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Die Rettung

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Der kenianische Kellner musterte den hungrigen Mittagsgast, so wie man eine Ameise vor seinen Füßen betrachtet. Der neue Gast konnte ihm nichts anhaben; käme er ihm zu nahe, ginge er einfach weg. Ließe er den Gast lange genug warten, würde der Gast wieder verschwinden. Beschwerte er sich, würde er darauf hinweisen, dass es ein Büfett gebe. Der Gast müsste sich nur bedienen.

Der Kellner richtete seinen professionellen Blick in die Unendlichkeit. Irgendwann erreichte seine Langeweile einen solchen Grad, dass er etwas dagegen unternehmen musste – er fing ein Gespräch mit einem Kollegen an, worin er auch eine Bemerkung über diesen Gast fallenließ, einen »Akata«. Das war ein Schimpfwort für Afroamerikaner; es bedeutete »Baumwollpflücker«. Es gab noch andere, grausamere Ausdrücke.

Der Gast, der ihre Verachtung so erregte, war vor allem falsch gekleidet. Auf der Suche nach ihren Wurzeln in Ostafrika kamen viele Amerikaner nach Nairobi. Die Ostafrikaner hatten keine Arbeitskräfte an die Sklavenhändler abgegeben und fanden die amerikanischen Rassenprobleme langweilig, bestenfalls nebensächlich. Wenn sie sich überhaupt für ein Rassenproblem interessierten, dann war es die Minderwertigkeit der Asiaten. Im übrigen knauserten die Amerikaner mit Trinkgeld, sie hatten kein Gespür für Stammesunterschiede und machten sich mit jedermann gemein, selbst mit den widerwärtigsten Massai oder den faulenzerischen Luo, und statt ordentlicher Anzüge trugen sie westafrikanische Trachten. Dieser hier trug einen billigen Boubou, ein weißes Gewand und eine kleine braune Kappe. Seine Hautfarbe war herrlich, sehr hell. Die meisten Akata hatten Blut von Weißen.

Der Akata machte, wie alle seine Landsleute, kein Aufhebens davon, dass er übergangen wurde. Unruhig spielte er mit dem Besteck und schaute sich nach den Angestellten um, die ihm schlicht nicht in den Blickfang gingen. Die Zeit verging. Eine vielköpfige Familie britischer Teeplantagenbesitzer setzte sich an einen Nebentisch, und ein Schwarm von Kellnern bediente sie umgehend. Der Akata hatte bislang noch nicht einmal ein Glas Wasser. Er beschwerte sich nicht, sondern wartete weiter, wie ein Hund. Er schien es gewöhnt zu sein, so behandelt zu werden.

Ein junges weißes Paar kam herein. Bevor ein Kellner die beiden zu einem weit entlegenen Tisch geleiten konnte, damit der Akata gefälligst isoliert blieb, setzten sie sich an den Tisch neben ihm.

Die Frau war jung und etwas schlampig gekleidet für ein Restaurant dieses Kalibers. Ihr Haar hatte die erstaunliche Farbe einer Ndunda, aber sie pflegte es nicht, sondern ließ es auf ihre Schultern fallen. T-Shirt und Blue Jeans waren nicht gebügelt. Sie hatte sich nicht zurechtgemacht, trug weder Schmuck noch Make-up, dafür eine dunkle, hässliche Brille, die jemand so Jungem nicht stand. Ihr Begleiter war klein und dick, versteckte seinen Körper aber geschickt in eleganter Kleidung, einem weißen Leinenanzug mit Weste und Fliege, wie ein altmodischer Entdeckungsreisender. Er war auf dem Weg zu einer Glatze. Die Kellner eilten beflissen auf die beiden zu. Plötzlich blieben sie stehen. Ein Streit war ausgebrochen. Die Kellner zögerten – Taktgefühl war typisch für ihren Stamm.

»Ich würde sagen, Sie sind frigide«, sagte der Mann mit britischem Akzent.

»Hab ich recht? Das würde auch erklären, weshalb Sie sich nicht um Ihr Äußeres scheren. Sie machen sich nicht mal die Mühe, ein Kleid anzuziehen, in dem sie ansprechend aussehen. Und diese abscheuliche Brille. Sagen Sie mir die Wahrheit. Sie sind frigide, stimmt’s?«

»Nein, Professor Thompson«, antwortete sie leise und bescheiden, mit amerikanischem Akzent. »Ich bin nicht zu haben, das ist alles. Ich habe einen Freund. Ich mag Sie, doch nicht so. Ich möchte Ihre Gefühle nicht verletzen. Ich habe nur – einen Freund eben. Andernfalls würde ich sehr gern mit Ihnen ausgehen.«

»Aber der ist weit weg«, erwiderte ihr Kavalier. »So allein zu sein wie Sie – das ist doch nicht normal.«

»Schon möglich«, sagte sie gepresst. »Er hat gesagt, dass er herkommt.« Sie schlug die Augen nieder. »Nach allem, was ich weiß, könnte er schon heute Vormittag hier sein. Ich erwarte ihn jeden Augenblick.«

»Dann werden Sie uns einander vorstellen müssen«, sagte Professor Thompson. Die Kellner kannten den Sarkasmus der herrschenden Engländer. »Ich hole mir etwas zu essen. Mein Appetit ist normal, und wenn ich nichts esse, bin ich hungrig.« Er stand auf, schritt zum Büffet und bediente sich. Die Kellner standen untätig herum. Die junge Frau blieb sitzen und starrte auf die Getränkekarte.

Dann geschah etwas Seltsames. Der Akata lehnte sich zu der Frau hinüber, die ihm den Rücken zugewandt hatte, und sagte etwas, woraufhin sie, als hätte er einen Knopf gedrückt, sich zu ihm umdrehte.

Seltsamer noch war, dass sie sich sichtlich entspannte. Ihre Lippen öffneten sich zu einem Lächeln, das im Dunkeln als Fackel gedient haben könnte. Erregt sah sie den Gast zweiter Klasse an und sagte: »Ja! Ja! Aber machen Sie schnell!« Dann drehte sie sich wieder um.

Sofort stand er auf und setzte sich neben sie. Die Kellner waren wie gebannt. Der Akata sah dem Engländer am Büffet zu und sagte zu dem Mädchen: »Ich heiße Duke.«

Und sie erwiderte: »Lili Stone. Wäre es Ihnen sehr unangenehm, mich Darling zu nennen? Ich weiß, das hört sich seltsam an. Aber es wäre mir eine große Hilfe.« Professor Thompson kehrte an den Tisch zurück, mit einem Teller voller Delikatessen, die sich die meisten Engländer, wie die Kellner gehört hatten, in ihrer Heimat nicht leisten konnten. Er nahm es wie ein Mann, als ihm »mein Freund, der direkt hinter uns gesessen und sich kaputtgelacht hat« vorgestellt wurde. Er nickte, lächelte und wandte sich seiner Mahlzeit zu. Duke und Lili betrachteten einander hellauf entzückt. Dann räusperte sich Duke und sagte steif: »Darling.« Mehr fiel ihm nicht ein. Er warf einen Seitenblick auf den Professor und sagte noch einmal »Darling«, diesmal etwas zärtlicher. Und sie sagte: »Ja, Darling!« Ihnen gefiel dieses Spiel. Sie wollten nicht, dass es jemals aufhörte.

Der Concierge kam an den Tisch. Er hielt der jungen Blondine ein Silbertablett hin. Es lag eine Karte darauf. Sie nahm sie an sich und las. Der Professor machte ein erstauntes Gesicht.

»Ah ja … Die Lewis haben uns heute zum Lunch eingeladen«, sagte Lili zu Duke.

»Die Lewis haben Sie eingeladen? Unfassbar«, sagte Professor Thompson.

»Ich hatte es ganz vergessen, sonst hätte ich Sie versetzt.« Augenkontakt traute sie sich nicht. »Gut, dass ich nichts gegessen habe. Und ich kann heute nicht zur Arbeit kommen. Tut mir wirklich leid. Hoffentlich ist das okay.«

»Bei wem sollte ich mich darüber beschweren? Bei den Lewis? Sie bezahlen mich, finanzieren mein Forschungsprojekt, lassen uns in ihrem Hotel wohnen und wollen mich nicht mal kennenlernen. Aber mit Ihnen verabreden sie sich. Das verstehe, wer will. Sie sind eine ahnungslose, unbezahlte Hilfskraft – nicht mal Ihr Gehalt kann ich Ihnen kürzen! Hätten Sie mir gesagt, dass Sie die Lewis kennen, hätte ich wenigstens in dieser Hinsicht etwas von Ihnen gehabt. Ihre Bescheidenheit ist wirklich krankhaft.« Ein Stück Melone tauchte zwischen seinen Zähnen auf.

Jetzt richtete sich Lili an ihren falschen Verlobten. »Mr. Lewis und mein Vater haben sich als Studenten ein Zimmer geteilt. City College, in New York.«

»Eine große Adresse«, schnaufte der Professor verächtlich.

Der Chauffeur der Lewis’, ein Wakamba, besaß das Selbstvertrauen, das nur eine zweireihige graue Uniform mit Goldknöpfen und eine steife weiße Mütze verleihen konnten. Er sollte eine junge Amerikanerin auflesen, die im Hotel wohnte, aber als sie erschien, hatte sie sich bei irgendeinem Westafrikaner eingehakt. Der Chauffeur war nicht dazu verpflichtet, das Paar zu trennen, und nahm sie beide mit.

Sie hatten die Arme noch immer ineinander verschränkt, als sie im vornehmsten Außenbezirk von Nairobi vor dem Anwesen der Lewis’ aus dem Wagen stiegen. Es lag im duftenden Band von Gärten und Villen gleich hinter den Slums von Nairobi. Der Chauffeur führte die Besucher zu den Butlern, und die führten sie in den Hof, wo Mrs. Lewis in einem Sessel saß und eine britische Zeitung las. Ihre Gesichtszüge verhärteten sich, als sie den Afrikaner in seiner Tracht erblickte, sie fragte Lili: »Habe ich diesen Gentleman eingeladen?«, um sich dann selbst die Antwort zu geben: »Unmöglich. Zum Lunch sind ausschließlich Damen geladen, so leid es mir tut.«

Die Dienstmädchen rannten amüsiert im Hintergrund herum und genierten sich für den jungen Mann. »Nur Damen, ohne jede Ausnahme. Mr. Lewis zeigt dem Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten unser Land, und seine Gattin ist hier bei mir, auch die Gattin des Präsidenten der Pan-American-Airlines – keine Männer!«, sagte Mrs. Lewis bemüht fidel. »Ihr Bekannter kann gern in der Bibliothek zu Mittag essen. Sie dürfen hier neben mir Platz nehmen.«

Duke wurde von einem Butler abgeholt. »Weshalb esse ich nicht mit ihm zusammen in der Bibliothek?«, erbot Lili sich freiwillig. »Ich bin auch keine Dame.«

»Vielleicht ist es das Beste, wenn Sie beide wieder zurück zum Hotel fahren«, sagte Mrs. Lewis freundlich. Sie sprach mit südafrikanischem Akzent. »Das ist mir nun doch ein bisschen zu viel Trubel. Und ich weiß nicht, was Mr. Lewis oder der Vizepräsident sagen werden, wenn sie zufällig früher zurückkommen und sehen, mit wem ich hier verkehre. Sie hatten eine schlechte Kinderstube, meine Liebe.«

Ein Heer von Butlern eskortierte die beiden wieder hinaus, und Mrs. Lewis widmete sich von Neuem ihrer Zeitung.

Die unwillkommenen Gäste stiegen wieder in die Limousine und saßen dann steif nebeneinander auf der Rückbank. Der Chauffeur nahm an, dass ihnen der Wirbel, den sie verursacht hatten, peinlich sei. In einer Anwandlung von Großmut sagte er:

»Im Hotel ist es sowieso viel schöner.«

Als der Wagen den hübschen Vorort verlassen hatte und den angrenzenden Slum erreichte, in dem der Chauffeur aufgewachsen war, hörte er das Mädchen seinen Begleiter fragen: »Kannst du Auto fahren?«

»Natürlich kann ich Auto fahren. Du etwa nicht?« Er hatte einen amerikanischen Akzent. Der Chauffeur beobachtete ihn im Rückspiegel. Ein Akata, kein Zweifel.

»In New York bekommt man erst mit achtzehn den Führerschein.« – »Wie alt bist du denn?«, fragte er konsterniert. So ein dummer Akata hat mal wieder Glück, fand der Chauffeur. Je jünger, desto besser.

»Das willst du nicht wissen.« Sie beugte sich vor und bat den Chauffeur, sie am Nationalmuseum abzusetzen, statt am Hotel. Sie hatten ihm nichts vorzuschreiben, doch er war nicht kleinlich, und es war nicht weit, sodass er eine Zigarettenpause einlegen konnte. Das Museum war eine Oase, hoch auf einem Hügel gelegen, im kühlen Schatten von Bäumen. Der Chauffeur ließ die beiden aussteigen, lungerte herum und rauchte genüsslich. Er war neugierig, was sie jetzt tun würden.

Sie ließ ihren Kavalier vorm Eingang warten, verschwand im Museum und kam wenige Minuten darauf mit Schlüsseln in der Hand wieder herausgeflitzt. Sie führte ihn zu einem Landrover und gab ihm die Schlüssel. Er war ihr offensichtlich rettungslos verfallen. Er gehorchte ihr. Stieg ein und ließ fachmännisch den Motor an. Der Chauffeur sah ihnen nach, als sie wegfuhren.

Sekunden später rannte ein kleiner, gutgekleideter Mann aus dem Gebäude heraus, brüllte, dass sie anhalten sollten, und nahm die Verfolgung auf. Er stolperte und fiel hin. Der Chauffeur tat, als wüsste er von nichts. Nach ein paar Sekunden stand der kleine Mann wieder auf. Er schimpfte und humpelte dann wieder ins Gebäude.

Der Chauffeur fuhr langsam wieder zurück. Er hing den Erinnerungen an dieses seltsame Paar nach. An die Art, wie die beiden sich angesehen hatten, wie zwei Diebe, und er malte sich aus, wohin sie mit ihrem gestohlenen Landrover fahren und wie sie die Nacht miteinander verbringen würden.

Schwarz und Weiß

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