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1.5 „Diakonie“ und Musik

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Zur Illustration der Wirkungsgeschichte eines der bereits genannten diakonischen Großtextes sei an dieser Stelle exemplarisch auf Lk 10,25–37Lk 10,25–37 innerhalb des Wirkens Johann Sebastian Bachs verwiesen. Anders als bei einer Predigt, die meist ein einmaliges und lokal begrenztes Ereignis darstellt, besitzt die Bachkantate eine raum- und zeitübergreifende Wirkungsgeschichte und damit auch eine anhaltende Aktualität, die eine Darstellung rechtfertigt. Speziell beziehen sich die damit verbundenen Ausführungen auf BWV 77. Dabei wird es darauf ankommen, Bachs Auslegungen geistlich zu verstehen, d.h. „sich auf eine besondere ‚Qualität‘ der Bachschen geistlichen Musik […] [einzulassen], nämlich auf ihre Predigtintention. Das Ziel ist deshalb, Bachs Predigt wieder als Predigt zu hören – auf der Grundlage ihres ästhetischen Erfahrens und ihres historischen Erkennens […].“1 Bach wird in den folgenden Ausführungen deswegen als Prediger verstanden, der seine musikalische Predigt jeweils auf der Grundlage eines Evangelientexts bzw. dessen Nachdichtung verfasst.2 Das Ziel der Kantatentexte liegt darin, dass sie „den Hörer in gleicher Weise wie die Predigt wirklich persönlich anreden, und das heißt immer, zu Buße und GlaubenGlaube an den Herrn rufen, der seiner Gemeinde im GottesdienstGottesdienst durch Wort und Sakrament real begegnet, so daß der in die Entscheidung gerufene Hörer notwendigerweise antworten und Stellung beziehen muß […].“3 Eine entsprechende Stellungnahme und Antwort könnte im Sinne dieser Arbeit mit „diakonisch“ zu beschreiben sein.

Die Untersuchung von Kantaten erscheint auch im Anschluss an die Studie „GottesdienstGottesdienst erleben“ von Pohl-Patalong sinnvoll zu sein. Sie hat herausgearbeitet, dass die Musik im GottesdienstGottesdienst „vorrangig als Vermittlerin von Emotionen, als Öffnerin von Herz und Seele, als VerkündigungVerkündigung, als Geborgenheit, als Gemeinschaftserlebnis, als Freude, als inhaltliche Aussage oder in der Perspektive ihrer Qualität erlebt [werde, JQ].“4 Insofern könne auch eine Kantate als Predigtgeschehen verstanden werden, welche eine biblische Perikope bearbeitet, auslegt und verkündigt.

BWV 77 trägt den Titel: „Du sollt [sic!] Gott, deinen Herren, lieben“. Diese Kantate entstand 1728 für den 13. Sonntag nach Trinitatis und wurde am 22. August 1728 in der Leipziger Nikolaikirche uraufgeführt.5 Das Proprium des Sonntags ist, im Gegensatz zur Predigt von Superintendent D. Salomon Deyling im Kantatengottesdienst, bekannt: Die Epistel entstammt Gal 3,15–22Gal 3,15–22, als Evangelium wurde die vertonte Perikope (Lk 10,25–37Lk 10,25–37) gelesen.6 Als Eingangspsalm wurde Ps 70Ps 70 gebetet.7 Die Textgrundlage des Kantatentexts stammt aus der Feder Johann Oswald Knauers, wurde jedoch weiter bearbeitet.8

Der Schwerpunkt der Kantate wird bereits in Satz eins deutlich. Dieser bietet ein wörtliches Zitat des Doppelgebots der LiebeLiebe (Lk 10,27Lk 10,27). Damit ist das Thema der Kantate vorgegeben, welches im weiteren Verlauf weitergeführt und präzisiert wird. Die folgenden Sätze übernehmen die illustrative Aufgabe, die in der Perikope der Geschichte vom barmherzigen SamaritanerSamaritaner zukommt – ohne, dass die Kantate diese Geschichte explizit erzählt. Sie wird im 4. Satz implizit durch die Bitte um ein „Samariterherz“ und den Terminus des Vorübergehens eingespielt. Die Geschichte wurde im Rahmen des Kantatengottesdiensts als Evangelium gelesen.9 Damit korreliert die Einbindung der Kantate in den liturgischen Vollzug des Gottesdiensts sowie das Bach’sche Verständnis seiner Kantaten: Sie hatten das Evangelium in Verbindung mit der Predigt auszulegen: Die Kantate durch Musik, die Predigt durch Worte.10 Besonders deutlich wird der Bezug zum Proprium des Sonntags – neben der Verarbeitung als Kantatentext – in der liturgischen Verortung der Kantate. Knapp beschreibt Meyer diesen Ort der Kantate: „Der liturgisch reiche Leipziger GottesdienstGottesdienst erreichte mit dem im Lektionston rezitierten Evangelium seinen ersten inhaltlichen Schwerpunkt. Diesem folgte die lateinisch gesungene Intonation ‚Credo in unum deo‘ – und nun erklang die Kantate. Danach sang die Gemeinde Luthers Lied ‚Wir glauben all an einen Gott‘; der Kanzeldienst des Predigers schloss sich an.“11 Diese Tatsache verdient Beachtung, weil die Kantate an diesem Ort das sonst übliche Nicänum-Constantinopolitanum ersetzte, „dass diese also als deutsches Propriumsstück ein lateinisches Ordinariumsstück ersetzte!“12 Mit der engen Einbindung zwischen Credo und Glaubenslied erhält die Kantate einen deutlichen Bezug zum Evangelium. Sie kann sowohl als Vertiefung des Evangeliums als auch als Antwort auf selbiges verstanden werden. Durch ihre zeitliche Verordnung im Gottesdienstablauf vor der Predigt erscheint sie darüber hinaus als VerkündigungVerkündigung, die das Bekenntnis der Gemeinde evoziert und fundiert.13

Lk 10,23–37Lk 10,23–3714 Kantatentext15
23 Und er wandte sich zu seinen JüngernJünger und sprach zu ihnen allein: Selig sind die Augen, die sehen, was ihr seht. 24 Denn ich sage euch: Viele Propheten und Könige wollten sehen, was ihr seht, und haben’s nicht gesehen, und hören, was ihr hört, und haben’s nicht gehört. 25 Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? 26 Er aber sprach zu ihm: Was steht im GesetzGesetz geschrieben? Was liest du? 27 Er antwortete und sprach: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst“. 28 Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben. 29 Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer ist denn mein Nächster? 30 Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging von JerusalemJerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen. 31 Es traf sich aber, dass ein PriesterPriester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. 32 Desgleichen auch ein Levit: Als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. 33 Ein SamariterSamaritaner aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte er ihn; 34 und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. 35 Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir’s bezahlen, wenn ich wiederkomme. 36 Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war? 37 Er sprach: Der die BarmherzigkeitBarmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen! 1. Chor: Du sollt Gott, deinen Herren, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüte (55) und deinen Nächsten als dich selbst. 2. Rezitativ: So muß es sein! Gott will das Herz vor sich alleine haben. (65) Man muß den Herrn von ganzer Seelen Zu seiner Lust erwählen Und sich nicht mehr erfreuen, Als wenn er das Gemüte Durch seinen Geist entzündt, (70) Weil wir nur seiner Huld und Güte Alsdenn erst recht versichert sind. 3. Arie: Mein Gott, ich liebe dich von Herzen. Mein ganzes Leben hangt dir an. (75) Lass mich doch dein Gebot erkennen Und in LiebeLiebe so entbrennen, Dass ich dich ewig lieben kann. 4. Rezitativ: Gib mir dabei, mein Gott! ein Samariterherz, Dass ich zugleich den Nächsten liebe Und mich bei seinem Schmerz Auch über ihn betrübe, (85) Damit ich nicht bei ihm vorübergeh Und ihn in seiner Not nicht lasse. Gib, dass ich Eigenliebe hasse, So wirst du mir dereinst das Freudenleben, Nach meinem Wunsch, jedoch aus Gnaden geben. (90) 5. Arie: Ach, es bleibt in meiner LiebeLiebe Lauter Unvollkommenheit! Hab ich oftmals gleich den Willen, Was Gott saget, zu erfüllen, (95) Fehlt mirs doch an Möglichkeit. 6. Choral: Ach Herr, ich wollte ja dein RechtRecht Und deinen heilgen Willen, Wie mir gebührt, als deinem Knecht, (100) Ohn Mangel gern erfüllen, So fühl ich doch, was mir gebricht, Und wie ich das Geringste nicht Vermag aus eignen Kräften.16

Tab. 10:

Gegenüberstellung von Lk 10,23–37Lk 10,23–37 mit dem Text der Kantate BWV 77

Der Vergleich von Bibel- und Kantatentext zeigt eine kreative Bearbeitung der Textvorlage innerhalb des Kantatentexts. Ferner stellt die Kantate vielfältige innerbiblische Bezüge her, die im Einzelnen an dieser Stelle nicht dargestellt werden können und kann als ein Beispiel intertextueller biblischer Exegese gelten. Zugleich ist zu fragen, welche Assoziationen ein solcher Umgang mit der Textvorlage bei biblisch versierten Hörerinnen und Hörern hervorruft. Es ist anzunehmen, dass die Kantate durch ihren musikalischen Vollzug hier einen weiten Assoziationsraum eröffnet. Weiterhin bietet die Kantate für die Hörenden die Möglichkeit, in einen Dialog mit dem biblischen Text zu treten. Sie verleiht den angesprochenen Rezipientinnen und Rezipienten eine Stimme und ermöglicht es ihnen, allgemein menschliche Regungen zu verbalisieren und mit dem Text zu versprechen.17 Denkbar wäre dementsprechend, dass die Kantate möglichen – freilich biblisch nicht überlieferten – Gedanken einer der handelnden Personen Ausdruck verleiht. Damit eröffnet sich ein Raum, der es den Hörenden ermöglicht, sich konstruktiv mit den Aussagen der Perikope auseinanderzusetzen, um selbst in gewisser Weise Anteil an dem Gespräch zu bekommen.

Im Text der Kantate verschränken sich die Gottes- und die NächstenliebeNächstenliebe miteinander. Letztere wird – so formuliert Satz zwei – durch die vorrangige LiebeLiebe Gottes zum Menschen ermöglicht, die durch den Heiligen GeistHeiliger Geist einem jeden Gläubigen vermittelt und versichert werde.18 Die Besonderheiten der Kantate liegen in der „Betonung der Wirkung des Heiligen GeistesHeiliger Geist und der Gleichzeitigkeit von GottesGottesliebe- und NächstenliebeNächstenliebe (83) sowie in der Herausarbeitung des Unvermögens des menschlichen Willens (94–96).“19 Besonders evident werden diese Besonderheiten in den Sätzen drei bis fünf der Kantate. Vor diesem Hintergrund korrespondieren die dargestellten Bewegungen mit dem Geschehen in der EucharistieEucharistie: Gott gibt sich in der EucharistieEucharistie als Zeichen seiner LiebeLiebe den Kommunikanten hin. Aus dieser anabatischen Bewegung heraus kann sich die katabatisch-menschliche Bewegung der GottesliebeGottesliebe ergeben. BWV 77 kann so auch als musikalische Dogmatik verstanden werden, die en nuce an wesentliche Implikationen der EucharistieEucharistie erinnert. Sie kumuliert in Satz sechs, der die von Luther herausgestrichene Verbindung von sola fide, sola gratia, solus christus und sola scriptura als Ursprung der guten Werke benennt.20 Der erste und der letzte Satz bilden eine Klammer um die Kantate: Sie führt die Hörenden und Gläubigen vom fordernden Anspruch Gottes über das erleichternde Bekenntnis der eigenen Unzulänglichkeit hin zum GlaubenGlaube als Fundament ihres Lebens und Handelns.21 Der GlaubeGlaube wird zum Motor der Lebensgestaltung und zum Ermöglichungsgrund von GottesGottesliebe- und MenschenliebeMenschenliebe. In der EucharistieEucharistie wird dieser Zusammenhang sinnfällig verdeutlicht. Vor dem Hintergrund des denkbaren weiten Assoziationsraumes bietet die Kantate vielfältige Anknüpfungspunkte22 für die Rezipientinnen und Rezipienten, die sich in vielfältigen Aussagen wiederfinden könnten und sich damit dem Phänomen der Hilfe für den Nächsten annähern können.

Diakonie zwischen Vereinslokal und Herrenmahl

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