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I. Bedeutungsvarianten von „normativ“

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In der Rechtswissenschaft findet sich eine Vielzahl von Verwendungsformen der Konzepte „normativ“ bzw. „Normativismus“, die teilweise an den philosophischen Sprachgebrauch anschließen, teilweise aber auch davon abweichen und häufig nicht auseinandergehalten werden. Grosso modo lassen sich folgende Verwendungsweisen unterscheiden:

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In seiner Kernbedeutung meint „normativ“, dem in Rn. 84 skizzierten philosophischen Sprachgebrauch folgend, „wertend“ oder „bewertend“. Er bezieht sich auf eine bestimmte Kategorie von Aussagen, etwa Sätze der Art „Dieses Bild ist schön“ oder „Dieser Mensch ist gut“. Zur besagten Kernbedeutung von „normativen Ausdrücken“ gehören aber auch Forderungen und Imperative wie „A soll x tun!“ oder „A, tue x!“.[168] Wertende und fordernde bzw. befehlende Aussagen hängen miteinander zusammen, jedoch ohne dass die Logik dieser Art von normativen Aussagen als vollständig geklärt gelten könnte. Zuständige philosophische Fachdisziplin ist die Metaethik.[169]

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Nach einer zweiten Verwendungsweise ist jeder Begriff „normativ“, der in einer Norm, zum Beispiel einer gesetzlichen Regelung, vorkommt. So wäre etwa der Begriff „Sache“ ein normativer Begriff, da er u.a. in den §§ 242, 303 StGB verwendet wird. Legt man diesen Sprachgebrauch zu Grunde, so kann grundsätzlich jedem Wort der Sprache durch seine Verwendung in einem Gesetz normativer Charakter zukommen.

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Mit „normativ“ kann aber auch gemeint sein, dass Werte oder Normen formuliert oder „gesetzt“ werden. Gebraucht man den Begriff so, so bezieht er sich auf Tätigkeiten, eventuell auch auf Personen oder Einrichtungen, die diese Tätigkeit durchführen. So kann etwa ein Individuum (etwa der Monarch), aber auch ein Parlament „normativ“ tätig sein, indem es Rechtsnormen festlegt. Damit verwandt ist die Redeweise von der „normativen Kraft des Faktischen“.[170]

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In einer vierten Verwendungsweise meint „normativ“, dass sich ein Ausdruck auf Normen bezieht. In diesem Sinn ist der Begriff „fremd“ ein normativer Begriff, weil er sich auf die sachenrechtliche Eigentumsordnung bezieht.[171] Damit verwandt ist die Vorstellung, die Rechtswissenschaft insgesamt sei eine normative Disziplin. Damit soll sie sich von den empirischen Fächern, also etwa der Physik, der Chemie oder der empirischen Soziologie, unterscheiden.[172].

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Eine fünfte Verwendungsweise des Konzepts „normativ“ findet sich in Ausdrücken wie „normative Ordnung“ oder „normatives Prinzip“. Damit soll in der Regel ausgesagt werden, dass die Ordnung bzw. das Prinzip Normen oder Werte enthält oder festschreibt. So ist etwa das Grundgesetz eine normative Ordnung, Freiheit und Gleichheit sind normative Prinzipien. Dagegen wäre der Satz „Das Grundgesetz ist eine normative Ordnung“ deskriptiv zu verstehen; er stellt eine zutreffende (wahre) Tatsachenaussage dar.

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Eine weitere, in der Jurisprudenz besonders stark verbreitete Verwendungsform gebraucht „normativ“ als Synonym von „durch Festsetzung“ oder „durch Entscheidung“. Dieser Sprachgebrauch wird benutzt, wenn man sagt, ein Begriff bzw. ein Begriffsinhalt werde „normativ“ festgelegt, also definiert. Man kann außerdem davon sprechen, eine Problemlage „normativ“ zu lösen, indem man sich „wertend“ für den einen oder anderen Lösungsweg entscheidet.

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Damit eng verwandt ist die Rede von der Notwendigkeit einer „normativen“ Bedeutungsfestsetzung. So wird etwa häufig davon gesprochen, das zu weite Kausalitätskonzept der conditio-sine-qua-non-Formel (im Folgenden csqn-Formel) „normativ“ einschränken zu müssen (siehe oben Rn. 60). Dahinter steht die Vorstellung, die Kategorie der Kausalität (i.S.d. csqn-Formel) sei quasi von Natur aus vorgegeben (manche Autoren sprechen in dem Zusammenhang gern von „Naturalismus“, dazu oben Rn. 46 ff.), während die einschränkende Formel von der „objektiven Zurechnung“ auf einer Wertung beruhe und damit „normativ“ zu verstehen sei.[173]

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Diese Vorstellung ist allerdings irreführend. Zwar trifft zu, dass die Entscheidung für eine bestimmte Fassung der Lehre von der objektiven Zurechnung, ja schon die Entscheidung, die als zu weit empfundene csqn- Formel überhaupt einschränken zu wollen, Entscheidungen impliziert, und in diesem Sinne „normativ“ ist. Aber auch die Festlegung auf die Verwendung der csqn-Formel als Definition oder Kriterium von Kausalität beruht auf einer Entscheidung und ist insofern normativ.[174] Begriffliche Festlegungen (Definitionen) sind stets normativ.[175] Die Tatsache, dass eine bestimmte (fachjuristische) Begrifflichkeit meist bereits in der Alltagssprache oder in einer bestimmten Fachsprache verwendet wurde, bevor sie in den juristischen Sprachgebrauch übernommen wird, ändert daran nichts.

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Denkbar ist es aber auch, „normativ“ im Sinne von „durch Normen“ oder „unter Verwendung von Normen“ zu gebrauchen. So ließe sich etwa sagen, dass ein Interessenkonflikt normativ (also etwa durch Gesetz oder Richterspruch) geregelt werden solle, und nicht durch Gewalt oder Machtausübung. Diese siebte Verwendungsweise des Ausdrucks „normativ“ ist mit der sechsten Verwendungsform eng verwandt; nicht selten wird es sich dabei sogar um eine Spezialform handeln.

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In einer achten Verwendungsweise meint „normativ“, dass zum Verständnis oder zur Verwendung des in Frage stehenden sprachlichen Ausdrucks eine Wertung, insbesondere eine Eigenwertung, erforderlich ist. Verwendet man das Konzept in dieser Weise, so bezieht es sich vor allem auf Begriffe. Ein Hauptanwendungsfall im Recht sind die „wertausfüllungsbedürftigen Merkmale.“[176] So ist etwa der Begriff „rücksichtslos“ in § 315c Abs. 1 Nr. 2 StGB ein normativer Begriff, da seine Verwendung eine Eigenwertung des Rechtsanwenders voraussetzt. Die Dogmatik kennt ferner „gesamttatbewertende Merkmale“ wie die Verwerflichkeit bei § 240 Abs. 2 StGB.[177] Derartige Eigenwertungen stehen in einem Spannungsverhältnis zur Objektivität und Transparenz der Rechtsanwendung; sie sind jedoch, wie die moderne Methodenlehre gezeigt hat, unvermeidbar (→ AT Bd. 1: Hans Kudlich, Die Auslegung von Strafgesetzen, § 3).

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Damit verwandt ist die Unterscheidung von deskriptiven und normativen Tatbestandsmerkmalen. Deskriptive Tatbestandsmerkmale sind Merkmale, die „sich auf natürliche Eigenschaften von Personen und Objekten [beziehen], deren Vorhandensein empirisch oder durch Berechnung festgestellt werden kann“, während normative Tatbestandsmerkmale sich dadurch auszeichnen, dass sie sich „auf Eigenschaften [beziehen], die auf einer sozialen bzw. rechtlichen Regel beruhen“.[178] Ein Beispiel für ein normatives Tatbestandsmerkmal in diesem Sinne ist etwa die Verletzung „fremden Jagdrechts“ (§ 292 StGB).

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Die skizzierten Verwendungsweisen des Ausdrucks „normativ“ erfassen das Begriffsfeld nicht erschöpfend. Es ist also keineswegs auszuschließen, dass das Konzept noch in weiteren, hier nicht behandelten Formen gebraucht wird. Aus all dem wird deutlich, wie wichtig es ist, im Zusammenhang mit Forderungen nach mehr „Normativität“ methodologisch diszipliniert vorzugehen und genau anzugeben, was man meint, wenn man das Zauberwort „normativ“ verwendet.

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