Читать книгу Schwarz und Weiß - Irene Dische - Страница 17

Ein Blindgänger muss entschärft werden

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Doch dann brachen die Südstaaten in Dukes nördlichen Außenposten ein.

Vorher sah alles gut aus. Winter war für ihn noch etwas ganz Besonderes: wie die Fußgänger und Autos vom Schnee zur Langsamkeit angehalten wurden, die Seen aus Matsch, die geröteten Nasen und Ohren, die helle Sonne und die klare Luft an einem wirklich kalten Tag. Er hatte sich gerade seinen Weg durch einen nächtlichen Schneesturm gebahnt, sich über seinen Wiedereintritt in die warme, sichere Zone seiner Diele gefreut, als die Sprechanlage wie wild klingelte. Lili sprang vergnügt aus ihrem Zimmer, um ihn zu begrüßen, da hörte sie Dukes »Ja?« und dann ein gequetschtes »Oh«, als hätte sich etwas in seiner Luftröhre verfangen. Er räusperte sich und sagte: »Schicken Sie ihn hoch.« Er wartete an der Tür.

Lili bezog in einiger Entfernung Stellung, noch immer in der Schwesterntracht, paffte eine Zigarette und aschte absichtlich auf den Fußboden, was Duke normalerweise zum Lachen gebracht hätte, weil es so ungezogen war und ihre Ungezogenheit ihn amüsierte. Jetzt aber nahm er es nicht einmal wahr. Der Aufzug rumpelte, ein Trommelwirbel. Sie sah, dass seine Hände zitterten, als sich das goldene Fahrstuhlgitter öffnete. Ein Schwarzer in einem schneebestäubten Armeemantel betrat den Flur. Voller Verachtung schaute er Duke an, dann drängte er sich an ihm vorbei in die Wohnung. Der Liftboy konnte nur starren.

Duke schloss die Tür. Die zwei Männer sahen sich bloß stumm im Foyer an, bis Lili mit einem freundlichen »Hallo!« das Eis zu brechen suchte. Der Geruch seiner ungewaschenen Kleidung stach ihr schon von weitem in die Nase. Das gefiel ihr. Sie lachte und wollte dabei möglichst freundlich und einladend klingen. Der Mann überragte Duke. Arme und Brust füllten den Mantel vollständig aus, das Gesicht war geschwollen, von rosa Scharten überzogen, und die Augen schwammen in einem blutroten See. Er ließ Duke nicht aus den Augen.

»Ich hab die Adresse aus deinen Entlassungspapieren«, brummte er. »Mann, bin ich froh, dass ich die behalten habe! Ist arschkalt da draußen.«

Sein Blick wanderte. »Deine Frau?« Er sprach jetzt deutlicher. »Eine Krankenschwester, was? Hast dir eine hübsche weiße Schwester angeschafft. Dann kann sie sich ja um mich kümmern.«

»Nein, kann sie nicht.«

Er sah auf Duke herab. »Ein aufpoliertes Niggerchen. Siehst gar nicht krank aus. Die Entlassung war Bullshit, stimmt’s? Lässt du mich rein?«, setzte er hinzu, obwohl er schon tief in Dukes Territorium eingedrungen war. »Schön, schön. Riecht nach Geld hier drin. Aus dir wird was. Wer hätte das gedacht? Dein Daddy wär erstaunt. Bloß ist er tot. Letzte Woche hops. Auf’m Klo. Ganz schön beschissen für einen Soldaten. Wusstest du noch gar nicht, was? War ja klar. Was du alles nicht weißt.«

Aus seinen blutunterlaufenen Augen tropfte es jetzt. »Ich bin komplett durchgedreht, als ich das gehört hab. Nicht wie du. Ich hab ihn geliebt. Dann bin ich rüber in die Wäschekammer von der Kaserne. Nachts ist da nie wer. War aber wer. Eine Weiße. Sah wie deine Mutter aus. Die hatte Angst vor mir, obwohl ich geheult hab. Ich hab sie ein bisschen aufgemischt. Für Onkel Ulysses. Hab mit der Tante gemacht, was er mit deiner Mutter hätte machen sollen.« Seine Stimme wurde ruhiger. »Na ja, jetzt bleibe ich ein paar Tage hier, stört dich doch nicht?«

»Ich gebe dir Geld, und dann gehst du bitte wieder.«

»Was, Mann, du schmeißt mich raus? Dein eigen Fleisch und Blut?«

»Nein, macht er natürlich nicht!«, kreischte Lili.

Er ignorierte sie. »Das gibt’s doch nicht! Ich sitz in der Klemme. Hör zu, Cousin, ich brauch Ruhe, nur für paar Tage. Okay, paar Stunden. Ihr habt doch ’n Bett, oder? Ich zieh die Stiefel aus, bevor ich mich da reinlege.«

Duke drehte sich zu seiner Frau um. »Das ist mein Cousin«, sagte er. »Carl Pickens. Ich hab dir von ihm erzählt.«

»Ich glaube nicht«, sagte sie und lächelte den Eindringling an, der ihre Höflichkeit nicht erwiderte.

»Na, jetzt braucht er Ihnen wohl nichts mehr zu erzählen«, sagte Carl Pickens. »Sie sehen es ja selbst.« Er sah wütend aus, und dann beschämt. »Ich will mich waschen.« Er drehte sich um, ging in ihr Schlafzimmer und fand auch das Bad ohne Probleme.

Von selbst kam Carl Pickens nicht wieder aus dem Badezimmer heraus. Da er nicht abgeschlossen hatte, öffneten seine Gastgeber nach einiger Zeit die Tür. Er lag rücklings auf dem Boden, eine Spritze im Arm. Lili zog die Spritze heraus, fühlte seinen Puls. »Er lebt!« Duke hatte sich schon seinen Mantel übergeworfen. Er griff nach Carl Pickens’ Rucksack und schulterte den bewusstlosen Riesen.

»Bleib hier«, befahl er. Er schien wütend zu sein, aber sie wusste nicht warum. Dann schaffte er den schweren Körper an den erschrockenen Liftboys und Türstehern vorbei nach unten, hinaus ins Schneegestöber und verfrachtete ihn in ein Taxi. Die Einfahrt der Notaufnahme war von einer Limousine, Streifenwagen und Schaulustigen, einige mit blitzenden Kameras, blockiert. Duke musste seinen Cousin außen herum schleppen und erreichte dann endlich die Eingangshalle. Er pflanzte ihn auf einen rosa Plastiksitz und packte ihm seinen Rucksack auf den Schoß.

Das Gebilde aus Mann und Gepäck hielt das Gleichgewicht, als Duke kehrtmachte und zurück zum Taxi rannte, und glitt dann langsam zu Boden, wo man ihn schon nach einer Stunde fand.

Es mochte eine übernatürliche Fügung sein, dass genau in dem Moment, als Duke Butler mit einem ohnmächtigen Soldaten über der Schulter das Krankenhaus betrat, Elizabeth Taylor auf einer Krankentrage eintraf, eskortiert von einer Heerschar Paparazzi und Fans. Das Foto des Filmstars, der stilvoll in die Notaufnahme getragen wird, während im Hintergrund ein Schwarzer einen anderen Schwarzen schleppt, erschien in der New York Times. Es wurde zu einem ikonischen Abbild der Klassenunterschiede und für den Pulitzer-Preis nominiert.

Gnädigerweise wurde Duke auf dem Foto von niemandem erkannt, denn er hatte sein Gesicht abgewandt, sodass sich kein Zusammenhang herstellen ließ.

Carl Pickens’ Porträt hingegen wurde von den Medien immer wieder übermalt: Anfangs war er ein anonymer Soldat; dann war er ein Opfer, ein dekorierter schwarzer Offizier, einer aus der Legion der vom Krieg hervorgebrachten Rauschgiftsüchtigen, die sich eine Überdosis Heroin verpasst hatten; und zuletzt ein Gesetzesbrecher, der in der Wäschekammer einer Kaserne eine ältere weiße Frau vergewaltigt und erstochen hatte. Ihren Fingernägeln nach zu urteilen, hatte sie sich zur Wehr gesetzt. Sollte Carl Pickens überleben, würde er vor ein Militärgericht gestellt werden.

Als Lili beim Abendessen quietschvergnügt darauf zu sprechen kam, schnitt Duke ihr das Wort ab und sagte leise, dass er davon nichts hören wolle. Seine Entschlossenheit schüchterte die Stones ein. Mehrere Tage lang blieb er distanziert, auch Lili gegenüber, und was er sagte, war fahrig; er klang wie ein markiger Soldat. Dann trugen ihn die Gezeiten von New York wieder zurück.

An dem Tag, als Carl Pickens zu lebenslanger Haft im Bundesgefängnis Leavenworth verurteilt wurde, gestand Duke Lili: Carl, der Sohn seiner Tante Bessy, war der Feind, der befehlshabende Offizier, der sich freiwillig dazu gemeldet hatte, dem gemeinen Soldaten Duke Butler Vernunft einzubläuen, als der gemerkt hatte, dass er niemanden umbringen konnte. Sein eigener Cousin hatte ihn bewusstlos geschlagen und eingesperrt. Im Gegenzug hatte Duke dem Schreckgespenst das Leben gerettet. Als er den bewusstlosen Patienten anonym im Krankenhaus abgesetzt hatte, war er anständig genug gewesen, ihm den Armeetornister mit seinen Besitztümern mitzugeben. Er enthielt Carl Pickens’ Führerschein und seinen Wehrpass. Man hatte rasch eine Verbindung zwischen dem Namen aus dem Süden und dem Patienten im Norden hergestellt und die Polizei von dem Fang unterrichtet.

Für Carls Mutter, Dukes Tante Bessy, muss es ein furchtbarer Schlag gewesen sein. Sie hatte gerade erst ihren Bruder verloren, der für sie wie ein Mann und Vater gewesen war. Wenn Duke seine Tante Bessy jetzt nicht anrief, konnte er es nie wieder tun. Sie wusste nicht, dass Duke Carl verraten hatte. Doch sie würde es Duke niemals vergeben, dass er nichts von sich hören ließ, als die Familie in so großer Not war.

Lili hatte eine Offenbarung: Duke war jetzt genauso allein und einsam auf der Welt wie sie. Duke hatte seinem grausamen Cousin das Leben gerettet, doch nach Hause zurück könnte er nun tatsächlich nie mehr. Niemand liebte ihn jetzt noch, nur noch sie. Und deswegen liebte sie ihn umso mehr.

Als sie an Dr. Mays auf dem Krankenhausflur vorbeiging, sagte sie ihm sehr laut, wie sehr sie ihn verachte, weil er seine Frau betrogen hatte. Er versuchte, seine Panik wegzulachen: »Keine Ahnung, wovon Sie reden!« Auch sie lachte und ging mit schwingenden Schritten davon. Den ganzen Nachmittag überlegte sie, wie sie Duke ihre Treue und Ergebenheit zeigen könnte. Dann kam ihr die Idee: ein Auto würde auf ihn zurasen, und sie würde sich davorwerfen, um ihn zu retten. Das würde sonst niemand für ihn tun. Die Stones waren dafür zu wankelmütig, das würde er noch selbst merken. Lili bewahrte die Heroinspritze als Andenken auf.

Schwarz und Weiß

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