucky wurde geschmäht und gepriesen, es war ein einziges rauschendes Fest zu ihren Ehren.

Dann stahl ihr plötzlich der Schah die Show. Unschuldige Amerikaner waren in einer Botschaft in Teheran als Geiseln genommen worden und sollten bis zur Auslieferung des Schahs an sein Volk in Gefangenschaft bleiben. Eine Welle kollektiven Zorns brandete aus dem restlichen Land herüber und schlug über Manhattan zusammen. Kultivierte Menschen erkannten in den Iranern das Böse, den Feind. Es war alles schrecklich aufregend. Gleich nach dem Aufwachen stellten die Leute das Radio an, um das Neueste zu erfahren, und rannten aus dem Haus, um mehrere Zeitungen zu kaufen; man brauchte so viele Berichte über die Ereignisse wie irgend möglich, und abends gab es gar keine Diskussion darüber, was man sich anschaute: die Nachrichten.

Therapeuten machten Überstunden wegen der Ängste der Menschen. Bei allen stand die Vaterlandsliebe obenan. Das Geistesleben war weniger wichtig. Buckys Absturz aus dem Interesse der Öffentlichkeit war jäh und qualvoll. Als sie abfällige Bemerkungen über den Schah machte, wie in Europa jeder denkende Mensch, ignorierte man sie. »Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, unser Land zu kritisieren«, fertigte ihr Verleger sie ab. Seine leidenschaftliche Überzeugung hatte seine chronische Furcht vor Buckys spitzer Zunge abgeschwächt. Bucky wehrte sich nicht. Sie kam sich erledigt vor. In der Öffentlichkeit, bei einer Podiumsdiskussion, gab sie zu, dass die Zeiten sich geändert hätten. Insgeheim war ihr klar, dass sie ihr Leben ändern musste. Als sie eines Nachmittags zufällig im Aufzug ihren Schwiegersohn traf, teilte sie ihm ihren Entschluss mit. »Es wird höchste Zeit, dass ich Enkel bekomme.«

Schwarz und Weiß

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