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9 – Hattingen, 24. April 1531

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Hinrick und Lukas brüteten über der Aufgabe, die ihnen ihr Vater aufgetragen hatte. Sie sollten lange Listen addieren, auf denen der Bestand der verschiedenen Waren festgehalten war, die in den ersten Monaten des Jahres im Lager des Händlers eingegangen und noch nicht wieder verkauft worden waren. Inventur nannte das ihr Vater. Immer dann, wenn das Lager überquoll, mussten alle mithelfen, die Vorräte zu zählen und zu bewerten. Nur so, predigte Jorge immer wieder, gelänge es, den Überblick zu behalten.

Für diese Arbeit entlohnte ihr Vater seine Söhne. Zwar erhielten sie nicht so viel wie die beiden Gehilfen, die das Handelshaus beschäftigte, trotzdem hatten die Brüder mittlerweile einen für ihre Verhältnisse ordentlichen Batzen angespart.

Mit einem Seufzer ließ der Jüngere den Federkiel fallen. »Geschafft. Alles addiert und in die Listen übertragen.«

Hinrick warf einen neidischen Blick auf seinen Bruder, der sich entspannt auf der Bank zurücklehnte. »Ich lerne das Addieren nie. Immer wieder verrechne ich mich, vergesse die Zahlen, die ich bis dahin im Kopf zusammengezählt habe, und muss wieder von vorn anfangen.« Er warf verärgert seine Feder auf das Pult, sodass die noch daran haftende Tinte sich in kleinen Klecksen auf seinem Rechenblatt verteilte. »Auch das noch«, stöhnte Hinrick. »Vater wird mich schelten. Ach was, noch Schlimmer, er wird mir die Kosten für das Papier von meinem Lohn abziehen.« Er stützte seinen Kopf in beide Hände. »Warum fällt mir das Rechnen nicht so leicht wie dir?«

»Dafür tue ich mich schwer mit Latein und dem Lesen. Da bist du mir um Längen voraus. Und ich finde, Lesen ist ohnehin viel schwieriger als Rechnen.«

Obwohl Hinrick wusste, dass Lukas ihn nur aufmuntern wollte, war er dankbar für diesen Zuspruch. Er seufzte erneut und griff wieder zur Feder. »Alles Jammern nützt ja nichts.«

»Soll ich dir helfen?« Lukas war näher zu seinem Bruder gerutscht.

»Würdest du das tun?«

»Sagen wir, ich könnte ernsthaft darüber nachdenken, wenn du mir einen Groschen deines Lohns abgibst«, meinte der Jüngere grinsend.

»Das ist ein Viertel dessen, was wir erhalten.«

»Ich weiß. Aber wenn du nicht fertig wirst, bekommst du nichts. Das ist dir ja klar.«

»Du bist ein Halsabschneider.«

»Nein, ein Kaufmann.«

»Ich denke, du willst kein Kaufmann sein.«

Lukas wurde ernst. »Will ich auch nicht. Darüber wollte ich nachher noch mit dir reden. Also gut, einen halben Groschen.«

Hinrick nickte zum Einverständnis.

Gemeinsam bewältigten sie die Arbeit in weniger als zwei Stunden und da sie sonst keine Verpflichtungen hatten, standen sie kurz darauf in der schon warmen Nachmittagssonne.

»Lass uns zum Fluss laufen«, schlug Lukas vor. »Da waren wir schon lange nicht mehr.«

Die Schäden an der Ruhrbrücke, die das Frühjahrshochwasser ausgelöst hatte, waren mittlerweile beseitigt. Nur die am gegenüberliegenden Ufer angeschwemmten und in sich verkeilten kleineren Holzstämme, Äste und Zweige zeugten noch davon, dass die Überflutungen in diesem Jahr stärker ausgefallen waren als in der Vergangenheit. Lukas schlug vor, sich nach Westen zu wenden. Da lagen die Wiesen, die ihrer Familie gehörten. Es würde ihren Vater freuen, wenn sie ihren kurzen Ausflug dazu nutzten, dort nach dem Rechten zu schauen.

Später saßen sie auf einem großen Stein am Ufer, zogen die Schuhe aus und ließen ihre Füße im kalten Wasser baumeln.

»Was ich dir jetzt sagen werde«, begann Lukas, »muss unter allen Umständen unter uns bleiben.«

»Natürlich.«

Lukas zog das kleine Silberkreuz, welches er immer trug, über den Kopf und hielt es Hinrick hin. »Schwöre es.«

Sein Bruder zögerte. »Was, zum Teufel, ist so wichtig, dass ich mein Schweigen auf dein Kreuz beeiden soll?«

»Schwöre oder du wirst es nie erfahren.«

Hinrick war hin- und hergerissen. Einerseits interessierte ihn unbändig, in welches Geheimnis ihn sein Bruder einweihen wollte. Andererseits scheute er die Last der Verantwortung, die ein heiliger Schwur mit sich brachte. Erst als Lukas das Kreuz zurückzog und es sich wieder um den Hals legen wollte, fasste er einen Entschluss. »Gib schon her«, knurrte Hinrick und legte den gewünschten Eid ab. Als er dem Jüngeren das Kreuz zurückgab, meinte er breit grinsend: »Jetzt bin ich aber gespannt, ob sich der ganze Aufwand gelohnt hat.«

Lukas blieb ernst. »Du weißt, dass Vater meinen Wunsch, Instrumentenbauer zu werden, abgelehnt hat.«

»Natürlich.«

»Er will mich zu einem Kaufmann machen. Aber diesen Gefallen werde ich ihm nicht tun.«

»Ich glaube nicht, dass du eine Wahl hast.«

»Wenn ich in Hattingen bleibe, nicht. Da hast du recht. Aber ich werde nicht hier hinter einem Schreibpult versauern.«

»Vater wird dir nie erlauben, die Stadt zu verlassen.«

»Eben. Deshalb werde ich ihn auch nicht um Erlaubnis fragen.«

Hinrick klappte der Unterkiefer herunter. »Du willst weglaufen?«

Lukas nickte.

»Das wird Mutter das Herz brechen.«

»Ich werde ihr einen Brief hinterlassen.«

Hinrick lachte auf, doch es klang hilflos. »Ein Brief wird sie wohl kaum über den Verlust ihres Lieblings hinwegtrösten. Das kannst du nicht machen, Lukas.«

»Ich muss.«

Hinrick schwieg. Er wog das Für und Wider eines Eidbruchs ab.

Als ob Lukas die Gedanken seines Bruders erriet, stieß er hervor: »Du hast es geschworen, Hinrick! Solltest du mich verraten, werde ich trotzdem versuchen, meinen Plan in die Tat umzusetzen. Nur dass ich dann nie wieder im Leben auch nur ein Wort mit dir wechseln werde. Es wird sein, als wäre ich tot. Zumindest für dich.«

Diese Sätze waren mit einer solchen Heftigkeit vorgebracht worden, dass Hinrick klar wurde, wie ernst es seinem Bruder war. Also atmete er tief durch und meinte: »Mein Eid gilt. Obwohl ich einen Moment überlegte, ob es besser wäre, Mutter einzuweihen. Aber sie wird sich nicht gegen Vater stellen.«

Lukas atmete hörbar aus. »Danke.«

»Du wirst Geld brauchen.«

»Ich habe den Lohn, den uns Vater gezahlt hat, gespart.«

»Das wird nicht reichen.«

»Dann werde ich arbeiten.«

»Auch dann hast du nicht genug Geld. Ich werde dir meine Ersparnisse geben.«

Lukas strahlte den Älteren an. »Das würdest du tun?«

»Ich meinte natürlich: leihen.«

»Nichts anderes habe ich angenommen.«

Beide lachten. Schließlich fragte Hinrick: »Verrätst du mir, wohin du gehen willst?«

»In eine Stadt im Westfälischen. Mehr musst du nicht wissen. So kannst du dich nicht verplappern, wenn unsere Eltern dich unter Druck setzen. Dort hat sich vor etwa einem Jahr ein Instrumentenbauer niedergelassen. Er hat noch keinen Lehrling.«

»Woher weißt du das?«

»Du erinnerst dich an die Musikanten, die über Ostern in Hattingen gewesen sind?«

Hinrick nickte.

»Ich habe mit ihnen gesprochen. Sie haben es mir erzählt.«

»Und wann willst du aufbrechen?«

»An Christi Himmelfahrt. Du weißt ja, unsere Eltern wollen nach Schwelm, das Grab besuchen. Das verschafft mir einen gehörigen Vorsprung.«

Der Pflegevater ihres Vaters war dort beerdigt. Und immer an diesem Feiertag gedachten ihre Eltern seiner am Grab.

Eine Frage brannte Hinrick noch auf der Zunge: »Kommst du wieder zu uns zurück?«

Lukas schaute ihn erstaunt an. »Natürlich. Was für eine Frage. In Hattingen gibt es doch keinen Instrumentenbauer, oder?«

Hinrick schwieg.

Sein Bruder, der dies missdeutete, sagte: »Nun mach nicht so ein Gesicht. Es ist ja nicht für ewig.«

»Ich erinnere mich nur gerade an etwas. In der Bibliothek in Werden habe ich einmal in einem Buch geblättert, das die Zünfte der Handwerker beschrieb. Du willst doch eine Lehre machen, oder?«

»Natürlich.«

»Dann wirst du deine Herkunft nachweisen müssen.«

»Warum?«

»Wegen des Aufdingens. Ich meine jedenfalls, dass das so hieß. Der neue Lehrling wird vor allen Meistern der Zunft geprüft. Und dabei wird hinterfragt, ob dessen Geburt ehrlich gewesen ist.«

»Was heißt das?«

»Das stand da nicht. Ich denke, damit ist gemeint, ob die Eltern des Lehrlings verheiratet gewesen sind.«

»Das sind unsere Eltern ja.«

»Sicher. Aber wie willst du das beweisen?«

Jetzt schwieg auch Lukas. Schließlich meinte er: »Mir wird schon etwas einfallen.«

Ein Königreich von kurzer Dauer

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