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1 – Hattingen, 4. April 1531

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Das Haus der von Lindens am Markt gehörte zu den schönsten Gebäuden der Stadt: tiefschwarzes Fachwerk, der Lehm auf dem Weiden- und Strohgeflecht dazwischen strahlend weiß gestrichen, Butzenglasscheiben in allen Fenstern. Es wirkte nicht protzig, aber der Wohlstand der Bewohner schlug sich in der Gestaltung der Hausfassade nieder: Farbige Muster rahmten die Fensteröffnungen ein, die breite Eingangstür wies kunstvoll geschnitzte Ornamente auf.

An dieser Stelle im Herzen Hattingens hatte noch vor zehn Jahren das Stammhaus der van Enghusens gestanden, einer alteingesessenen Kaufmannsfamilie, deren Tochter Marlein seit zwei Jahrzehnten mit Jorge von Linden verheiratet war. In einem Frühjahr waren das Dachgeschoss und die obere Etage des Hauses abgebrannt. Glücklicherweise war niemand bei dem Feuer zu Schaden gekommen und auch ein Übergreifen auf die Nachbargebäude konnte verhindert werden. Die Familie von Linden hatte damals entschieden, das beschädigte Gebäude bis auf die Grundmauern abzureißen und neu zu errichten – größer und schöner als zuvor.

Von der Diele im Erdgeschoss betrat man die geräumige Stube, in welcher gegessen und Gäste empfangen wurden. Davon ab ging das Kontor, welches nicht nur ein Fenster zur Straße hin hatte, sondern nach Lübecker Sitte auch eines zur Diele. So konnte der Hausherr, der lange in der Hansestadt an der Ostsee gelebt hatte, jederzeit kontrollieren, wer sich in seinem Haus aufhielt.

Über eine Treppe gelangte man in die oberen Etagen. Im ersten Stock fanden sich die Schlafkammern der Familie und eine weitere, deutlich kleinere Kammer. Hier bewahrten die Eheleute das auf, was ihnen wichtig, nicht aber für jedermanns Augen bestimmt war: Erinnerungsstücke wie den Tanach, eine jüdische Bibel, die Jorge von einem Freund erhalten hatte, der schon lange tot war.

Unter dem Dach hatten ursprünglich die Bediensteten gewohnt. Nachdem jedoch ein Anbau im Garten errichtet worden war, hatte man die frei gewordene Fläche in einen Vorratsraum umgewandelt, in den ausgewichen werden konnte, falls das eigentliche Lager zu voll zu werden drohte. Dort konnte jedoch nur das untergebracht werden, was ein Mann auf seinen Schultern über die Treppe hochzuschleppen vermochte, denn eine Seilwinde fehlte.

Die gesamte untere Etage des Anbaus war den Waren vorbehalten, mit denen Jorge von Linden Handel trieb. Die Kammern des Knechtes und die der zwei Mägde lagen darüber.

Zum Anwesen gehörte außerdem eine Scheune. Neben den zwei Pferden, die die Familie ihr Eigen nannte, fanden dort auch noch die beiden Karren Platz.

Brunnen und Abort lagen im Garten, so weit auseinander wie möglich. Und da der Brunnen sehr tief gegraben worden war, schmeckte sein Wasser weniger brackig als in vielen anderen Haushalten.

In der Stube brannte wie immer das Feuer im Kamin. Dieser konnte auch von der angrenzenden Küche beschickt werden, wo die Speisen zubereitet und die Kochgeräte gelagert wurden. Im Boden war eine schwere Holzklappe eingelassen, die über eine Stiege in den Keller führte, in dem verderbliche Nahrungsmittel kühl gelagert wurden. Eine schmale Tür öffnete sich von der Küche in den Nutzgarten, in dem Kräuter und allerlei Gemüse wuchsen.

Die Stube selbst war so gestaltet, wie der Hausherr es aus Lübeck kannte. Ledertapeten aus Flandern schmückten die Wände, die Deckenbemalung ließ den Raum niedriger erscheinen, als er war. Blau-weiße Fliesen ersetzten hier die sonst üblichen Holzdielen. Möbliert war der Raum mit einem mächtigen Tisch aus massiver Eiche, der zwölf Personen ausreichend Platz bot. Darum standen Bänke und zwei Holzstühle mit hohen Lehnen, die vor dem Kamin platziert waren und den Eheleuten oder hohem Besuch vorbehalten blieben. An einer Wand befand sich ein mannshoher Schrank, in dem die wertvollen Zinnteller und – schüsseln sowie die kostbaren Trinkbecher aus Glas aufbewahrt wurden.

Jorge von Linden hatte auf der langen Bank neben dem Fenster Platz genommen, sein Sohn Lukas saß ihm gegenüber.

»Ich werde kein Kaufmann.« Der Siebzehnjährige warf seinen Kopf in den Nacken und schob das Kinn angriffslustig vor. »Das macht keinen Spaß.«

Diese Pose seines jüngsten Sohnes erinnerte Jorge von Linden an dessen Mutter Marlein. Als diese in Lukas’ Alter gewesen war, hatte sie in Auseinandersetzungen ähnlich reagiert. Jorge hatte ihr Durchsetzungsvermögen immer bewundert. Sein jüngster Sohn schien es geerbt zu haben. Aber er durfte nicht nachgeben, auch wenn ihm Lukas’ konsequente Haltung im Grunde imponierte.

»Du solltest an später denken. Bald willst du eine Familie gründen, musst für sie sorgen. Wie willst du das als Spielmann tun?«

Vor sechs Monaten hatte Lukas seine Eltern zum ersten Mal mit der Idee konfrontiert, nicht in das Handelsgeschäft seines Vaters einzutreten, sondern sein Glück als Musikant zu versuchen.

Anfangs hatten sie das Ansinnen als einfältig abgetan. Aber der Junge ließ sich nicht beirren. Er sei für den Kaufmannsberuf ungeeignet, hatte Lukas selbstbewusst verkündet. Seine Zukunft gehöre der Musik.

Jorge wusste nicht, woher dieses Interesse rührte. Gewiss, Marlein hatte ihrem Jüngsten, wie auch seinen Geschwistern, Lieder vorgesungen, als er noch klein war. Aber niemand in der Familie beherrschte ein Instrument. Und wenn sie tatsächlich einmal einen Gesang anstimmten, war er zwar laut, klang aber recht unmelodisch. Auch Marlein konnte sich nicht erinnern, dass sich in ihrer Verwandtschaft jemals jemand zur Musik hingezogen gefühlt hatte. Woher also kam nur diese seltsame Neigung seines Jüngsten?

»Ich will kein Spielmann werden, sondern Musikinstrumente bauen. Die Fidel zum Beispiel, die Laute. Oder eine Rebec. Natürlich muss ich sie dafür spielen können, um zu wissen, wie sie klingen sollen.«

Jorge seufzte. Er ahnte, dass dieses Streitgespräch ebenso enden würde wie die anderen zuvor. »Aber ich brauche dich.«

»Weshalb? Du hast doch Linhardt.«

»Du weißt, dass dein ältester Bruder unsere Interessen in Lübeck vertritt.«

»Dann hole ihn zurück. Du selbst hast mir mehr als einmal erzählt, dass unser Geschäft in Lübeck jahrelang von deinem Freund Clas Wibbeking geführt wurde.«

Das stimmte. Als Linhardt noch klein war und Jorges gesamte Kraft dem Aufbau und Erhalt der geschäftlichen Aktivitäten in Hattingen galt, hatte Clas Marleins Erbe in Lübeck verwaltet. Allen Beteiligten war klar gewesen, dass dieser Freundschaftsdienst nicht ewig währen konnte. Und als Clas’ älterer Bruder Konrad gestorben war, fehlte dem Freund schlicht die Zeit, sich neben seinem auch noch um den Besitz der von Lindens zu kümmern. Für lange Jahre hatte ein Verwalter die Geschicke der Lübecker Niederlassung gelenkt und die Firma trotz Jorges häufiger Kontrollbesuche in der Hansestadt fast zugrunde gewirtschaftet. Als Linhardt endlich alt genug war, um selbstständig zu arbeiten, hatte er die Vertretung übernommen und wieder nach vorn gebracht.

»Das geht nicht. Clas kann sich nicht zweier Handelshäuser annehmen.« Und ich will nicht, dass er es tut, setzte Jorge im Stillen hinzu.

Sein Sohn schob die Unterlippe trotzig vor. Ebenfalls eine Geste, die er von seiner Mutter geerbt hatte.

»Dann eben Hinrick.« Lukas war aufgestanden und hatte sich vor seinem Vater aufgebaut. »Bitte!«

Hinrick, der Grübler. Jorge musste lächeln, wenn er an seinen mittleren Sohn dachte. Natürlich würde Hinrick ihm diesen Wunsch nicht verwehren, sollte er je an ihn herangetragen werden. Er verweigerte sich niemals einer Bitte seiner Eltern. Nur würde Jorge ihn nicht fragen.

Der Achtzehnjährige war einfach kein Händler. Er war klug, sicher. Schon früh hatte er lesen gelernt. Er verschlang jedes Buch, das er finden konnte. Nur eins hatte er nach wenigen Stunden beiseitegelegt: Jorges abgegriffenes Lehrbuch der Mathematik, verfasst von Fibonacci.

Hinrick grauste vor Zahlen. Er tat sich selbst mit den einfachsten Rechenoperationen schwer. Eine schlechte Voraussetzung für ein Leben als Kaufmann. Ihr Geschäft wäre in wenigen Jahren ruiniert, müsste Hinrick die Rechnungen ausstellen.

Dafür sprach er recht ordentlich Latein, konnte eine Unterhaltung auf Italienisch und Französisch führen und verstand sogar einige Brocken der englischen Sprache. All das hatte er sich durch die Lektüre einschlägiger Bücher selbst beigebracht. Wie sein Vater vor Jahrzehnten auch. Jorge hatte Hinrick mehrmals mit auf Reisen genommen, damit er ihm als Übersetzer zur Seite stand. Sprachen und die Schriften von Philosophen, deren Namen Jorge, kaum gehört, schon wieder vergaß, waren Hinricks Welt.

Natürlich arbeitete auch der mittlere Sohn im Hattinger Kontor. Er war ein geschickter Verhandler, verstand es, Menschen für sich einzunehmen und zu überzeugen. Mehr als einmal war durch seine Vermittlung ein Auftrag gerettet worden, den Jorge schon verloren glaubte. Aber Hinrick brauchte jemanden an seiner Seite, der etwas von Finanzen verstand. Er bemühte sich nach Kräften, würde aber niemals einen guten Kaufmann abgeben.

Wann immer es seine Zeit erlaubte, ritt Hinrick nach Werden, um im dortigen Benediktinerkloster alte Schriften zu studieren. Wie sein Sohn die Mönche überredet hatte, ihm Zugang in die ansonsten verschlossene Welt eines Klosters zu gewähren, war Jorge ein Rätsel. Gläubig war Hinrick allerdings nicht, im Gegenteil. Wenn er sich überhaupt mit religiösen Dingen beschäftigte, dann nur mit der Diskussion über diesen Reformator Luther, von dem alle Welt sprach. An eine Mönchsgemeinschaft würde die Familie Hinrick jedenfalls nie verlieren, dessen war Jorge sich sicher. Aber ebenso wenig konnte sein mittlerer Sohn ein Geschäft allein führen. Nein, es blieb nur Lukas.

»Du wirst meinem Wunsch folgen.« Jorges Stimme klang strenger als beabsichtigt. »Ab morgen wirst du dich jeden Tag im Kontor einfinden und lernen, wie ein Kaufmann zu handeln. Du wirst sehen, es kommt der Tag, da wird dir diese Arbeit Spaß machen.« Er sah Unwillen in den Augen seines Sohnes aufblitzen. »Hast du mich verstanden?«

Lukas wagte keinen offenen Widerspruch und senkte gehorsam den Kopf. »Ja, Vater.«

Was wäre wohl gewesen, dachte Jorge, wenn die anderen drei Kinder, die Marlein ihm geschenkt hatte, nicht so früh verstorben wären? Hätte er den Wunsch seines Jüngsten dann erfüllt? Oder hätte er sich noch immer verweigert? Er wusste es nicht. »Gut. Du kannst gehen.«

Lukas trottete zur Tür und wäre dort beinahe mit seiner Mutter zusammengestoßen, die die Stube betrat und ihm im Vorbeigehen zärtlich über das Haar strich. Mit einer schnellen Kopfbewegung wehrte Lukas diese Geste ab. Jorge erkannte daran, wie sehr es in ihm brodelte.

Marlein schloss die Tür hinter ihrem Jüngsten. »Ich sehe, du hast mit ihm gesprochen?«

Jorge lächelte. »Hast du nicht hinter der Tür gestanden und jedes Wort der Unterhaltung verfolgt?«

Seine Frau senkte ertappt den Kopf.

»Also hast du«, stellte Jorge belustigt fest.

Er konnte Marlein nicht böse sein. Schon als Kinder spielten sie miteinander, später vermittelte er ihr das Wissen, das ihm Dominikanermönche beigebracht hatten. Dann verloren sie sich aus den Augen, vergaßen einander aber nicht. Und als sie sich in Lübeck wiedertrafen, war es, als ob sie nie getrennt gewesen wären. Aus ihrer kindlichen Zuneigung wuchs Liebe und sie heirateten. Selbstverständlich gab es in ihrem Leben auch Streit. Jedoch überdauerten ihre Auseinandersetzungen keinen Tag und hatten nie wirklich verletzt. So war es bis heute geblieben.

»Natürlich. Schließlich liegt mir das Wohlergehen unserer Kinder am Herzen.«

»Höre ich da Missfallen in deiner Stimme?«

Sie sah ihn an. Es war dieser Blick, der Jorge als unreifen Knaben vor fast drei Jahrzehnten in den Bann gezogen hatte und der ihn auch als Mann immer wieder schwach werden ließ. Marlein war trotz ihrer fast vierzig Jahre eine schöne Frau. Ihr feuerrotes Haar fiel wallend auf ihre Schulter, ihre sommersprossige Haut schien fast durchsichtig. Jorge hätte sie auch heute vom Stand weg geheiratet.

»Nein, kein Missfallen. Ich weiß, dass du an die Zukunft denken musst. Und es bleibt auch keine andere Wahl. Aber Lukas tut mir leid. Er wünscht sich nichts sehnlicher, als Musikinstrumente zu bauen.«

»Vieles von dem, was ich mir in meinem Leben gewünscht habe, ist auch nicht eingetreten«, erwiderte Jorge. »Er muss lernen, mit Niederlagen umzugehen.«

»Sicher. Aber hast du auch so gedacht, als du vor Jahren aus Hattingen fortmusstest?«

Jorge wusste, dass sie recht hatte. Nachdem die Dominikaner, bei denen er erzogen worden war, ihr Haus unweit der Kirche Sankt Georg nicht ganz freiwillig aufgegeben hatten, musste auch Jorge als knapp Vierzehnjähriger Hattingen verlassen und war, völlig auf sich allein gestellt, auf eine lange Wanderung gegangen. Er spürte seine damalige Verzweiflung auch heute noch so, als ob seine Vertreibung gestern gewesen wäre.

»Lukas geht es genauso. Also sei nicht zu streng mit ihm. Er wird sich in sein neues Leben schon einfinden.«

»Hoffentlich.«

Ein Königreich von kurzer Dauer

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