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Der Eintritt

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Duke Butlers Leben als New Yorker begann im Juni 1972, an einem jener Tage, an denen die Bewohner der Stadt ihr die sadistischen Winterspielchen verziehen. Man stelle sich die Wirkung auf einen Neuankömmling vor, der die Schrecken nicht kennt – seidiger Sonnenschein, der Himmel so blau wie das Kleid der Madonna, eine verführerische und dennoch kühle Straße, ein Baum, der geduldig darauf wartet, Schatten zu spenden, das verheißungsvolle Läuten des Eisverkäufers. Selbst jemand, der die Wahrheit über New York kennt, gerät wegen eines solchen Augenblicks der Juniseligkeit ins Schwärmen.

Es war Sonntag. Die Geschäfte hatten geschlossen, Computer kosteten zwanzigtausend Dollar plus Steuern (da sie mehrere Kubikmeter groß waren, gab es sie aber sowieso nur in Laboren), die Leute benutzten Telefone mit Wählscheiben und fassten sich kurz, um die Kosten niedrig zu halten, sie trafen sich zum Rauchen und zum Trinken oder um auf irgendeiner Droge das Gaga-Land zu erkunden. Manche priesen die »Werte« im Unterschied zu den »Wertgegenständen« (Erstere waren unbeständig), der Widerstand gegen das politische Establishment hatte an Elan verloren, die sexuelle Revolution hatte ihre Kinder noch nicht gefressen. Patriotismus, die Religion des Abschaums, war in Manhattan noch immer verpönt.

Duke Butler, in einer prächtigen Armeeuniform in Olivgrün, ganze einundzwanzig Jahre alt, mit dunkelbrauner Haut, die ihn als »Schwarzen« kenntlich machte, stieg am Port Authority Terminal mit einem kleinen Gummikoffer aus dem Flughafenbus.

In seiner Hand war ein Zettel mit einem Namen und einer Telefonnummer, zwei Silben und sieben Ziffern, eine Inschrift auf dem Grabstein seiner Zukunft. Die Größe des Moments war ihm nicht klar, als er vor einem Münzfernsprecher stehenblieb. Ein Polizist starrte ihn an. Duke Butler, der unwillkürlich bemerkte, dass auch der Polizist dunkelhäutig war, überlegte, ob er irgendwas falsch gemacht hatte. Da er sich keiner Schuld bewusst war, bewahrte er die Ruhe. Er nahm die Brille ab, um die hingekritzelten Zahlen zu entziffern, steckte ein Zehncentstück in den Schlitz und wählte. Er sprach leise, mit Südstaatenakzent:

»Lili? Ich bin’s, Duke.«

Lili konnte ihre Freude nicht verbergen, als sie Dukes Stimme hörte. Er solle in ein Taxi springen und zu ihrer Wohnung auf der Upper West Side fahren – die Kosten zu erwähnen, kam ihr nicht in den Sinn. Sie sagte nicht »zur Wohnung meiner Eltern«, sondern »zu meiner Wohnung« – sie war ein Einzelkind.

Der Polizist wandte sich ab und studierte weiter die allgemeine Szenerie; einige Jahrzehnte später würden seine Kollegen mit Handschellen zurück sein.

Im Plastikportemonnaie aus Armeebeständen, das in Duke Butlers Uniformtasche steckte, befanden sich nur drei Dollar. Ein Taxi zog er also nicht in Betracht. Er marschierte fünfzig Blocks gen Norden und erschrak über die Rebellen, die bei Rot über die Straße rannten. Er selbst wartete an jeder Ecke und fühlte sich als Herr seines Schicksals, weil ihn seine eigenen Beine trugen. Er hatte Vertrauen in seine Füße, die den permanenten Vorwärtsdrang bestimmten, während sein Oberkörper in der eng sitzenden Jacke, der nackte, aufgerichtete Adamsapfel und die scharf geschnittene Nase stetig in die ihnen befohlene Richtung wiesen. Seine Füße in den glänzenden grauen Halbschuhen waren der Kopf der Operation.

100 Riverside Drive lag in einer Seitenstraße, am Fuß eines Hügels, an der Stadtgrenze – er sah die filigranen Bäume des Nordens auf der gegenüberliegenden Straßenseite und dahinter den breiten Rücken eines Stromes, auf dem das Sonnenlicht funkelte und Boote tanzten, und in der Ferne das ruhige, ländliche New Jersey. Das Gebäude an der Straßenecke wurde von einem uniformierten Mann bewacht. Er hatte einen Dienstgrad, den der Neuankömmling nicht kannte. Der Concierge wiederum traute weder der Uniform des Besuchers noch seiner Rasse. Er bestand darauf, die Erlaubnis der Stones einzuholen, bevor er – »Wie war der Name?« – einen »Gefreiten Butler« nach oben ließ. Duke hörte Lilis Stimme – »ja!« – durch die Gegensprechanlage. Er betrat die Lobby. Auf dem Marmorboden hallten seine Schritte, und kurz fragte er sich, ob er aus Versehen in einer Bank gelandet war.

Lili öffnete die Tür. Vlado und Bucky, ihre Eltern, waren gerade von einer Europareise zurückgekehrt. Als der Summer ertönte, baten sie die Tochter des Hauses, die leidigen Freunde zu verscheuchen. Vlado musste sich erholen. Ihm blieb nur noch eine Stunde bis zu seinem Ersatztermin bei seinem Analytiker. Lili war in dem Glauben aufgewachsen, dass die Leute nach Europa reisten, so wie sie die U-Bahn nahmen, und das Gejammer darüber langweilte sie, aber jetzt war die Müdigkeit ihrer Eltern ein Himmelsgeschenk. Sie versprach, alle Besucher abzuwimmeln, und verschwieg, dass dieser Gast in Wahrheit ihrer war.

Leider stand Bucky doch auf, als sie die seltsam leise Stimme hörte, und fand ihr einziges Kind allein mit einem großen schwarzen Mann in Uniform in der Diele vor. Ein flüchtiger Blick genügte, um die Gefahr zu erkennen, bei einem zweiten stellte sich die Umarmung jedoch als einvernehmlich heraus. Der genügende Abstand zwischen beiden Körpern belegte die freundschaftliche Natur des Körperkontakts. Bucky ging zurück und riss ihren Mann aus dem Schlaf. Dann drängten sie sich gemeinsam ins Bild.

Lili überließ ihren Gast den Eltern. Sie starrte durch ihre Brillengläser wie durch ein Mikroskop, das die winzigsten Details vergrößerte, wie die Älteren die Hand des jungen Soldaten schüttelten: nicht so, wie sie den Keime tragenden Handteller eines weißen Fremden angefasst hätten, einfach so nämlich, sondern mit zaghafter Vorsicht, wie es einer von zweihundert Jahren amerikanischer Geschichte, Sklaverei und später dann mit Rache befleckten Faust zustand. Duke nahm nur sein eigenes Unbehagen wahr und erwiderte ihre verkrampften Bemühungen mit Südstaaten-Höflichkeit, die einem durch Gespräche mit den merkwürdigsten Leuten helfen kann.

Sie führten ihn gleich in die Küche, deren Wände voller Bücher waren. Nachdem sie ihm den neuen Swiss Mocha angeboten hatten, den er ablehnte, weil er Kaffee noch nie gemocht hatte, und nachdem sie den Kaffee weggeschüttet und ihm ein Bier angeboten hatten, das er ablehnte, und nachdem sie ihm Beuteltee in der Kaffeetasse vorgesetzt und ihm mit breitem Lächeln gezeigt hatten, dass sie ihn als ihresgleichen betrachteten, wurde er ihnen umgehend sympathisch. Zu ihrer Verwunderung war ihm weder bekannt noch interessierte es ihn sonderlich, dass Angela Davis kürzlich von einer zu Unrecht erhobenen Mordanklage freigesprochen worden war, doch sie nahmen es hin. Sie waren sich ohnehin unsicher, was seine Hautfarbe anging, und selbst »Amerikas gefährlichstes Mundwerk«, Bucky, war so rücksichtsvoll, keine Erkundigungen über seinen Hintergrund einzuholen.

Duke wiederum wusste nichts über Lilis Hintergrund. Als er sie kennengelernt hatte, zwei Jahre zuvor, hatte ihr Nachname ihm nichts gesagt. Er kannte die Nationalgarde und die Ehrengarde, von der Avantgarde aber hatte er noch nie gehört. Und er wusste es an diesem Juninachmittag auch nicht zu schätzen, dass die Stones ihn, ungeachtet ihrer herausragenden Stellung in der New Yorker Kunstszene, freundlich und warmherzig behandelten. Er reagierte darauf, als wäre es die natürlichste Sache der Welt. Er lächelte zu oft. Wie wenig wusste er von New York! Es kam ihm auch nicht in den Sinn, dass das berühmte Paar den gesellschaftlichen Unterschied zwischen ihnen fürchtete. Oder den Rassenunterschied. Vom Altersunterschied ganz zu schweigen.

Die Stones fanden die Bescheidenheit ihres Gastes irritierend. Als sie ihn baten, doch Platz zu nehmen, schaute der junge Mann sich um und entschied sich für einen wackligen Lehnstuhl, den jeder mied. Reparaturen bedürfen der Planung, und die verschwendete man nicht an unbelebte Objekte. Duke setzte sich furchtlos hin, allen stockte der Atem, aber der Stuhl hielt stand, ein wahres Wunder, denn Duke war kein winziger, knochenloser Gelehrter. Aus dieser günstigen Position sah er Lili an, während seine Hand die weich gepolsterte Lehne streichelte. Die Therapeuten, die ständig im Bewusstseinsäther der Stones herumschwebten, hätten gespöttelt, dass Duke in Wirklichkeit ihre Tochter streichelte. Es schien eindeutig, dass nichts am Besuch des seltsamen jungen Mannes normal war, dass er nicht einfach nur ein weiterer interessanter Gast war, der in 100 Riverside Drive einkehrte. Zum ersten Mal waren Bucky und Vlado von der Freundeswahl ihrer Tochter beeindruckt. Die Stones hofften, dass die beiden sich in Harvard kennengelernt hatten oder in Cambridge; es gab auch andere Bildungseinrichtungen, die in Betracht kamen.

Aber Bucky stellte andere Fragen: »Wann sind Sie eingezogen worden? Waren Sie in Vietnam?«

Er beantwortete die Frage, ohne zu ahnen, wie geradezu abwegig ihre Einstellung war: »Ich bin nicht eingezogen worden, ich habe mich freiwillig gemeldet. Mein Vater hat in Korea gekämpft. Er war Sergeant. Mein älterer Cousin Carl ist auch Offizier, bei der vierten Infanterie in Nam. Ich wollte immer Soldat werden und meinem Land dienen. Aber in der ersten Stunde der Grundausbildung wurde mir klar, dass ich dafür nicht geeignet bin.«

Er hielt inne. Niemand sagte etwas. In bescheidenem Ton fuhr er fort.

»Es gab kein Zurück. Ich wurde ausgebildet und mit dem Rest meiner Einheit nach Vietnam geschickt. Vierte Infanterie, wie mein Cousin.«

»Sie waren also mitten im Krieg?«, fragte Bucky begierig.

»Nein, Ma’am«, sagte er. »Nein, war ich nicht.«

Er zögerte und schlug beschämt die Augen nieder. »Ich konnte einfach nicht auf Menschen schießen. Ich konnte überhaupt nicht schießen. Colonel Pickens, meinem befehlshabenden Offizier, habe ich gesagt: ›Ich glaube, ich bin ein Kriegsdienstverweigerer. Ich lehne es aus Gewissensgründen ab. Es ist, wie Gott sagt: du sollst nicht töten‹.«

»Oh!« – »Unglaublich!« – »Erzählen Sie weiter!«

Der Soldat saß kerzengerade da, als wäre er dazu abkommandiert worden. »Der Colonel hat mich in ein Verhörzimmer gebracht, und da hat er mich halbtot geprügelt. Ja, das kann man so sagen. Manchmal legte er eine Pause ein und fragte mich: ›So. Bist du immer noch ein Kriegsdienstverweigerer?‹ Und ich habe gesagt: ›Ja, Sir, immer noch.‹ Das Problem war: Der Colonel und ich, wir kannten uns von zu Hause. Das hat ihn noch wütender gemacht. Ich selbst war nicht wütend. Irgendwie hatte ich diese Strafe ja verdient. Nach einer Weile war ich so erschöpft von seinen Schlägen, dass ich eingeschlafen bin. Als ich aufwachte, war ich im LBJ. Kennen Sie das Long Binh Militärgefängnis? Ich kam in Einzelhaft, das war mein Glück, weil es im übrigen Gefängnis Aufstände gab. Ich bin zu einem Jahr Haft verurteilt worden, aber nach einem Tag bekam ich eine neue Chance.«

Er blickte in die Runde, um sicherzugehen, dass niemand sich von seiner Geschichte genervt fühlte. Doch sie saßen wie gebannt da, mit aufgerissenen Augen, voller Anteilnahme. Die Rassenunruhen im LBJ hatten landesweit für Schlagzeilen gesorgt. So viele tote schwarze Soldaten. »Am zweiten Tag kam der Aufseher zu mir und sagte: ›Der Sergeant Major weiß über dich Bescheid.‹ Ich wusste überhaupt nicht, warum, aber ich wurde vorgeladen. Das war, als hätte mich der König einbestellt. Er war in voller Montur, stand an einem langen Tisch, auf dem eine Karte von Vietnam lag. Er hat auf die Karte geguckt, während ich die Orden an seiner Brust gezählt habe. Er hatte achtzehn Orden, und ich war achtzehn Jahre alt. Er war aus Texas. Meine Ehre sei ihm ziemlich egal, hat er gesagt, aber nicht das Ansehen seiner Einheit, und er habe gehört, dass ich Trompete spiele.«

»Trompete!«, rief Vlado erfreut dazwischen.

»Na ja, das stimmte überhaupt nicht«, sagte Duke. »Aber er glaubte es eben. In meiner Akte stand aus irgendeinem Grund, dass ich Trompeter bin, und da ich Duke heiße, schien ihm die Sache klar zu sein. Die Divisionskapelle war sein Steckenpferd. Ich habe mich natürlich bereit erklärt mitzuspielen, und er war bereit, meine Strafe aufzuheben. Ich bin in der Armee geblieben und tue jetzt schon ein Jahr lang so, als könnte ich Trompete spielen. Ich halte sie ganz fest an meinen geschlossenen Mund und blase die Backen auf. Niemand hat je etwas bemerkt. Ich bin in ganz Vietnam aufgetreten und zwar vor den richtigen Goldfasanen. Die, die wirklich den Ton angeben.«

Die Stones brauchten eine Minute, um den Witz zu kapieren.

»Man hat mich sogar befördert. Ich bin jetzt Obergefreiter!«

Familie Stone war baff. Der Besucher hatte eine erstaunliche Geschichte erzählt, ohne ihren hohen Unterhaltungswert zu erkennen. Der Rest seines Berichts erwies sich als profaner. Dukes Vater war unten im Süden auf die Intensivstation eingeliefert worden – »Was hat er denn?« – »Irgendwas mit dem Herzen, glaube ich« –, man rechnete mit seinem Tod, und der Obergefreite bekam eine Woche Heimaturlaub, damit er um die halbe Erde reisen konnte, um Abschied zu nehmen.

Er war in einem Militärflugzeug bis Frankfurt geflogen und dort in ein Verkehrsflugzeug nach New York umgestiegen, wo er sechs Stunden Aufenthalt hatte, ein weiterer Glücksfall. Und noch einer: Der alte Mann hatte sich unverhofft erholt. Duke standen jetzt einfach ein paar Urlaubstage zu Hause bevor. Er sah auf die Uhr und erhob sich. Er musste zurück zum Flughafen, um seinen Anschluss nach Hause nicht zu verpassen.

Als Lili hörte, dass er wieder gehen wollte, malte sich plötzlich tiefer Kummer auf ihr junges, rundes Gesicht – die reine Unschuld und das Fehlen einer klar konturierten Persönlichkeit (wie ihre Mutter sinnierte). Bucky machte große Augen. Der junge schwarze Mann war interessant, exotisch, von der falschen Straßenseite, aber integer. Er musste ziemlich intelligent sein. Vlado kam auch nicht aus dem akademischen Hochadel. Duke hatte Lili bezirzt, und Bucky war davon überzeugt, dass ihr Kind – in einem kurzen Kornblumenkleid, das ihren langen weißen Nacken frei ließ und ihre geschmeidigen schlanken Arme und ihre geschmeidigen runden Knie – den Gast bezirzt hatte. Was für ein schönes Paar! Sie wären ein Symbol für Entspannung zwischen den Rassen, und ihre Kinder und Kindeskinder würden die Welt erobern.

Wie schrecklich für die beiden, dachte Bucky, deren Herz für die gesamte Menschheit schlug, nur ein paar gemeinsame Stunden, wie in einer altmodischen Romanze, und noch schrecklicher: die Rückkehr eines jeden Einzelnen dieser unschuldigen Männer zur militärischen Pflicht. Ein Rettungseinsatz war vonnöten.

In New York hilft man niemandem, ohne vorher eine Gegenleistung zu vereinbaren. Doch Bucky folgte oft ihren Impulsen und brach diese Regel schamlos. Um dieses Betragen zu entschuldigen, hatte sie über die Bedürftigen und die Gebenden eine Theorie aufgestellt – »normalerweise sind sie austauschbar« –, die sie in regelmäßigen Abständen überprüfte. Jetzt ergab sich eine weitere Gelegenheit. Dieser benachteiligte junge Mann musste aus der Militärkaste in die erhabene Sphäre der Stones verpflanzt werden.

Bucky dachte scharf nach. Mr. Perkins kam ihr in den Sinn. Erst vor kurzem hatte sie bei einem Empfang die Bekanntschaft des schwerfälligen, scheuen Weinhändlers gemacht. Seine unaufgefordert vorgetragene Klage hatte sie fasziniert; er sprach davon, dass die Preise für alten Bordeaux jäh gestiegen seien, seit irgendein Jungspund, der reich geerbt hatte, sich immer öfter auf Weinauktionen blicken ließ. Am Ende hatte der Bursche mehr als fünfhundert Dollar für eine Flasche 1865er Lafite gezahlt, es mit dieser Protzerei in die Abendnachrichten geschafft und Deppen aus Memphis und Dallas auf die Idee gebracht, dass ihnen zu ihrem Glück doch noch etwas fehlte. Sie eilten zur nächsten Auktion und boten mit, und über Nacht stiegen die Preise für alten Bordeaux auf hohe fünfstellige Summen. Das große Geld war der Feind. Mr. Perkins sagte, er träume davon, einen Wolfsjungen feinste Weine verkosten zu lassen, und wenn es den nicht gebe, dann eine, wie er es nannte, »Weinjungfrau«, einen Menschen, der nie zuvor Wein getrunken hatte, einen Nichtraucher mit einem »reinen Mund« und sensiblen Geschmacksknospen. So jemanden würde er sofort gegen Bezahlung einstellen und seine Reaktionen aufzeichnen.

Jetzt konnte Mr. Perkins seine Worte wahrmachen. Sie rief ihn in seinem Laden an. Sie habe jemanden gefunden, der nicht mal Kaffee trinke. Er werde sich umgehend vorstellen. Als Nächstes musste der Flug storniert werden. Und dann würde sie sich um die »Fahnenfluchtgeschichte« kümmern. Ein Soldat weniger für Uncle Sam, das war doch eine gute Sache. Sie würde ihre Beziehungen spielen lassen.

»Duke, kann ich bitte Ihr Flugticket sehen?«

Während Lili Duke die Wohnung zeigte, stand Vlado hinter Bucky in der Küche, als sie telefonisch die Strippen zog. In Gesellschaft hielt er seinen Kopf geneigt, um neugierigen Blicken auszuweichen. Oft betrachtete er Buckys Füße, ihre geschwollenen Knöchel, wie der Bund ihrer schwarzen Socken darüber spannte; ihre Hose war zu kurz. Bucky war mal ein »heißer Feger« gewesen, Vlado hatte von ihren außergewöhnlich schönen Beinen geschwärmt, die ihren fehlenden Sinn für Mode mehr als wettmachten. Buckys Geheimwaffe war ihr schlauer, anzüglicher Blick, der sie für schlaue, anzügliche Männer schon als Teenager unwiderstehlich gemacht hatte. Und auch heute noch, Jahrzehnte später, konnte ihre intellektuelle Hochnäsigkeit auch in brisanten gesellschaftlichen Situationen potenzielle Feinde lähmen, den eigenen Ehemann eingeschlossen.

Lange nachdem ihre langen Beine klobig geworden waren und sie den ältlichen Matronen aus Brooklyn glich, die Vlado in seiner Jugend herumkommandiert hatten, entzückte ihn die reine Freude, die sie an ihrem Grips hatte. Ihr Übergewicht störte ihn nicht, denn er selbst hatte damit nie ein Problem gehabt. Obwohl er jede körperliche Anstrengung vermied – in seinen Augen: brain drain –, war er noch immer gut in Form, auch sein Haar war noch voll. Als Einziger in der Familie brauchte er keine Brille, aber seine Gesichtszüge blieben den Blicken verborgen, weil ihr Ausdruck so abweisend war und weil der Rauchvorhang seiner Camel sie verschleierte. Diese Wolke hüllte jetzt auch Bucky ein, als sie den Hörer auflegte, einmal hustete und dann posaunte: »Duke. Du hast einen Job!«

Als Duke zwei Stunden später wieder ging, hatte Bucky sowohl seinen Heimflug verschoben als auch seine Rückkehr nach Vietnam. Der Hausarzt tippte einfach unbesehen ein ärztliches Attest, das Dukes Verbleib in New York für einen Monat sicherte. Die Stones gaben Duke einen Wohnungsschlüssel – ein Magnet, der weiteres Glück anziehen würde. Er hatte die Aussicht auf den Hudson aus drei verschiedenen Zimmern bewundert, die 1,19-Dollar-Kekse gekostet, die aus einem berühmten Delikatessengeschäft stammten, von dem er noch nie gehört hatte, und einen schüchternen Blick ins Gästezimmer geworfen. Lilis Eltern mussten berühmt sein, weltberühmt, das hatte er inzwischen gemerkt, doch bislang kümmerte ihn das nicht; für ihn spielte es eine größere Rolle, dass sie vermögend waren, vermögender als sämtliche Menschen, denen er je begegnet war.

Kurz nachdem sich die Tür hinter Duke geschlossen hatte, merkte Vlado, dass er gerade seine Therapiesitzung verpasste. Er rief den Analytiker an, sagte ihm, dass er nach fünfzigtausend Dollar jetzt endlich »durch« sei mit der Therapie, und knallte den Hörer auf, bevor Dr. Friedberg widersprechen konnte. Er legte sich auf das Doppelbett, nach so vielen Jahren Ehe eher eine Gartenliege als ein Liebesnest, und wurde in den Schlaf gewiegt von Buckys Singsang aus dem Wohnzimmer, wo sie mit ihren Höflingen, Redakteuren, Verlegern und Busenfreundinnen telefonierte und von ihrer Neuerwerbung schwärmte: »Ein Soldat, aus dem tiefsten Süden. Ganz in Uniform. Aber in Wahrheit Pazifist. Was für eine Mischung! Er ist sehr intelligent, das merkt man einfach. Ihm entgeht nichts. Vor uns ist er sehr schüchtern. Kaut einem ein Ohr ab oder sagt gar nichts. Hat aber sehr spannende Dinge zu berichten. Übrigens ein Mulatte. Nein, nicht nur wegen der Hautfarbe. Ja, dunkel, vielleicht sogar noch dunkler durch das Leben in Vietnam – auch Schwarze werden bekanntlich von der Sonne gebräunt. Sein Haar ist kraus. Glaube ich. Er hat einen, wie sagt man, einen Militärhaarschnitt. Die Nase breit, aber wie gemeißelt – ein aristokratisches Profil, wirklich! Aber seine Augen. Seine Augen sind blau. Sensationell, ein ägyptisches Blau, genau genommen die Farbe einer Vase aus dem Neuen Reich, circa 1300 vor Christus!

Vlado unterbrach sie und rief rein: »Sie sind unheimlich. Wie ein Eisblock aus der Urzeit – was in dem alles eingefroren sein könnte!«

Bucky kicherte und erzählte weiter: »Man sieht sie gar nicht wirklich. Er trägt eine dicke Brille, genau wie Lili. Das haben sie gemeinsam.«

Sie hatten mehr gemeinsam, als Bucky ahnte. Einer stillschweigenden Übereinkunft zufolge, die der aufdringlichen Anteilnahme der Stones Grenzen setzen sollte, hatte keiner von ihnen Einzelheiten ihrer ersten Begegnung vor zwei Sommern im fernen Ostafrika ausgeplaudert. Früher gab es die Freundschaftsform der »Reisegefährten«, eine ungeplante, unromantische Beziehung, die zwei Fremde, wenngleich nur für kurze Zeit, so intensiv aneinanderband wie ein Ehepaar. Das Ende der Reise bedeutete auch das Ende der Beziehung. Nach vierundzwanzig gemeinsamen Stunden in einem fremden Land waren Lili und Duke auseinandergegangen. Sie schrieb ihre Telefonnummer auf, er seine Adresse, weil Anrufe so teuer waren. Sie machten keine Pläne für eine erneute Zusammenkunft. Duke war heimgereist, in den Süden, und in die Armee eingerückt, und Lili war nach Cambridge gegangen, aufs College. Dukes plötzliche Wiederkehr passte zur Spontaneität ihrer früheren Partnerschaft und kam für Lili nicht überraschend. Was sie überraschte, war ihr brennender Wunsch, ihn in New York zu behalten, wohinter sich der Wunsch verbarg, ihn ganz und gar zu behalten. Sie musste sich dafür irgendeine Erklärung zurechtlegen. Anfangs nahm sie an, dass sie, wie ihre Mutter Bucky, schlicht hilfsbereit war. Sie würde ihn durch dieses Land der extremen Raffinesse führen. Als der feindselige Concierge zögerte, dem Soldaten die Tür zu öffnen, und Duke selbst nach der Klinke griff, kreischte Lili: »Das macht hier der Concierge!«

»Oh, tut mir leid.« Duke ließ die Tür los.

Sie fuhren mit der U-Bahn zu Mr. Perkins’ Laden, der Wagen laut wie ein Kriegsgefecht und heiß wie der Dschungel. Während sie schwankend nebeneinanderstanden, die Haltestange fest in den Händen, runzelte Duke die Stirn: Lilis Haut schien ihm weißer als in seiner Erinnerung, ihr Haar blonder. In Afrika war er hellhäutig gewesen, genau wie Lili, in New York aber war er ein Farbiger. Es war ihm unangenehm, mit ihr gesehen zu werden.

Als sie ihr Ziel erreicht hatten und Lili die Treppe hochrannte, sich auf der obersten Stufe zu ihm umdrehte und »du Trantüte« rief, vergaß er, was sie voneinander trennte, und eilte zu ihr.

Perkins Spirits and Fine Wines war ein Zweihundert-Dollar-im-Monat-Laden in einer schäbigen Gegend gleich bei der Houston Street, wo die Stadt gewaltige Neubauten hochzog. Während Duke den Laden betrat, besah sich Lili ihr Spiegelbild in der dreckigen Fensterscheibe. Der Laden versorgte notgedrungen Laufkundschaften und Gourmets. Im Eingangsbereich stand der Fusel. Weiter hinten im Laden, durch sorgsam geschichtete Kisten abgeschirmt, lagerten exklusive Weine aus ganz Europa. Mr. Perkins war kühn; er empfing Kundschaft auch an Sonntagen. Er kaufte Weine aus Übersee, von denen man in New York noch nie gehört hatte, nicht einmal im Jetset: Grünen Veltliner aus Österreich, Bondolas aus der Schweiz, Riesling aus dem Elsass. Mr. Perkins, der vor ewigen Zeiten in der Upper East Side aufgewachsen war, als Manieren noch etwas galten, ließ sich sein Erstaunen nicht anmerken, als Duke Butler in voller militärischer Montur bei ihm vorstellig wurde. »Die Stones haben immer interessante Bekannte«, sagte er und bat den Soldaten herein. »Und Sie haben wirklich noch nie einen Schluck Wein getrunken?«

»Nein, in meinem ganzen Leben nicht«, versicherte ihm Duke. »Wo ich herkomme, trinkt man härteres Zeug. Das hat mich nie gereizt.«

Mr. Perkins’ Gesicht schien wie das alte Porträt eines Gutsherrn. Nur die Zeit hatte sich daran zu schaffen gemacht und die weiße Haut mit feinen Linien überzogen. Die dichten grauen Augenbrauen verharrten in der ihnen zugewiesenen Wölbung, der kleine rosa Mund war durch Nahrungsaufnahme oder Sprechweise in seinem Ernst nicht entstellt. Doch durch die großen braunen Augen kam Leben in das Porträt. Weil sie als Gefangene einer angeborenen Krankheit namens »Tanzende Augen« in ihren Höhlen kreisten, richtete Mr. Perkins seinen Blick nur selten direkt auf einen anderen Menschen, weil er es nicht konnte. Schon als kleinen Jungen hatte man ihn vom Sport befreit, weswegen sein Körper schon früh größer und schwerer als die der anderen gewesen war. Er war also längst an seine Parameter gewöhnt und konnte flott um seine Flaschen herumkurven, eine aussuchen und seinem Gast ein wohlgefülltes Glas Gallo Burgunder für 1,50 Dollar vorsetzen. Er sah seinem Gast beim Trinken zu. »Was halten Sie davon?«

»Ich weiß nicht, was ich davon halte«, sagte Duke, der nur nicht wusste, was er sagen sollte.

Mr. Perkins wandte enttäuscht seine Wackelaugen ab, und da sagte Duke die Wahrheit: »Es ist merkwürdig, Sir. Es flitzt einem im ganzen Mund herum, und dann glitscht es einem wie eine Eidechse durch die Kehle und rollt sich im Magen ein …« Er betrachtete die Tropfen in seinem Glas, legte die Nase daran und schnupperte. Als Duke einen weiteren Schluck nehmen wollte, riss Mr. Perkins ihm das Glas aus der Hand und ließ wenige Tropfen eines siebzehn Dollar teuren 1956er Bordeaux Château Haut-Brion Pessac-Leognan in ein anderes Glas rinnen. »Und der hier?«, fragte er.

»Anders«, antwortete Duke so erschüttert, dass seine schwarze Brille ein Stück herabrutschte. »Das Blut Jesu. Nur feuriger.«

Der Weinhändler engagierte Duke für einen Probemonat. Er sollte Weine verkosten und würde fünfzig Dollar die Woche verdienen. Rausgeschmissenes Geld, aber so ist das nun mal mit dem Vergnügen. »Haben Sie etwas anderes anzuziehen?«, fragte Mr. Perkins zaghaft.

Schwarz und Weiß

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