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II. Die Kritik Wolfgang Frischs

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Auch Wolfgang Frisch hat sich für einen Umbau des Straftatsystems ausgesprochen.[151] Er möchte zwar an der Abfolge von Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Schuld nichts Grundsätzliches ändern,[152] plädiert jedoch dafür, zusätzlich die Abweichung von der jeweiligen Verhaltensnorm als freilich noch näher auszuarbeitende Systemkategorie einzuführen. Er fordert deshalb die Formulierung von „klar umrissene[n], auf den Zeitpunkt des Handelns bezogene[n] Verhaltensnormen“.[153] Ein differenziertes, „auf die Perspektive des handelnden Bürgers“ zugeschnittenes „System von Verhaltensnormen“, welches dem Bürger „unter Berücksichtigung des vor der Handlung verfügbaren Wissens sagt, ob und unter welchen (ex ante gegebenen bzw. feststellbaren) Voraussetzungen ein Handeln im Blick auf den etwaigen Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs prinzipiell verboten oder generell erlaubt ist“[154] wäre in der Tat schon im Hinblick auf den Bestimmtheitsgrundsatz wünschenswert.[155]

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Gegen Frischs Vorschlag lassen sich freilich auch Bedenken vorbringen: Eine auch nur einigermaßen präzise Ausarbeitung von relevanten „Verhaltensnormen“ dürfte gar nicht möglich sein, weil sich die in der Realität auftretenden Fallgestaltungen nicht voraussagen lassen. Das bisherige, am Rechtsgüterschutz orientierte Modell einer Verhaltensnorm – „Verletze nicht das Leben!“, „Verletze nicht die körperliche Unversehrtheit!“, usw.[156] – ist zwar ungenau, erlaubt dem handelnden Bürger aber doch in fast allen Einzelfällen eine Orientierung.[157] Die Ausarbeitung des genauen Inhalts der den Sanktionsnormen des StGB zugrundeliegenden Handlungsnormen ist Aufgabe der Rechtswissenschaft und letztlich der entscheidenden Gerichte, die in Zweifelsfällen festzustellen haben, was dem Akteur im Einzelfall geboten war und was nicht. Diese Regeln sozusagen a priori zu explizieren und festzuschreiben dürfte gar nicht möglich sein. Ein solches System von Verhaltensnormen wäre außerdem so kompliziert, dass es für den Bürger nicht mehr nachvollziehbar wäre und deshalb auch nicht handlungsleitend wirken könnte.[158] Dies dürfte durchaus in einem Spannungsverhältnis zu Art. 103 Abs. 2 GG stehen; anschaulich spricht Jäger in einem anderen Zusammenhang von „Unterbestimmtheit durch Überbestimmtheit“.[159]

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Des Weiteren regt Frisch an, eine neue eigenständige Systemkategorie zu schaffen, in der thematisiert wird, ob durch das Täterverhalten das Recht überhaupt in Frage gestellt wurde.[160] Damit soll geklärt werden, ob bzw. inwieweit es erforderlich ist, auf die entsprechende Tat mit Strafe zu reagieren.[161] Als Beispiel für eine im Rahmen dieser Kategorie zu behandelnde Fragestellung nennt Frisch den freiwilligen Rücktritt vom Versuch.[162]

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Auch dieser Vorschlag erscheint jedoch nicht unproblematisch. Zwar ist es reizvoll, verschiedene bislang verstreut und nicht immer systematisch überzeugend eingeordnete Fallgestaltungen wie den freiwilligen Rücktritt vom Versuch in einer neuen, auf einen einheitlichen Grundgedanken zurückzuführenden Systemkategorie zu behandeln. Allerdings könnte mit der Schaffung einer solchen Großkategorie leicht ein Verlust an Detailschärfe und damit eine Zunahme von Unbestimmtheit einhergehen.

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Frischs Vorschlag ähnelt in Manchem der Prüfkategorie der Strafwürdigkeit oder auch der „Sozialschädlichkeit“, der im überkommenen sowjetischen Aufbau (s.o. Rn. 17) eine beträchtliche Bedeutung zukam. Man wird allerdings fragen dürfen, ob eine so interpretationsoffene und damit missbrauchsanfällige Kategorie im Straftatsystem eines rechtsstaatlichen Strafrechts einen Platz finden sollte.[163] Auf jeden Fall wäre es erforderlich, innerhalb der neuen Systemkategorie Untergruppen zu bilden, welche die jeweiligen Fragestellungen differenziert behandeln. Damit wird fraglich, was gegenüber dem herkömmlichen Aufbau über eine Umgruppierung der einschlägigen Fallgruppen und ihre Einordnung unter eine einheitliche Leitidee hinaus gewonnen wäre.

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Alles in allem sprechen die besseren Argumente dafür, das Standardmodell der h.M. – Verbrechen als tatbestandsmäßige, rechtswidrige und schuldhaft begangene Handlung – beizubehalten und das Straftatsystem an den auch bisher akzeptierten Kategorien auszurichten. Natürlich kann es über die genaue Verortung des einen oder anderen Problems mit guten Gründen unterschiedliche Meinungen geben.[164] Es handelt sich dabei aber um Verschiebungen, die nach einem Bild Ulrich Webers mit dem Umherrücken von Möbeln in einem Wohnzimmer vergleichbar sind und nicht zu tiefschürfenden Grundlagenauseinandersetzungen Anlass geben sollten.

6. Abschnitt: Die Straftat§ 27 System- und Begriffsbildung im Strafrecht › G. „Normativ“ und „Normativismus“ – Kritik zweier Modevokabeln

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