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Gefechte an beiden Küsten

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Am nächsten Morgen, nach Lilis albernem Dinner, wandelte sich Dukes Schicksal, als er von Carol Remark geweckt wurde. Ihr Name, von ihr selbst in den Telefonhörer gesprochen, war eine Trophäe in Dukes Adressbuch.

Carol Remark war eine Art weiblicher Tarzan. Sie hatte sich im Dschungel der New Yorker Gesellschaft von Ast zu Ast nach oben geschwungen und saß Bucky als Autorin beim renommiertesten Magazin der Stadt im Nacken. In dieser Höhenlage registriert man jede Windveränderung, und Carol Remark merkte, dass die Brise des Patriotismus kräftiger wurde, selbst in Manhattan. Der 200. Geburtstag des Landes nahte. Bei einem Dinner hörte sie zufällig jemanden sagen, Burgunder und Chardonnay aus Kalifornien seien »eigentlich gar nicht übel«. Sie beschloss, einen Artikel über amerikanischen Wein zu schreiben. Ihr Redakteur war einverstanden: Da sie nicht das Mindeste von Essen und Trinken verstand, hatte sie einen unvoreingenommenen Blick. Ein Journalist braucht nur den Verstand von jemandem, der ihm alles erklärt. Sie benötigte einen Dolmetscher, der ihr den Weinjargon erklärte. Sie rief Mr. Perkins an. »Erklären Sie mir alles, und ich schreibe über Sie!«, versprach sie ihm. »Schreiben Sie über Duke, der ist viel spannender als ich«, antwortete Perkins.

Sie war gekränkt, aber vielleicht hatte die Sache doch ihr Gutes. Junge Assistenten sind zu allem bereit. Sie griff nach dem Hörer.

Er sollte Carol Remark am Flughafen La Guardia treffen, in der Eingangshalle. Da würden sie auch über seinen Lohn sprechen. Es war seine erste Dienstreise.

Er packte; Lili, in Panik, weinte und wütete. »Der Abend gestern war so hässlich! Du warst gemein zu meinen Freunden. Als ob sie dir nicht gut genug sind. Und jetzt verlässt du mich, um Carol Remark zu treffen. Ich begreife das nicht!«

Die Regeln ehelicher Kabbelei waren ihnen beiden noch nicht vertraut. Man zankt und hasst sich, verträgt und liebt sich wieder. »Perkins feuert mich, wenn ich da nicht hingehe.«

»Soll er dich doch feuern. Oh, nein. Die Karriere geht vor? Du willst doch bloß dazugehören. Selbst wenn ich vor Verzweiflung sterbe.«

»Ich muss los«, entschied er. Lili legte sich hin und nahm die Pose einer toten Heiligen ein.

»Dieses Bett ist mein Sarg. Solange du fort bist, bin ich tot«, informierte sie ihn. »Ich werde nicht zur Arbeit gehen. Nichts essen und nichts trinken. Du wirst mich hier finden. Ich hoffe, du kannst mich reanimieren.«

Ihm fiel wieder ein, wie sehr er ihren Witz liebte, ihr Eifer ging ihm ans Herz. »Das mit letzter Nacht tut mir leid. Ich mochte deine Gäste einfach nicht. Du bist zu gut für sie, ganz einfach. Ich mag es lieber, mit dir alleine zu sein. Ist das so schlimm? Ich muss jetzt wirklich gehen. Den schönen Pullover, den du mir zu Weihnachten geschenkt hast, nehme ich mit. Bitte steh jetzt auf.«

»Sind Sie Duke?« Die rothaarige Frau winkte ihm mit ihrer Zigarette zu. Es kam ihm nicht in den Sinn, wie leicht er zu erkennen war – ein junger Schwarzer, der aus einem Taxi stieg. Er erkannte die kratzige und tiefe Stimme. Die Frau streckte ihre rechte Hand aus, in der sie immer noch die Zigarette hielt, und er umfasste ihren Ringfinger und ihren kleinen Finger. Sie nahm einen letzten Zug und trat die Zigarette dann mit dem Absatz ihres braunen Lederstiefels aus. Dann tauchte sie Duke in den Sonnenschein ihrer Aufmerksamkeit.

»Diese Stiefel sind handgefertigt und haben hier in der Sohle ein Metallplättchen, extra zum Austreten von Zigaretten.« Sie zeigte es ihm. »Sie sind aus Spanien. Ich war dort auf Francos Beerdigung.«

»Mein Beileid«, sagte Duke. Sie wusste nicht, ob sie lachen sollte »Können Sie mir mit dem Gepäck helfen? Vielen Dank. So einen Koffer haben Sie bestimmt noch nie gesehen – das Patent ist gerade angemeldet worden. Ich bin mit dem Chef der Firma befreundet.«

Sie warf einen Blick auf seinen alten grünen Koffer. »Sieht aus, als könnten Sie einen neuen Koffer gebrauchen.«

Carol Remarks Koffer hatte eine lange Leine und unten vier winzige Räder; er folgte Duke wie ein gehorsamer Hund.

»Leider können wir nicht nebeneinandersitzen«, gestand sie ihm, als sie in der ersten Klasse angelangt waren. Sie bekam es mit der Angst zu tun. Was sollte werden, wenn er die Kränkung, dass er weiter hinten sitzen musste, irrtümlich auf seine Hautfarbe zurückführte und nicht auf seinen niederen Stand? Die Weißen alle vorn im Flugzeug wie in den Bussen im Süden. Ein Upgrade wäre wahrscheinlich möglich gewesen, sogar im Flugzeug. Sie könnte es aus eigener Tasche bezahlen und die Rechnung manipulieren und sie bei der Zeitschrift einreichen. So viel Umstand für einen kleinkalibrigen Assistenten? Neulich war sie im Kongo gewesen, mit den Schwarzen da ließ sich so viel einfacher sprechen als mit Schwarzen hier. Man musste nicht erst ein missgünstiges Minenfeld überqueren. »Diese Dinge werden von der Geschäftsleitung geregelt, ich habe da keinerlei Mitspracherecht«, jammerte sie.

»Ich hoffe, dass Sie einen guten Platz haben. Und jetzt muss ich erst mal eine rauchen. Beim Starten ist das nicht erlaubt.«

»Ja, klar«, erwiderte Duke. Er fragte sich, wann sie auf sein Honorar zu sprechen käme. Er saß auf seinem bis jetzt wohlverdienten Platz, mitten im Pöbel, und tagträumte sechs Stunden lang.

Als es noch keine elektronischen Spielzeuge gab, waren Tagträume ein beliebter Zeitvertreib. Sie waren gebührenfrei, mobil, unterlagen keiner Zensur und mussten nicht bestellt oder nachgeladen werden. Wildeste Szenen ließen sich bei langweiligen Gesprächen, Vorträgen oder Predigten heimlich einschalten. Eine Reise eignete sich bestens dazu. Einem jeden sein eigener Traum: Während Carol Remark ihre Affäre mit einem spanischen Revolutionär aufwärmte, sah Duke seine Tante Bessy Maispudding kochen, der ihr erstaunlich cremig gelang; während Carol sich einen Dreier mit ihrem süßen alten Mann vorstellte, hatte Duke im Hinterzimmer von Mr. Perkins’ Weinladen Sex in Missionarsstellung mit seiner Frau.

Ihr Ziel war ein Hilton-Hotel, das im Nachmittagssonnenschein glitzerte, ein Palast aus Glas und Stahl, Limousinen glitten heran und wieder davon. Es wimmelte von Dienstboten. Als eine behandschuhte Hand Duke die zwei Gepäckstücke abnehmen wollte, ging Carol dazwischen und rief: »Nein! Nein danke!«

»Mein Koffer ist ganz leicht«, sagte sie. »Die wollen immer ein absurdes Trinkgeld haben.« Natürlich rollte er ihr den Koffer. Seine Frage nach seiner Unterkunft verwirrte sie. »Oh, gibt es hier eine Jugendherberge in der Nähe?« Er sah sie fragend an. »Blödsinn. Sie schlafen natürlich auch hier. Ich bezahle das.« Sie schickte ihn wieder in die Lobby, wo er ein zweites Zimmer buchen sollte.

Carol Remarks erster Interviewpartner war ein Mr. Poole, ein Winzer und Weinkritiker, ein Aristokrat in diesem Geschäft. Sein Name sagte Carol nichts. Als sie Mr. Poole telefonisch um ein Interview bat, war sie davon ausgegangen, dass er vom Donner gerührt wäre. Stattdessen ließ er sie den Namen Remark zweimal buchstabieren und gab ihr dann einen Korb. Er behauptete nicht, dass er zu beschäftigt sei oder einen Termin außerhalb habe, sondern sagte nur: »Nein, tut mir leid.« Ein starkes Stück. Carol insistierte und rief ihn wieder an. Sie sei auf sein Expertenwissen angewiesen. Das war ihm egal. Schließlich bot sie ihm an, ihn zum Essen einzuladen, in ein Restaurant seiner Wahl. Da willigte er ein und nannte ein Fischrestaurant am Hafen. Zweifellos wusste er, dass dieses Restaurant in Carol Remarks Magazin erst kürzlich vorgestellt worden war, in einem Artikel über die zehn teuersten Restaurants der Welt.

Als Duke und Carol dort eintrafen, hatte Mr. Poole sich schon häuslich eingerichtet und die Vorspeisen probiert. Ein älterer Herr, soigniert – ein steingrauer Pullover, efeufarbene Cordhosen, weiter unten parkten seine glänzenden Oxfords. Seine frische Gesichtsfarbe war von der Art eines englischen Lords. Auch der weiche kalifornische Akzent brachte kaum Leben in seine Erscheinung.

Man setzte sich. »Das ist ja sensationell«, ärgerte sich Carol beim Blick auf die Speisekarte.

»Sehen Sie hier – Hummer zwanzig Dollar! Der kam wahrscheinlich mit unserem Flugzeug an. In dieser Gegend gibt es keine Hummer, oder? Der Hamburger klingt verlockend. Ich nehme eine Vorspeise.« Sie holte ihren Notizblock und einen Stift aus der Handtasche und legte beides auf den Tisch.

Als der Kellner kam, bestellte Carol einen kleinen Salat, Duke den Hamburger und Mr. Poole den Hummer. Er präzisierte: »Eine doppelte Portion, bitte. Zwei Hummer. Ich habe heute noch nichts gegessen. Und dazu eine ganze Schale Butter. Soll ich den Wein aussuchen?«

»Wir beginnen mit dem 1936er Georges de Latour Cabernet Sauvignon«, fuhr er fort. »Woher sie die Flasche wohl haben? Das war der erste Jahrgang. Den wollte ich schon immer mal probieren.«

Carol sah sich die Weinkarte an. Die Flasche kostete hundertzwanzig Dollar. Der Kellner kehrte mit der Flasche zurück und präsentierte sie Mr. Poole wie ein Neugeborenes.

»Darf ich bitte auch mal sehen?«, fragte Carol kleinlaut. Eine Flasche. Auf dem Etikett ein Schloss. Ziffern. Der Kellner hielt ihr die Flasche länger hin als nötig, als wäre sie ein Vexierbild. »Danke, das genügt«, sagte Carol und klopfte gegen die Flasche. Der Kellner ging zurück zu Mr. Poole, der es offenbar völlig normal fand, dass er als Erster bedient wurde. Carol sah mit Missfallen zu, als eine Flüssigkeit in blassem, gräulichem Violett herausfloss statt in tiefdunklem Rot, das sie bei einem solchen Preis erwartet hatte. Mr. Poole hob das Glas, schwenkte es und steckte den kalten Bolzen seiner Nase hinein. Carol kritzelte etwas in ihren Block und hörte nicht, wie Mr. Poole »Eine zweite Meinung« murmelte, den Kellner ansah und auf Dukes Glas deutete. Der Kellner schenkte auch dem jungen Mann ein wenig ein.

Carol legte ihren Block beiseite und starrte den Kellner verärgert an. Hastig goss er ihr einen Fingerhut voll ein. Sie sah Duke an seinem Glas schnuppern. Wie ein Hund, dachte Carol, ein Hund, der auf der Straße an einer Urinpfütze schnuppert. Schließlich setzte er das Glas an die Lippen. Während Mr. Poole Duke gespannt beobachtete, nahm Carol einen kleinen Schluck und überlegte, wie sie Mr. Pooles Aufmerksamkeit zurückgewinnen könnte. »Erzählen Sie mir bitte was über diesen Wein, Mr. Poole.« Sie zückte ihren Stift.

Zum Reden war Mr. Poole aber zu hungrig, und beim Essen konnte er erst recht nicht reden, dazu war der Hummer zu arbeitsintensiv. Er beantwortete alle ihre Fragen mit Nicken, Kopfschütteln, Achselzucken oder zeigte auf seinen vollen Mund. Als der letzte Bissen aus der Hummerschale gekratzt war, lehnte Mr. Poole sich zufrieden zurück. »Ich bin seit Jahrzehnten nicht mehr an der Ostküste gewesen«, sagte er, ohne jemanden direkt anzusprechen. »New York fehlt mir nicht. Die New Yorker auch nicht.«

Carol konnte ihre Verachtung nicht länger verbergen. Immerhin hatten New Yorker so viel Anstand, andere nur hinter deren Rücken zu beleidigen, dachte sie. Sie entschuldigte sich, sie müsse mal telefonieren. Kaum war sie verschwunden, entspannte sich Mr. Poole. Er setzte ein überschwängliches Lächeln auf, das dunkle, vom Wein verfärbte Zähne enthüllte.

»Ich finde, ich war jetzt gerade sehr unhöflich!«

»Sie ist eine berühmte Autorin«, protestierte Duke.

»Erzählen Sie mir lieber, wie es dem alten George Perkins geht. Ich hab mit ihm auf einer Auktion einmal um eine Flasche Burgunder gekämpft, seitdem reden wir nicht mehr miteinander. Eine Flasche 1945er Romanée-Conti. Er wollte sie für einen Kunden, ich wollte sie für mich haben. Niemand sonst wollte sie, und er hat den Preis weiter nach oben getrieben. Der Hund. Er gewann!«

»Das tut mir leid.«

»Sie können ja nichts dafür. George hat die Flasche mit einer kleinen Gewinnspanne verkauft. Für ihn war das rein geschäftlich. Einer seiner Kunden brauchte was zum Angeben. Es vergingen mehrere Jahre. Ich dachte so oft an diese Flasche. Dann musste der Besitzer Konkurs anmelden. Er musste sein Drei-Etagen-Apartment verkaufen. Der Romanée-Conti lag ganz hinten in seiner Hausbar. Der Insolvenzverwalter war gebildet, kannte den Wert und rief George an, und George rief meine Frau an, weil er wusste, dass ich nicht mit ihm reden würde. Der Wert hatte sich mehr als verhundertfacht. Meine Frau hatte auf einen neuen Volvo gespart. Statt sich selbst ein Auto zu kaufen, hat sie die Flasche Wein für mich gekauft. »Trink, während ich meine Mutter besuche«, sagte sie zu mir.«

»Und wie war der Wein?«, fragte Duke.

Mr. Poole versank in Schweigen. Dann rührte er sich endlich. »Sehr dumm von Ihnen, dass Sie nicht den Hummer bestellt haben.«

»Was ist mit dem Romanée-Conti?«, hakte Duke nach. »Carol kommt zurück.«

»Und sehen Sie: Sie spiegelt sich im Weinglas.« Mr. Poole hielt es hoch, beobachtete den Raum. »Nun ja, ich hatte Angst, enttäuscht zu werden. Diese Flasche Wein war meine verlorene und nach langer Zeit wiedergefundene Liebe. Ich wollte nicht bereuen, dass ich so oft an sie gedacht hatte. Ich öffnete die Flasche und ging damit zur Bushaltestelle. Ich habe sie dem Säufer geschenkt, der da immer bettelt. Nicht mal gerochen habe ich daran.«

Carol kam zum Tisch zurück. Er winkte ihr mit dem Glas zu und wiederholte: »Ich habe nicht einmal daran gerochen.«

Carol setzte sich. »Na, worüber redet ihr Experten?«

Mr. Poole stand auf. »Es war mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, und ich wünsche Ihnen viel Erfolg mit Ihrem Artikel. Ich muss jetzt wirklich nach Hause.« Sie schüttelten sich die Hände.

»Arschloch«, fauchte Carol, als er außer Hörweite war.

»Sehr gesprächig war er nicht«, tröstete Duke sie.

Sie fuhr ihn an: »Sie haben keine Ahnung davon, wie dieses Geschäft funktioniert, nicht wahr?«

In New York fuhr Lili gerade zur Arbeit ins Krankenhaus. Dukes plötzliche Abwesenheit ließ keinen Raum für einen Gedanken in ihrem Kopf. Ihr dummer Körper merkte nicht, dass niemand mehr ihn steuerte und er im Automatikbetrieb lief. Auf dem Korridor biss sie sich heftig in die Weichteile ihres Arms und hörte sich stöhnen. Der Schmerz bewies ihr immerhin, dass etwas Verstand noch da war, und wenn er auch nur ausreichte, um sich selbst zu verletzen. Sie entschuldigte sich bei ihrem Arm; es ging ihr besser. Schmerz war erträglicher als Angst. Als die Angst zurückkehrte, biss sie sich noch einmal in den Arm.

Der Arbeitstag näherte sich dem Ende. Doch dann? Die leere Nacht. Wei Wei war bestimmt längst mit dem Putzen fertig und auf dem Weg nach Hause. Als Dr. Mays sie zu einem späten Abendessen in die Kantine einlud, willigte sie ein. Sie wollte ihm von ihrem Elend erzählen, sein Mitgefühl ein Seil sich dran zu klammern.

Aber Dr. Mays hatte ganz andere Nöte. Seit Wochen dachte er an nichts anderes als Schwester Lili, wie sie jeden Abend fröhlich aufbrach, während er noch zögerte, zur Frau und den Kindern heimzukehren. Ihre auf dem Korridor verhallenden Schritte und das Schwingen der Tür waren eine Tracht Prügel. Der Begegnung mit Lilis Mann hatte er mit gemischten Gefühlen entgegengesehen und erleichtert festgestellt, dass auch ihre Ehe unglücklich war. Bei gehacktem Corned Beef und gebackenen Bohnen gestand er Lili, er habe Liebeskummer. Endlich konnte er sich aussprechen. Dr. Mays teilte Schwester Lili mit, dass sie ihn foltere.

Schwester Lili hatte nichts von Dr. Mays’ Verlangen geahnt. Sie war so überrascht, dass sie ihm nichts von ihren eigenen Sorgen erzählte. Es fiel ihr dadurch leicht, großzügig zu ihm zu sein. Sie beglückwünschte ihn zu seinem Marlboro-Mann-Gesicht, den süßwassergrauen Augen, die sich verengten, wenn er von seinen seelischen Schmerzen sprach. Der Duft seines Colorado-Sage-Rasierwassers verfolge sie.

Schwestern und Ärzte gingen rein und raus und fragten sich: »Was nehmen wir ein und was geben wir aus?«

Dr. Mays zog sich mit der Krankenschwester in sein Büro zurück. Die Begegnung war kurz und kraftvoll. Ist ja nur Sex, versicherte Lili sich danach. Und dem traurigen Doktor ging es jetzt besser. Seine Freude war ansteckend und linderte auch ihre Depression etwas. Wahnsinn, wie unterschiedlich Männer sein konnten. Sie freute sich auch, dass Dr. Mays sie in einem Taxi nach Hause begleitete, aber dann fragte er sie, warum sie keinen Lippenstift trage, und das verletzte sie. Plötzlich hasste sie den Geruch von Colorado Sage.

Zu Hause überfiel sie wieder die Angst. Was, wenn Duke niemals wiederkommen würde? Lili tigerte durch die Wohnung, kniff sich in den Arm und deklamierte: »Duke, Duke.« Über siebenhundertmal hatte sie seinen Namen heruntergeleiert, als das Telefon klingelte. Es war Duke. Ihre einzige Liebe. Er rief aus einer Telefonzelle an. Ein R-Gespräch. Sie stöhnte vor Erleichterung. Sie riss sich die Kleidung runter, warf sich aufs Bett und stellte sich vor, sie lägen beieinander und redeten. Er war ruhig. Er schien sich nicht an ihren Krach zu erinnern oder auch nichts dabei zu finden, dass er dreitausend Meilen weit weg war. Er erzählte nur von seinen Erlebnissen in San Francisco. Nach ein paar Sätzen fühlte sie sich wieder als Person und hatte sich unter Kontrolle. Sie sah die tiefen Bisswunden an ihrem Arm, von Blutergüssen umrahmt, und wurde wütend. Dafür war Duke verantwortlich.

Er redete weiter, während sie die Landschaft ihres nackten Körpers aus Dr. Mays’ Blickwinkel betrachtete. Dr. Mays hatte die Frechheit besessen, sie zu kritisieren, weil sie keinen Lippenstift trug. Duke kritisierte sie nie. Sie hörte seine Stimme, losgelöst von seiner Person, als wäre er tot und spräche aus dem Jenseits zu ihr. Ihre Wut verflüchtigte sich. Niemals darf er sterben! Sie unterbrach ihn mit einem Monolog, wie furchtbar ihr Tag gewesen sei und dass sie ohne ihn nicht leben könne. Jetzt, wo er angerufen habe, sei sie ruhiger. Sie flüsterte eine Entschuldigung – sie sei sehr müde; aus lauter Angst, nicht schlafen zu können, habe sie eine Valium genommen; dieses Bett hasse sie, wenn er nicht da sei.

In seinem Hotelzimmer zog Duke die Vorhänge zu, die über dem langen Fenster mit Blick auf die laute Straße hingen. Ihm gefiel das Geräusch: wuschhh. Feine Menschen hatten Vorhänge. Er bewunderte sein Bett. Selbst Mr. Baste würde sich hier wohlfühlen. Selbst der Fernseher hatte einen Angestellten: mit einer tragbaren Bedienung konnte man, wenn man nur wusste wie, wie von Zauberhand auch aus großer Entfernung den Kanal wechseln. Dem Schreibtisch fiel eine weniger imposante Stellung zu, aber auch er hatte goldene Ränder und feinstes Büttenpapier. Duke setzte sich an den Tisch, wie Mr. Baste es tun würde, und nahm den Stift in die Hand und den kleinen Notizblock. Der Stift schrieb wie von selbst. Er schrieb die Geschichte von Mr. Poole und seiner geliebten Flasche Burgunder, bis zwei ganze Seiten gefüllt waren. Duke richtete sich auf. Jetzt musste er nur noch die einzelnen Wörter zusammenfügen, bis Sätze und dann Absätze daraus wurden. Carol Remark würde es mit Stolz erfüllen, wenn sie von seinem Debüt als Autor erfuhr und es sich als Verdienst anrechnen. Und Lili wäre stolz, wenn Duke einen der Throne von New York City erklomm – den eines berühmten Schriftstellers. Er hätte nie einen Word Processor, denn so etwas »zerstört die Literatur«, aber dafür eine IBM Selectric. Er musste das Maschineschreiben lernen. Aber zuerst musste er schlafen. Er suchte sich eine Ecke des riesigen Bettes aus und machte es sich bequem. Die weißen reinen Laken erinnerten ihn an seine Frau, und sein Herz entflammte wieder, voller Liebe und Dankbarkeit. Ihr hatte er dieses wunderbare und unfassbare Leben zu verdanken.

Morgens machte er sein Bett selbst und faltete alles auf Kante. Er duschte, rasierte sich und zog den Kaschmir-Pullover mit größter Präzision an. Lilis Geschenk fühlte sich gut auf seiner Haut an. Er ging in die Lobby, um mit seiner Chefin zu frühstücken.

Carol Remark hatte furchtbar schlechte Laune. Ihr Redakteur hatte angerufen. Ein Kollege – das heißt: ein Rivale – habe gerade einen sehr schönen Artikel über kalifornischen Wein abgeliefert. Sie hatten sich nicht abgestimmt – von den Autoren des Magazins wurde nicht erwartet, dass sie ihre Themen mit den Redakteuren besprachen, und schon gar nicht redete man mit anderen Autoren darüber, damit sie einem nicht »die Idee klauten«. Die passende Antwort auf die Frage »Woran arbeitest du?« lautete: »Oh, darüber kann ich noch nicht sprechen.« Dann schlotterten alle in Erwartung des großen Wurfs.

»Also fliegen wir wieder zurück«, verkündete Carol. »Erstattet bekomm ich nichts. Das kommt alles aus meiner eigenen Tasche.«

Duke wollte sie trösten und meinte, dass der Ausflug vielleicht doch nicht vergebens gewesen sei. Er könne ja die Geschichte über eine Flasche Burgunder schreiben. Er legte seine Notizen auf den Tisch und hörte Carols Zähne aufeinanderschlagen, ein Geräusch wie beim Entsichern eines Revolvers.

»Was fällt Ihnen ein! Sie sind als mein Assistent mitgekommen. Nicht als ein weiterer Autor. Wagen Sie es bloß nicht, so was überhaupt zu versuchen.«

Das Flugzeug war leer. Er zwängte sich auf einen Platz in der letzten Reihe. Die Sitze kehrten ihm den Rücken zu, lauter Schultern ohne Köpfe, als wären sie enthauptet worden. Er fühlte sich wie ein Hund, der Essen vom Tisch gestohlen hatte und von Frauchen deswegen in den Garten verbannt wurde.

Auf halber Strecke sah er Carol in die Touristenklasse kommen und nach ihm Ausschau halten. Das erleichterte ihn. Er stand auf und winkte ihr zu. Sie schwankte beim Gehen wie ein betrunkener Matrose; der Flug war holprig. Sie sackte auf den Nebensitz, mit ihr der Geruch von Zigaretten und Zahnfäule. Er atmete durch den Mund. Sie entschuldigte sich für ihre so »energische« Reaktion. Sie warnte ihn vor dem Literaturbetrieb. Er solle sich besser davon fernhalten. Sie erzählte ihm, dass sie selbst in Wirklichkeit die Autorin von etwas sei, das sie »imaginative Fiktion« nannte. Sie hatte einen Roman geschrieben. Drei Jahre hatte sie dafür gebraucht. Als der letzte Satz geschrieben war, hatte sie den wolkenkratzerhohen Papierstapel auf den Schreibtisch gepackt und auf sich wirken lassen. Sie hatte sich in ihrem Bürostuhl zurückgelehnt und vor Seligkeit geweint. Alle hatten auf den Roman gewartet: ihr Agent, ihr Verleger, ihr Mann, die Freunde. Niemand hatte vorher eine Zeile lesen dürfen. Es sollte eine Riesenüberraschung werden. Sie hatte das Manuskript bloß noch kopieren und verteilen müssen. Sie war zur Damentoilette gegangen, um sich für diesen Anlass hübsch zu machen.

Bei ihrer Rückkehr war ihr Schreibtisch leer gewesen. Das Manuskript war verschwunden. Sie sei durch die Flure gerannt, fieberhaft auf der Suche, während ihr Herz sich wie ein Wildpferd aufgebäumt habe. Sie wisse noch, wie sich das Telefon in ihrer Hand angefühlt habe, der Hörer schwer und glitschig, als sie alle möglichen Leute um Hilfe gebeten hatte. Die Papierkörbe in dem Gebäude und die Abfalleimer in den Straßen der Umgebung waren durchforstet worden; Redakteure hätten wie Penner im Müll gewühlt. Carols Verleger hatte fünftausend Dollar Finderlohn ausgesetzt. Doch es gab keinen Finder. Er hatte die Summe auf zehntausend Dollar erhöht.

Carol war ins Krankenhaus eingeliefert worden. Ihr Agent hatte sie dazu gedrängt, sich hinzusetzen und unverzüglich alles noch einmal niederzuschreiben, solange die Erinnerung noch frisch war, aber im Krankenhaus hatte sie das nicht gekonnt; sie hatte unter dem Einfluss von Medikamenten gestanden und gelernt, wie man Topflappen häkelt. Ein Jahr lang war sie außer Gefecht gewesen. Das Magazin hatte niemand anderen für sie eingestellt, und ihr Büro war geschlossen geblieben. Als sie zurückkehrte, schrieb sie wieder journalistische Texte. Mehrere Jahre waren vergangen. Dann war sie eines Vormittags in ihr Büro gekommen und hatte gesehen, dass jemand die erste Seite ihres Buches unter der Tür durchgesteckt hatte. Sie hatte das Blatt überall herumgezeigt. Alle waren sich darin einig gewesen, dass es ein brillanter Anfang sei. Sie hatte eine Lösegeldforderung erwartet. Nichts. Sie hatte nie wieder ein Buch oder einen anderen fiktiven Text geschrieben; es war zu qualvoll.

Duke wusste nicht, wie er sie trösten sollte. Er wollte nichts Falsches sagen, deswegen schüttelte er nur bestürzt den Kopf. Nachdem sie eine Weile schweigend dagesessen hatte, entschuldigte sich Carol und ging zurück in die erste Klasse.

Nach der Landung in New York bot Carol Duke an, ihn im Taxi mitzunehmen; von ihrer Wohnung aus könne er zu Fuß nach Hause gehen. Am nächsten Vormittag solle er wiederkommen, dann würden sie über sein Honorar sprechen.

»Carol ist … in Ordnung«, berichtete er Lili. »Kannst du den Lippenstift abmachen? Ich erkenne dich gar nicht wieder.« Das Getrenntsein von ihr hatte eine Spannung in ihm erzeugt, als würde er in die Länge gezogen, um wieder mit ihr zusammenzukommen, und es war eine grenzenlose Erleichterung, in ihrer Nähe zu sein.

Er beklagte sich nicht über Carol Remark. Er hatte sich mit ihr anfreunden wollen, aber das war ihm nicht gelungen, und so schilderte er stattdessen sein Abendessen mit dem legendären Mr. Poole. Lili witterte die Auslassungen und traktierte sein Gedächtnis mit scharfen Nachfragen, bis die Einzelheiten unsortiert herausquollen. Er war ein konfuser Erzähler und fing damit an, wie empört seine Chefin über Mr. Pooles üppige Bestellung im Restaurant gewesen sei. Lili fand alles, was er sagte, amüsant und geistreich. Er aalte sich in ihren Komplimenten, die ihm nach Carol Remarks Zurechtweisungen sehr willkommen waren.

Schließlich zeigte er Lili seine Notizen für die Biographie einer Flasche Wein.

»Soll ich das für dich abtippen?«, bot sie an. »Kann ich gerne machen.« Duke ging auf und ab, deklamierte wie ein Prediger. Er lauschte dem Kreuzfeuer ihrer Finger auf der Schreibmaschine. »Und morgen bringe ich dir bei, wie man tippt. Du kannst meine Schreibmaschine haben, ich will sie nicht mehr.«

Lili brauchte eine Stunde, um Dukes anekdotischen und gemütlichen Ton auf Papier einzufangen. Am Ende, sagte sie, glich das Ergebnis einem der Artikel des Magazins, für das auch Carol Remark schrieb.

Am nächsten Vormittag zeigte Duke Mr. Perkins das Ergebnis der Arbeit, eine lange Geschichte über die unglückliche Liebesaffäre eines kalifornischen Weinhändlers mit einer Flasche Burgunder. Sein Mentor las und sagte: »Junger Mann, das ist ein Meisterwerk.«

Er wurde direkt vor Carol Remarks Nase gedruckt, von einem Magazin, das ebenso renommiert wie ihres war, wenn man Renommee, wie in New York üblich, nach Honorar bemisst. »Ein Dollar pro Wort!«, sagte Duke, als er mit den Druckfahnen nach Hause kam, denn er hatte die Goldene Regel verinnerlicht: Du sollst nicht zu erwähnen vergessen, wie viel man dir bezahlt, wenn man dich gut bezahlt.

Das Honorar von Carol Remark holte er sich nie ab. An dem Tag, als sein Artikel erschien, gewannen kalifornische Weine bei einer Blindverkostung in Paris den ersten Preis; französische Sommeliers zogen amerikanische Wildwestweine ihren eigenen vor – ein epochales Urteil. Dieser Triumph brachte eine Welle patriotischer Gefühle ins Rollen. Und Duke ritt darauf. Von einer Minute auf die andere war Wein der letzte Schrei. Die Schreibmaschine stand in seinem Zimmer.

Duke brauchte kein Autor zu sein. Schließlich sind Hinz und Kunz Autoren. Sein Gespür für Wein war beispiellos, und sein Flug nach ganz oben schien gesichert.

Schwarz und Weiß

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