Читать книгу Schwarz und Weiß - Irene Dische - Страница 7
Ziviles Durcheinander
ОглавлениеAn diesem Abend nahm Duke leise seinen Koffer aus der Diele und wanderte an den Felswänden von Bücherregalen vorbei zum Gästezimmer. Eine Stunde verging, in der die Stones dem Ticken ihrer Armbanduhren lauschten. Das Telefon wollte nicht klingeln. Ihr Gast machte nicht das leiseste Geräusch. Sie ließen sich im Wohnzimmer nieder und schlugen Bücher auf, doch die bedruckten Seiten kamen nicht an gegen das Kampfgetümmel des wirklichen Lebens. Die Stones waren, was selten vorkam, gelangweilt.
Eine wichtige Information für Nicht-New-Yorker: Eine dreiköpfige Familie wie die Stones hat nicht drei, sondern sechs Mitglieder, weil jedes Mitglied rund um die Uhr von einem unsichtbaren Therapeuten begleitet wird, einem Vertrauten, auf den man sich beruft und den man zitiert und der so an allem beteiligt ist, an jedem Zerwürfnis, jedem Kuss und jedem Gespräch. An Dukes erstem Abend in New York war Vlados Therapeut nicht mehr anwesend, da Vlado ihn gefeuert hatte. Die Einheit war instabil. Duke konnte sie festigen. Doch wieso kam er nicht zum Essen?
Schließlich stürmte Lili ins Gästezimmer. Die unbewachte Tür sprang auf, und Lili fand ihren Gast in der Mitte des Zimmers, vor Anker gegangen, den Blick auf das offene Fenster gerichtet, das den Hudson einrahmte und den grünen Horizont von New Jersey. Für eine so malerische Aussicht, die von den Gästen ausnahmslos gerühmt wurde, musste man schon damals viel Geld hinblättern.
»Wie gefällt dir die Aussicht?«, fragte Lili scheu.
Er drehte sich prompt zu ihr um, als hätte er nur auf diese Frage gewartet, und Lili sah, dass er noch nicht ausgepackt hatte.
»O nein!«, schluchzte sie. »Du bleibst nicht? Gefällt es dir nicht?« Derart dramatische Töne hatte sie sich noch nie erlaubt. Das Zimmer war ihr immer gleichgültig gewesen, wie alle anderen Zimmer auch, aber Dukes Anwesenheit hatte es in einen erhabenen Raum verwandelt: Bald würde er auf dem altmodischen Einzelbett liegen. Der rustikale Schreibtisch konnte ausgetauscht und sofort zum Müllplatz gekarrt werden, falls er Duke nicht gefiele. Das Chintzsofa wiederum war wie für sie beide gemacht. Überquellende Bücherregale bedeckten die Wände – dort standen die anspruchslosen Bücher, die Bucky aus den anderen Zimmern verbannt hatte, aber durch Dukes Anwesenheit verwandelten sie sich in einen hübschen Zimmerschmuck.
»Nein, es gefällt mir«, versicherte er. »Aber ich sollte nicht hierbleiben. So ein Quartier wird doch gebraucht.«
Er gab nicht zu, dass er am liebsten gleich gehen wollte, um nicht noch weitere derart exotische Situationen zu erleben. Sie wären bloß schmerzhaft. Er gehörte nicht hierher.
»So etwas Lächerliches habe ich noch nie gehört. Ja, dieses ›Quartier‹ wird gebraucht. Du brauchst so was.« Das Wort »du« war auf einmal kostbar, und ihre Stimme vibrierte vor Zuneigung. Sie wollte es immer wieder sagen. »Du«, »du«, »du«, aber stattdessen sagte sie: »Komm, essen wir was. Bucky hat sich richtig ins Zeug gelegt.«
Essen aus dem Deli. Bucky hatte den Tisch gedeckt und das Tafelsilber in der Mitte verstreut. Duke ging um den Tisch herum, um es ordentlich hinzulegen, während die Stones, die schon Platz genommen hatten, ihre Teller beluden. Ihre glühenden Zigaretten verstärkten die Lagerfeueratmosphäre. Duke setzte sich und nahm eine kleine Portion. Das Wortgefecht begann.
»Steve wird Johns und Yokos neues Album verreißen«, verkündete Bucky. »Er sagt, es ist monumentaler, selbstherrlicher Kitsch. Texte auf dem Niveau von Kinderliedern. Nächste Woche sind wir zusammen mit den Lennons auf einer Party. Niemand wird ihnen in die Augen schauen können«, stöhnte sie.
»Wir können doch Lili hinschicken!«, schlug Vlado vor. »Dann fühlen sie sich gleich entspannter.«
Lili reagierte nicht darauf. Duke lächelte.
Bucky erklärte es ihrem Gast: »Lili ist unsere Spezialistin für Süßholz und Smalltalk.«
Dukes Lächeln war wie festgezurrt.
Bucky fuhr fort. »Gestern hat sie den neuen Concierge gefragt, wie viele Kinder er hat. Wir waren in Eile. Warum diese Frage? Warum? Ich wusste, jede Antwort hätte sie begeistert. Sie hätte seine Weisheit gelobt, keine Kinder zu haben, oder die Weitsicht, nur eins, oder das sagenhafte Glück, der Vater von fünfen zu sein.«
Lili aß ungerührt weiter.
»Und jetzt kommt’s«, sagte Bucky. »Er hatte sein Portemonnaie rausgeholt und zeigte uns die Fotos, die Leute klingelten nach dem Aufzug und mussten warten, während Lili die Fotos bewunderte.«
Lili erwachte zu Leben. »Nächste Woche tritt Elvis in New York auf«, sagte sie zu Duke.
Seine Augen leuchteten auf, endlich verstand er etwas.
»Noch ein Musiker, der auch in der Armee war«, sagte Lili und nickte Duke zu.
»Da höre ich lieber Dukes Trompete«, bemerkte Bucky. Allgemeines Gelächter. Lili drehte sich von Duke weg.
»Elvis’ Musik ist so viel einflussreicher als deine!«, sagte Lili Vlado brutal auf den Kopf zu. »Und viel interessanter. Deine Musik langweilt mich. Und ein einziger guter Comic begeistert viel mehr Menschen als alle Bücher von Bucky zusammen.«
Die Stones konzentrierten sich auf den überraschenden Angriff. Sie kauten und rauchten nicht einmal mehr. Sie hatten keine Verteidigungsstrategie. Schließlich sprang Bucky auf und rief: »Wir haben keine Gläser.« (Sie fand ein paar im Bücherregal.) Duke lächelte den abgetretenen Perserteppich unter dem Tisch an.
Bucky setzte sich wieder hin, weil ihr ein Gegenangriff eingefallen war. »Lili, wenn du nach der Beliebtheit gehst – die Met ist fast immer ausverkauft, bei viertausend Plätzen.«
»Die New York Mets spielen vor fünfzigtausend«, sagte Lili gelassen.
Duke schaute jetzt wieder auf und lächelte noch immer. Vlado versteckte sich hinter seinem Rauchvorhang.
»Schluss jetzt«, sagte Bucky. »Ich habe eine Idee. Ihr beide könntet doch morgen Abend in die Oper gehen. Ich habe zwei Karten für Turandot. Ist seit sechs Monaten ausverkauft.«
»Duke war noch nie in der Oper«, warnte Lili. »Stimmt doch, oder? Höchstens in der Grand Ole Opry?«
In diesem Moment sah Vlado Duke zum ersten Mal an. »Wirklich wahr?«
»Wirklich wahr?«, fragte Bucky.
Duke schüttelte den Kopf. »Nein. Noch nie.« Er schämte sich etwas.
»Ich beneide Sie«, sagte Vlado. »Die Ruhe, der Frieden …«
»Ich beneide Sie«, sagte Bucky. »Sie werden überwältigt sein. Ich wünschte, ich könnte mit Ihnen tauschen, ehrlich. So was zum ersten Mal zu hören! Und zwar als reifer Erwachsener, nicht als dummes kleines Kind. Das hätten wir mit Lili auch machen müssen. Wir haben dich völlig falsch erzogen!«
Lili war ganz ihrer Meinung.
Eine der Tragödien im Leben der Reichen und Berühmten ist es, dass sie nicht begreifen, wie sehr ihr gesellschaftlicher Rang ihre Kinder belastet. Die Armen wissen es, die Unterdrückten wissen es: Sie verstellen sich vor ihrem Nachwuchs und tun so, als gehörten sie zur Mittelschicht. Die Reichen und Berühmten sollten ihrem Beispiel folgen. Als Tochter der Stones war Lili ernstlich benachteiligt. Einer ihrer liebsten Tagträume als Kind war der, dass Daddy ein Lehrer wäre oder ein Handwerker und Mommy eine Hausfrau mit Lockenwicklern im Haar und Fertigessen im Backofen. Tatsächlich nannte Lili ihre Eltern seit dem Kindergartenalter Bucky und Vlado, weil sie gemerkt hatte, dass sie auf »Mommy« und »Daddy« nicht reagierten. In Lilis Phantasie konnten sie nur Englisch sprechen. Und ihr Familienname war wirklich einfach Stone, nicht Sztejn.
Lili hatte ihre Eltern ebenfalls enttäuscht. Sie hatten ihren Intellekt als selbstverständlich vorausgesetzt, während sie mit dem eigenen beschäftigt waren. Keine Frage, dass ein zartes blondes Mädchen im Alter von drei Jahren lesen und schreiben konnte. So wie es bei ihnen selbst gewesen war. Mit vier kam Lili in einen teuren Kindergarten und lernte die Grundlagen des Schachspiels; mit fünf schlug sie ihren Vater, was ihn tatsächlich sehr ärgerte. Mit sechs traktierte sie ihre Eltern so lange, bis sie ihr einen Wellensittich kauften. Sie nannte ihn »Mommy« und weigerte sich, die Namenswahl zu erklären. Es folgten Mäuse, Rennmäuse, Hamster, Kaninchen, die sie alle »Mommy« oder »Daddy« taufte. Die Tiere schenkten Lili stets ihre ungeteilte und unkritische Aufmerksamkeit, sie waren weich, flauschig, dumm und immer für sie da. Und sie vermehrten sich. Das stumme chinesische Hausmädchen Wei Wei munterte sich selbst mit Liedern, alles Hymnen aus der Kulturrevolution, auf, wenn sie Lilis Zimmer sauber machen musste. Einmal die Woche schlug sich ein Psychiater mit ihrem Unterbewusstsein herum.
Lili passierte die üblichen Meilensteine weit vor der Zeit und wurde mit vierzehn auf dem Parkplatz einer amerikanischen Pubertät abgestellt. Sie wurde pummlig und picklig. Die Tiere starben nach und nach, und die Stones waren froh, dass sie die Viecher wieder los waren. Sie erwarteten, dass Lili mit dem Komponieren oder dem Schreiben anfing oder sich für Politik interessierte – Vlado hatte sie nach Lili Boulanger benannt, die sich allen drei gewidmet hatte und jung gestorben war. Lilis verheißungsvoller Name gab ihm das Gefühl, alles in seiner Macht Stehende für sie getan zu haben.
Schönheit war keine Tugend, die man in der Familie Stone erwartete oder erhoffte, aber Hässlichkeit war dann doch noch einmal eine ganz andere Sache. Die Tatsache, dass Lili so unattraktiv war, verunsicherte ihre Eltern. Sie sprachen mit ihren Therapeuten darüber und sondierten Fragen verletzter Eitelkeit – schließlich war es ihnen nicht gelungen, ein Wesen nach ihrem Bilde zu schaffen. Nur ihr Haar war schön, voll und blond. Doch auf wohlmeinende Komplimente von Erwachsenen in diese Richtung reagierte sie drastisch. Vor dem Badezimmerspiegel stutzte sie sich selbst die Haare. Missfiel ihr eine Strähne, schnitt sie gleich noch ein paar mehr ab. Als feststand, dass sie kurzsichtig war, suchte sie sich die klobigste und hässlichste Männerbrille aus, die sie finden konnte. Die Gläser bedeckten ihr halbes Gesicht; sie sah albern damit aus. Die Stones beschwichtigten sich selbst: immerhin war sie belesen und klug.
Eines Tages kam Lili aus der Schule und erklärte, ihr sei jetzt endlich klar, was sie einmal werden wolle. Mutter und Vater und ein Haufen desinteressierter Besucher hörten mit halbem Ohr hin; na, was denn – eine Intellektuelle wie Mom oder ein Künstler wie Dad?
»U-Bahn-Fahrerin!«, rief sie begeistert und verwandte nun ihre Intelligenz darauf, sich das Liniennetz von New York einzuprägen. Lili Stone wurde eine virtuose Kilometerfresserin. Sie konnte einem wie aus der Pistole geschossen den allerumständlichsten Weg zu jedem beliebigen Ziel beschreiben. Ihre Studien führten sie durch sämtliche Bezirke. Ihre Beziehung zu Wei Wei intensivierte sich.
Auf dem Weg zum Psychiater versicherte Wei Wei Lili, dass in ihrem Kopf nichts in Unordnung sei, was ein paar Wochen Arbeitslager nicht beheben könnten. Als sie einmal zusammen einkaufen gingen, murrte Wei Wei über den gestiegenen Preis für ein Pfund Hühnerfleisch (einunddreißig Cent) und ließ ein ganzes Huhn in ihrer Handtasche verschwinden. »Ein Schnäppchen«, lobte sie sich beim Auspacken in der Küche selbst. »Gratis.« Lili stellte sich vor, dass die schlichte, unauffällige Chinesin in Wirklichkeit ihre Mutter sei und Bucky unfruchtbar. Als ihr klar war, dass Wei Wei einen Sohn hatte, zu dem sie jeden Abend nach Hause fuhr, glaubte Lili, dass Wei Wei zwar mit dem blöden biologischen Balg festsaß, aber in Wirklichkeit sie bevorzugte.
Dr. MacBride stand auf verlorenem Posten, denn für fünfundzwanzig Dollar die Stunde, inzwischen zweimal die Woche, erzählte Lili ihm ausschließlich von Liniennetzen, Popmusik und Wei Weis Überlegenheit. Öfter als über die eigenen Eltern sprach sie über Wei Weis; sie waren reiche Kapitalisten gewesen und hatten ihren letzten Yuan geopfert, damit ihre minderjährige Tochter nach Hongkong fliehen konnte, bevor sie selbst zur Umerziehung in die Laogai-Arbeitslager geschickt wurden, wo sie sich an den Händen fassten und gemeinsam in einen Mähdrescher sprangen. Das war Liebe, das war Courage.
In der Schule gab Lili sich alle Mühe, keine guten Noten zu bekommen. Sie weigerte sich, ihre Hausaufgaben zu machen; ihre Lehrer weigerten sich, sie durchfallen zu lassen, zum Teil, weil Lili ihre eigenen wohlkalkulierten Pläne sabotierte. Als sie in Mathe einmal in einem Archie-Comic blätterte, packte der Lehrer sie von hinten, doch Lili musste nur kurz zur Tafel gucken, um die Gleichung zu lösen, ehe sie sich wieder ihrem Comic zuwandte. Die Rektorin durchschaute Lili und forderte sie auf, schon mit fünfzehn am Hochschultauglichkeitstest teilzunehmen. Lili wollte ihre Antworten nach dem Zufallsprinzip verteilen, aber die kniffligen Fragen weckten ihre Neugier und brachten sie dermaßen aus dem Konzept, dass sie die höchste Punktzahl erreichte. Sie wurde mit Briefen der Ivy League-Colleges überhäuft, die allesamt um ihre Gunst buhlten. Lili warf sie in den Mülleimer. Wei Wei fischte die Briefe heraus und überreichte sie Bucky, die Antwortschreiben aufsetzte, in denen sie die Einladungen zum Vorstellungsgespräch annahm.
Die drei Therapeuten der Stones brüteten über dem Problem, doch am Ende stellten Vlado und Bucky selbst die Diagnose – Lili ging es zu gut; ihr fehlte die schmerzliche Erfahrung ihrer Eltern, die während der Wirtschaftskrise aufgewachsen waren. Sie ließen ihre Beziehungen spielen und verschafften Lili einen Sommerjob in Ostafrika. Schocktherapie. Das wahre Leid kennenlernen und aufhören, über ihre eigene kümmerliche Version davon zu grübeln. Sie assistierte bei einem Forschungsprojekt über Bilharziose und verbrachte Zeit mit den Verdammten dieser Erde. Sie nahm ab. Die Stones ahnten nicht, wie schief das Ganze gehen würde. Im September kam Lili zurück, endlich mit Normalfigur, wortkarg, brav, und schrieb sich am College für Chemie ein.
In Harvard konnte sie allein schon durch Nennung ihres Namens Freunde gewinnen. Lili Stone. Irgendwie mit dem Komponisten verwandt? Ihr Vater. Irgendwie mit der Essayistin verwandt, die man auf den Schutzumschlägen ihrer Bücher zur »Mutter Empörung« salbte? Ihre leibliche Mutter. Lili hasste diese Verbindungen und hielt sich getreulich an diejenigen, die aufrichtig an ihr interessiert zu sein schienen und nicht an ihrer Familie – ihre einzigen Freunde waren kleine College-Angestellte. Sie war viel jünger als die anderen Studenten und wirkte auch so, mit ihrem kindlichen Gesicht, ihrer sehr flachen Brust. Ihre schwere schwarze Brille baumelte auf der Nase. Ihre monotone, sackartige Kleidung aus dickeren Tagen machte sie fast unsichtbar. Ein Witzbold gab ihr den Spitznamen Gray Girl. Nur ihre sehr guten akademischen Leistungen übersah niemand.
Sie war viel stolzer auf ihre anderen Heldentaten: Sie konnte sich jeden Geburtstag merken und konnte die ganze Nacht mit der Bibliotheksgehilfin palavern und ein psychisches Problem lösen, indem sie es mit Gerede aufpumpte, bis es platzte wie ein Eiterbläschen.
Als sie zu Besuch nach New York kam, wurde sie von Wei Wei geknuddelt. Ihre Eltern stichelten: für Naturwissenschaften, so hatten beide beschlossen, brauche man keine Phantasie. Lili verschrieb sich eine doppelte Arbeitslast aus Hochschulseminaren und Ferienkursen, damit sie in zwei Jahren das Examen machen konnte, kurz vor ihrem achtzehnten Geburtstag. Als bei der Examensfeier in Harvard ihr Familienname aufgerufen wurde, weil sonst niemand in Chemie mit summa cum laude abgeschlossen hatte, hielt sie sich die Hand vor den Mund und kicherte.
Während der ganzen Zeit in Harvard fühlte sie sich von etwas angezogen, das die Einheimischen »das echte Leben« nannten. Sie tauschte ihr Examen und ihre Talente gegen einen Platz in einer New Yorker Schwesternschule ein und lebte wieder zu Hause. Lilis Krankenhausgeschichten waren unterhaltsam, sofern sie die abstoßenden Details aussparte. Pflege erschien ihr nicht das Richtige zu sein. Sie beschloss, sich auf Notfallversorgung zu spezialisieren, und schrieb ein Referat mit dem Titel »Die Effizienz von TLC für die Patientengenesungsquote«. Bucky bat sie, ein anderes Wort als »Effizienz« zu nehmen; es sei so hässlich.
»Und gegen TLC hast du nichts?«, fragte Lili überraschend spitz beim Frühstück. »Das bedeutet nämlich ›Tender Loving Care‹ und ist kein Medikament. Dr. MacBride meint, genau davon hätte ich in meinem sogenannten Zuhause nicht genug bekommen. Wei Wei einmal ausgenommen.«
Der Rabatz hörte auf, als Lilis Vater das Thema wechselte und die Partitur zerriss, die er zum Porridge hatte lesen wollen. Vlado brachte immer Arbeit zum Essen mit, für den Fall, dass Bucky ihm auf die Nerven ging und er sich retten musste. Doch jetzt, da Duke mit am Familientisch saß, dachte Vlado nicht mehr an seine Hilfsmittel. Er war neugierig.
Das Abendessen verlief störungsfrei; die Stones waren froh, Wei Weis freien Tag gemeistert zu haben. Das chinesische Hausmädchen schützte sie seit Lilis Geburt vor den kleinen Belästigungen des täglichen Lebens, aber an den Wochenenden, Monat für Monat, Jahr für Jahr, ließ sie die Familie in ihrem Elend sitzen. Das Wochenende war ein Fluch. Mahlzeiten aus dem Restaurant oder dem Feinkostladen waren nur ein schwacher Trost.
Duke schmeckte das Essen gut. Er bat um Nachschlag. Was in seiner Heimat als Kompliment galt, war in New York schlicht unpassend. Was sollten Komplimente, wenn man gar nicht selbst gekocht hatte? Essensreste waren eine Lebensversicherung. Lili sprang Duke zur Seite und bat ebenfalls um Nachschlag. Er bemerkte seinen Fauxpas nicht, und Bucky entspannte sich. Der Abend war amüsant. Niemand kam auf den Krieg in Kambodscha zu sprechen; auch dafür war später noch Zeit.
Als Bucky einen abschließenden Kaffee servierte, bat Duke stattdessen um ein Glas Milch. Dieser Wunsch ließ ihn nicht kindisch erscheinen, sondern wie einen schwitzenden und erschöpften Arbeiter, der sich jetzt Kalorien reinschütten musste. Aber Duke schüttete nichts. Er nippte an der Milch, als sei sie heiliger Nektar. Die anderen rauchten und warteten, dass der Kaffee abkühlte. Ein Teller Löffelbiskuit wurde am Tisch herumgereicht, nach einer Runde stand Duke auf und bedankte sich entschlossen für »das wunderbare Essen«. Dann drehte er sich um. Er hatte angenommen, dass das Dessert gleichzeitig das Ende des Abends darstellte und es Zeit war, ins Bett zu gehen.
Lili füllte die von ihm hinterlassene Leerstelle, indem sie über ihn sprach. Sie wollte den gelangweilten Blick aus den Augen ihrer Eltern vertreiben. Er sei der Urururenkel von Thomas Jefferson, sagte sie und glaubte es selbst. »Wirklich!«, riefen ihre Eltern aus und beugten sich vor. Sie warnte, dass man das Thema nicht ansprechen dürfe, weil Duke der Niedergang seiner Familie sehr belaste. Die Familie habe hoch im Norden gelebt und sei mit jeder Generation weiter nach Süden gezogen, bis zu Dukes Geburt in Florida. Er sei in großer Armut aufgewachsen, ohne Schuhe und immer hungrig zu Bett. Die Verbindung zu Jefferson beschämte ihn nur. Aber eines Tages, prophezeite sie, würde er stolz darauf sein. Er müsste vorher nur einen Grund dafür finden.