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In Antônios Welt war Nächstenliebe nicht nur ein Wort. Sein Vater hatte es ihm täglich vorgelebt. Tag ein, Tag aus waren Menschen zu ihm gekommen und hatten um Hilfe gebeten. Nicht nur weil er Priester war, sondern auch ein Mensch, der sein Leben radikal geändert hatte. Für viele war er ein Vorbild und sie schätzen seinen Rat. Stets die richtigen Worte findend, hatte er meistens eine Idee für einen Ausweg, den die Betroffen selbst nicht erkannten.

Er versuchte Dinge zu bewegen.

Menschen zu bewegen.

Seine ganze Kraft, seine ganzes Tun setzte er dafür ein, dass sich die Zustände in der Favela zum Besseren wendeten. Er sprach mit dem Gangsterboss. Versuchte ihm immer wieder klarzumachen, was für ein Elend und Leid die tagtäglichen Schießereien mit sich brachten. Wenn unschuldige Kinder beim Spielen durch verirrte Kugel getötet oder schwer verletzt wurden. Wenn sie jämmerlich an ihren Verletzungen zu Grunde gingen. Wenn unbeteiligte Passanten angeschossen wurden oder starben.

Er initiierte Projekte. Baute Sozialstationen auf, als diese noch kein Begriff für irgendjemand waren. Motivierte Jung und Alt, sich in ihrer Nachbarschaft zu engagieren, anderen zu helfen. Alte sollten sich um Kinder kümmern. Junge sollten den Alten helfen.

Er versuchte die Leute aufzuklären.

Versuchte ihren Horizont zu erweitern.

Versuchte die Leute aufzurütteln.

Sie aus ihrer Lethargie zu befreien.

Aus dem, was sie für vorbestimmt hielten, herauszureißen.

Ihre Augen zu öffnen, denn die meisten waren blind und schicksalsergeben.

Anfänglich fing er bei grundsätzlichen Dingen, wie Körperhygiene, an. Beschrieb ihnen anschaulich, was passiert, wenn man sich, seine Wohnung und sein Umfeld nicht pflegt. Zeigte den Leute, wie man sich ganz einfach, mit wenig Mitteln, ein halbwegs anständiges Leben erschaffen kann. Wie kleine Dinge viel bewirken können.

»Schaut zum Beispiel den ganzen Dreck an, der hier in den Gassen und Rinnsalen herumliegt. Der ganze Unrat verpestet eure Umwelt. Dadurch habt ihr eine wesentlich geringere Lebenserwartung, als in einem Umfeld, das sauber ist. Doch ihr wisst das nicht, sonst würdet ihr euren Dreck nicht einfach vor die Türe kehren. Ihr hättet euch schon längst einen abseits gelegenen Platz für euren Unrat gesucht. Ihr werdet sehen, wenn ihr nur ein bisschen mehr auf Sauberkeit achtet, werdet ihr und eure Kinder nicht mehr so viele gesundheitliche Probleme haben. Ich habe schon ein paar Leute gefunden, die zugesagt haben mitzuhelfen, den Dreck zu beseitigen. Und ich hoffe, auch hier werden einige mitmachen. Doch am wichtigsten ist: Ihr müsst es vermeiden, dass überall Dreck hingekippt wird. Wenn jeder sein Haus und die paar Meter zum Nachbar sauber hält, ist schon die meiste Arbeit getan.« Die Leute nickten und mehrere sagten, sie würden ebenfalls mithelfen, sauber zu machen.

Er machte ihnen auch verständlich, wie wichtig Bildung ist und was man damit alles erreichen kann: »Wenn man lesen kann, kann man Dinge verstehen, die vorher rätselhaft waren. Viele von euch haben Probleme mit den Behörden, doch nur weil sie nicht verstehen, was auf den Dokumenten steht. Welche Fragen beantwortet werden müssen. Wenn ihr lesen könnt, ist das der erste Schritt zum Verstehen. Wenn ihr versteht, wird es für jede Behörde schwierig, euch euer Recht zu verweigern. Viele von euch wurden dort schikaniert, denn die denken: Der ist ja eh nur ein ungebildete Favela-Kreatur. Was nimmt der sich nur raus, der kann ja noch nicht mal lesen. Die lachen über euch. Ihr werdet sehen, lesen wird euch Selbstvertrauen schenken. Ihr werdet kein Spielball mehr für unfähige, faule, überhebliche, hochnäsige und korrupte Beamte sein. Ihr werdet euch trauen, auf den Tisch zu hauen. Das wird euch reifen lassen und dadurch werdet ihr euch ein besseres Dasein schaffen und euren Nachbarn ebenso. Das Gute wird weiteres Gutes nach sich ziehen. So wie Schlechtes, Schlechtes nach sich zieht.«

Die Bewohner nickten und dankten ihm, doch auch er konnte nicht alles verbessern. Vieles benötigte Zeit, viel Zeit. Eingefahrene Verhaltensweisen zu ändern, das war eine Herkulesaufgabe. Doch er bewegte viel. Alle spielten mit, nur nicht die Politiker und der Dono der Favela.

Als Sohn von Tiago wollte auch Antônio seinen Teil dazu beitragen und half, wo er helfen konnte. Er unterstützte seinen Vater bei dessen Projekten, engagierte sich in einer der Sozialstationen, die dieser aufgebaut hatte. Er bastelte mit Behinderten, spielte Fußball mit Kindern. Trug Alten ihre Einkäufe nach Hause. Setze sich ein, wo er sich einsetzen konnte und war ein allseits beliebter Junge.

Was er gar nicht ausstehen konnte, war, wenn Unrecht geschah. Wenn ein Kleinerer oder Schwächerer gehänselt, unterdrückt oder geschlagen wurde. Dann schritt er sofort ein und legte sich auch mit weit Älteren an. Er bekam den Nimbus eines Furchtlosen. Er war beherzt und unerschrocken, mutig und kämpferisch, das sprach sich herum. Wenn Schlechtes geschah, ging er keiner Konfrontation aus dem Weg. Das war sein Wesen.

Es war von der ersten Sekunde an klar, dass er den Mörder seines Vaters suchen und stellen würde.

Tödlicher Samba

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