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Einzelunterricht für Fortgeschrittene in New York
ОглавлениеDas afrikanische Gewand wurde in Nairobi am Flughafen zurückgelassen und gegen eine Uniform getauscht, die in New York zurückblieb. Ein Jahr verging und noch weitere. Lili hatte gehofft, dass ihre Ehe sie aus dem Muttergestein ihrer Familie herausbrechen würde. Es war nicht geschehen.
»Können wir nicht aus New York wegziehen?«, sagte sie eines Tages. »Lass uns in deine Heimat ziehen, in den Süden, und glücklich sein bis ans Ende unserer Tage. Als Krankenschwester kann ich überall arbeiten.«
»Ja, das können wir«, antwortete Duke. »Aber lass uns noch ein bisschen warten.«
In New York war er mitten im Geschehen, wurde ins Theater mitgenommen, in die Oper und selbst zu kleinen Aufführungen interessanter neuer Kammermusik.
Solche irdischen Vergnügungen waren für die Stones kostenlos; ihre Anwesenheit galt als Aufwertung jeder künstlerischen Darbietung. Duke hatte schnell begriffen, wie man Eindrücke sammelte und mit anderen darüber diskutierte. Mittlerweile fand er sich ganz allein im Kulturteil der Times zurecht, der anfangs wie eine gefährliche Stromschnelle ausgesehen, sich jedoch bald in einen berechenbaren Meinungsfluss verwandelt hatte. Und er erkannte jetzt mühelos, was guter Geschmack war, er konnte zustimmen oder unverbindlich widersprechen und einen Satz dezent mit »Meiner Meinung nach« beginnen, seit er den leichten Nachdruck beim Sprechen beherrschte, eine winzig kleine Hebung bei dem Wort »mein«, die in New York gesundes Selbstvertrauen signalisierte. Fand er sich einmal außerhalb seiner Liga wieder, hörte er aufmerksam und gebannt zu, was denen, die redeten, außerordentlich willkommen war.
Die Stones bestanden darauf, dass Duke sich bei all ihren Zusammenkünften zeigte, und Lili kam sich weiter wie die ungeliebte Prinzessin vor, die einen beliebten Parvenü geheiratet hatte. Sie saßen nebeneinander, und während der Saft des Roastbeefs auf ihrem Teller sie dazu brachte, ein Forschungsprojekt zu schildern, in dem es um Blutgerinnsel ging – degoutant –, hielt Duke sein Glas in unterschiedlichen Neigungswinkeln, wobei der Ehering an seiner Hand funkelte, und studierte die Flüssigkeit, in der er fraglos etwas sah, das niemand sonst sehen konnte. Er steckte die Nase so tief wie möglich hinein, bevor er schließlich einen winzigen Schluck nahm und mit allen Sinnen untersuchte, als wäre es ein neuentdeckter Planet. Nachdem er zum ersten Mal den Ring gehört hatte, verglich er Weine für eine Zeit lang mit unterschiedlichen Figuren der Nibelungensage.
»Vollmundiger Siegfried«, sagte er zu einem Barolo.
»Hättest du ihn nicht geheiratet, dann hätten wir Duke adoptiert«, erklärte Vlado. Lili wich zurück und überließ ihnen ihren Mann. Sie wurde zur Außenseiterin und er zum auserwählten Sohn.
Die Stones waren immer sehr gesellig gewesen. Sie telefonierten ständig mit bestimmten Leuten, die fast alle Bucky ausgewählt oder zumindest genehmigt hatte. Obwohl die Stones standesbewusst waren, ließen sie sich dadurch nicht vorschreiben, wen sie zu ihren Freunden zählten. Sie dachten nicht darüber nach, ob ihnen jemand »nützlich« sein könnte. Dafür teilten sie die Welt unbekümmert in Leute, die »interessant«, und solche, die es nicht waren. Es gab Unterabteilungen für solche, die dauerhaft, und solche, die nur ein, zwei Abende lang interessant waren, da sie von der Norm abwichen – durch eine eigenartige Vergangenheit oder ungewöhnliche Behinderung. Menschen mit viel Esprit und hoher Begabung konnten auf ihre Freundschaft zählen, falls sie künstlerisch oder sozialwissenschaftlich tätig waren und nicht naturwissenschaftlich, was die Stones langweilig fanden.
Das Placement in diesem Gefolge wurde bei einer ersten Promenade festgelegt: einer Theaterpremiere oder einer Vernissage, Lesung oder Party. Vlado beteiligte sich nicht an der Auswahl. Er ging zu den meisten Festivitäten, weil sie sich nach Sonnenuntergang abspielten und er nichts mit sich anfangen konnte, wenn die geistige Konzentration nachließ. Er stand einfach herum, bis man ihm einen Stuhl brachte, und dann saß er in einer Camelwolke da und paffte, wie andere atmeten, und wenn ihm etwas einfiel, redete er eruptiv auf jeden ein, der sich ihm zuwandte. Wenn andere sprachen, machte er sich nicht die Mühe, Interesse zu zeigen. Sein Blick ging ins Leere, und der jeweilige Gesprächspartner verabschiedete sich bald unter irgendeinem Vorwand. Mit sich allein amüsierte Vlado sich bestens.
Die größer gewordene Familie verwandelte Vlado. Seine Tochter war ihm immer als fremdartiges Wesen mit einem fremdartigen Körper und einer fremdartigen Denkweise erschienen. Was sie verband, war die Vorliebe für Camels, die sie nach ihrem Auszug an die Uni von ihm übernommen hatte, um ihm auf ihre Art nahezubleiben. Seine Frau rauchte Kents. Sein schwarzer Schwiegersohn aus den Südstaaten hingegen, der überhaupt nicht rauchte und der, wie er fand, kultivierter war und eine subtilere Herzensbildung besaß als alle ihm bekannten Künstler, kam ihm fast altvertraut vor. Er wollte ihn beschützen, und er interessierte sich für ihn auf eine Weise, wie er sie zuvor noch nie jemandem gegenüber empfunden hatte. Vlado war auf der Hut vor Raubvögeln.
Einmal kam ein linker Linguist aus Paris zum Abendessen. Statt Blumen brachte er mehrere seiner Bücher mit, die Bucky ungeöffnet auf einem Couchtisch liegenließ, wo Duke sie entdeckte. Er blätterte in den schwergewichtigen Bänden mit einem Ausdruck der Ehrfurcht. Dem Linguisten wäre es lieber gewesen, wenn Bucky die Bände mit diesem Ausdruck studiert hätte, und er wurde nervös. Er sah es als Beweis seiner moralischen Objektivität an, dass er die Ansichten eines Schwarzen anzweifeln konnte, und nachdem die große Gesellschaft sich am Tisch niedergelassen hatte, riskierte er eine joviale öffentliche Attacke: »Duke, ich bin mir sicher, dass ich Wein genauso liebe, wie Sie es tun, und wahrscheinlich habe ich mehr davon getrunken als Sie. Aber wenn es auf der Erde mehr als vier Milliarden Menschen gibt, von denen drei Viertel hungern, wie kann man dann sein Leben dem Wein weihen?«
Gottes Faust schlug auf den Tisch, bevor Duke antworten konnte – ein Überschallknall ließ die Fensterscheiben erzittern und schleuderte Vlados Hand gegen das Rotweinglas seines Tischnachbarn, sodass sein Inhalt sich über die cremefarbene Leinenhose des Franzosen ergoss. »Vielleicht sollten Sie nach Hause gehen und sich umziehen«, schlug Vlado vor und sprang auf, um ihn zur Tür zu bringen: »Sie lassen uns doch sicherlich wissen, wie man sein Leben bei den Millionen Hungernden in der Welt dem Ursprung des antiken armenischen Buchstabens H widmen kann!«
Er ging zurück zu Duke und fauchte: »Dir werde ich noch Arroganz beibringen! In dieser Runde bist du der allerinteressanteste Mensch! Nie wieder wirst du jemandem schmeicheln. Das ist jetzt vorbei.«
Später an diesem Abend, als das Frauenvolk sich im Wohnzimmer eine Wiederholung von »Die Sieben-Millionen-Dollar-Frau« ansah (Lili fand das unterhaltsam, und Bucky betrachtete es als bedeutsames Beispiel zeitgenössischer Volkskunst), rief Vlado Duke zu sich in sein Arbeitszimmer.
Mit einer verächtlichen Geste, als würfe er stinkende Essensreste weg, schmiss Vlado einen Stapel alter Fotos in den Papierkorb. Dabei behielt er Duke im Auge. Die Fotos zeigten bekannte Gesichter. Der Ruhm flog in den Papierkorb.
Duke hatte, wie Vlado wusste, gelernt, dass alle Fotos, auf denen man selbst an der Seite einer Berühmtheit zu sehen war, gerahmt und an prominenter Stelle platziert werden mussten. Die Fotos waren eine wichtigere Währung als ein großes Auto oder ein protziges Schmuckstück. Meist gab es in New York wenig Platz, Beistelltische und die Deckel von Klavieren, die sich nicht mehr richtig öffnen ließen, hielten für aufgestellte Familienfotos her, damit die Besitzer samt ihrem Hofstaat und ihren hochstehenden Bekannten renommieren konnten. Je mehr Fotos man hatte, desto reicher war man. Wer nur ein bedeutendes Foto besaß, hängte es in die Eingangshalle, um die Besucher schon auf der Türschwelle in Angst und Schrecken zu versetzen.
Dukes Wohlstand war in dieser Hinsicht noch gleich null. Duke lag nichts daran, mit extrem einflussreichen Leuten herumzukungeln, sondern nur mit denen, die das ihrerseits taten.
»Macht sich Mr. Perkins was aus solchem Mist? Ich wette, dass er ihn zur Schau stellt, um Kunden anzulocken«, sagte Vlado, während die Bilder in den Abfall segelten. Und tatsächlich stellte Mr. Perkins sie zur Schau – silbergerahmte Fotos auf einem Tisch mit Marmorplatte, einem Altar, den Duke von jedem Körnchen Staub freihielt. Nicht vorn im Geschäft, wohlgemerkt, sondern ganz hinten, wo sich nur die seriösen Kunden tummelten, dort, wo das Hochamt der Weinproben stattfand.
»Ja, er hat ein paar«, sagte Duke, von Vlados Achtlosigkeit so erschüttert, dass er mit seiner Hand in den Papierkorb langte und ein Foto rettete, welches Vlado mit der First Lady des Landes zeigte. Sein eigener Schwiegervater mit einer First Lady.
»Am Respekt vor Berühmtheiten kann man die eigene Demut erkennen«, versetzte Vlado. »Ich bin nicht demütig.«
Für solchen Unfug hatte Duke keine Antenne. »Ich rahme dir das«, sagte er. »Es wäre mir ein Vergnügen.«
Vlado lachte. »Aber ich will es doch wegschmeißen! Mrs. Ford ist eine Kuh! Weshalb sollte ich mich mit ihr sehen lassen?«
Duke behielt seine Gedanken unter Verschluss; auf einen Kampf war er nicht aus. Vlado schnappte sich das Foto, und bevor Duke reagieren konnte, zerriss er es und warf die Fetzen in den Papierkorb.
Duke kam es vor, als hätte er gerade jemandem beim Schreddern vieler Banknoten zugesehen. »Wann hast du sie kennengelernt?«, fragte er.
Vlado fasste seinen Schwiegersohn ins Auge und fuhr mit dem Unterricht fort.
»Vor ein paar Tagen hat mich jemand angerufen und zu einem Treffen mit einem Mr. X eingeladen. So hatte ich es jedenfalls verstanden. Ich sagte: Gut, wenn Sie darauf bestehen, obwohl ich wirklich nicht weiß, warum. Dann wurde mir nahegelegt, mit niemandem darüber zu sprechen. Aber mit wem hätte ich darüber sprechen sollen? Ich hatte nicht mal den Namen verstanden. Das konnte also kein Problem sein. Dann habe ich nicht mehr daran gedacht. Letzte Woche klingelte es an der Tür. Bucky war nicht da, also musste ich öffnen. Es war ein Chauffeur. Er hetzte mich die Treppe runter – ich vergaß sogar mein Portemonnaie. Die Fahrt ging bis nach Washington. Lunch im Weißen Haus. Ich wurde neben diese Frau gesetzt, und offensichtlich hat uns jemand fotografiert, ohne dass ich es merkte. Ich kann solche Einladungen nicht ausstehen. Der ganze Tag war im Eimer.«
»Was hat es zu trinken gegeben?«
»Das weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich nicht mal an das Essen.«