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6 – Werden, 15. April 1531

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Bei Sonnenaufgang war Hinrick von Linden losmarschiert. Er hatte die Stadt durch das Bruchtor verlassen und die Straße nach Bonsfeld genommen. An der Ruhrschleife war er zwischen dem Isenberg und dem Fluss entlanggegangen, bis er den Weg erreichte, der am Deilbach vorbei nach Werden führte. Heute war Samstag, sein freier Tag. Er wollte zum Benediktinerkloster, um in der dortigen Bibliothek zu lesen.

Auf der Hälfte der Strecke legte er im Deilbachtal eine Rast ein. Die Sonnenstrahlen wärmten schon kräftig. Hinrick suchte sich einen Platz am Bach. Dort setzte er sich auf einen Stein, zog seine Schuhe aus, hielt die Füße ins kalte Wasser, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Was für eine Wohltat!

»Heh, du!«

Hinrick schreckte hoch und sah in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Einen Steinwurf entfernt füllte ein Mann seinen Trinkschlauch.

»Findest du es richtig, deine stinkenden Haxen ins Wasser zu halten, während ich mit demselben Wasser meinen Durst stillen will?«

Erschrocken zog der junge Hattinger seine Füße aus dem Bach und stand auf. »Entschuldigung«, antwortete er. »Ich habe Euch nicht gesehen.«

Der Fremde brummte etwas Unverständliches und beugte sich wieder zum Bach hinunter, um seine Arbeit fortzusetzen. Als er mit dem Befüllen fertig war, knotete er sorgfältig ein Lederband um die Öffnung des Schlauches, prüfte, ob dieser tatsächlich dicht war, nickte befriedigt, erhob sich dann und kam langsam näher.

Der Unbekannte schien deutlich älter als Hinrick zu sein. Er hatte langes, strähniges Haar, einen wilden Bart und trug Kleidung, die ihm am Körper schlackerte. Neben dem Trinkschlauch hatte er sich sein Bündel über die Schulter geworfen. Beim Gehen stützte er sich auf einen langen Stecken.

»Ich bin Wilbolt aus Neustadt.«

»Hinrick von Linden.«

»Du hast nicht zufällig ein Stück Brot bei dir, welches du mit einem hungrigen Wanderer teilen möchtest?« Wilbolt warf einen begehrlichen Blick auf Hinricks ausgebeulte Tasche.

Der drückte seinen Besitz enger an den Körper.

»Du brauchst keine Angst zu haben. Ich bin ein ehrbarer Mann und kein Räuber. Ich habe nur seit zwei Tagen nichts mehr gegessen. Hast du Brot in deinem Beutel?«

Hinrick nickte. Wie immer, wenn er zu seinen Besuchen ins Kloster aufbrach, hatte ihm seine Mutter auch heute Morgen reichlich Verpflegung eingepackt. Schon häufiger hatte Hinrick sie wegen der Mengen, die sie ihm zusteckte, geneckt. Er sei in wenigen Stunden in Werden, hatte er gescherzt. Das, was sie ihm als Essen aufdrängte, würde für eine Reise bis Frankfurt reichen. Und selbst dann müsse er dort noch die Hälfte davon wegwerfen. Wolle sie ihn mästen? Aber seine Mutter hatte nur gelächelt und noch ein Stück gesottenes Fleisch dazugelegt.

»Ich denke,« erwiderte er deshalb, »es reicht für uns beide.«

Eine halbe Stunde später wischte sich Wilbolt den Mund ab, rülpste kräftig und strich sich zufrieden über den Bauch. »Danke. Du hast mir das Leben gerettet.«

Hinrick schaute amüsiert auf das Wenige, was der Wanderer verschmäht hatte. Heute dürfte er den Tag in der Bibliothek zum ersten Mal mit knurrendem Magen verbringen.

»Du kommst also aus Hattingen?«

»Ja.«

»Die Wachen wollten mich gestern nach Sonnenuntergang nicht mehr in die Stadt lassen. Also habe ich im Freien übernachtet. Glücklicherweise hat es nicht geregnet. Wohin willst du?«

»Nach Werden.«

»Da will ich auch hin. Und dann weiter nach Düsseldorf. Was machst du in Werden?«

»Das Benediktinerkloster besuchen.«

Wilbolts Gesicht verfinsterte sich. »Du bist doch nicht etwa ein Pfaffe?«

»Nein.«

»Ein Bediensteter der Mönche etwa?«

»Nein.«

»Ein Händler bist du auch nicht. Was willst du dann im Kloster?«

»Ich möchte in die Bibliothek. Lesen und studieren.«

Wilbolt spuckte aus. »Pah! Was kann ein junger Mann wie du schon von Mönchen lernen? Sie sind fett und faul. Papisten eben.« Er musterte sein Gegenüber. »Bist du einer von ihnen?«

»Ihr meint, ob ich an Gott glaube?«

»Nein. Ich meine, ob du an den Papst glaubst.«

Hinrick machte ein nachdenkliches Gesicht. »Wenn ich ehrlich bin, weiß ich das nicht genau.«

Die Miene des anderen hellte sich auf. »Das ist doch ein Anfang. Hast du schon etwas von Martin Luther gehört?«

»Ja.«

»Und was hältst du von ihm?«

»Es ist interessant, was er scheibt.«

Wilbolt sprang auf. »›Interessant‹? Er hat zwar unsereins verdammt, sich aber als Erster gegen den Papst gestellt. Das rechne ich ihm trotz allem hoch an.« Als Wilbolt Hinricks fragendes Gesicht bemerkte, erklärte er: »Luther hat sich gegen den Ablass gewandt. Aber nicht nur das. Er hat den verfluchten Papst als das bezeichnet, was er ist: ein Diener des Teufels.« Der Wanderer nahm einen großen Schluck aus seinem Schlauch. »Allerdings hat er uns später hintergangen. Hat sich gegen die aufständischen Bauern gewandt, sie als räudige Hunde bezeichnet und gefordert, sie zu erschlagen. Pfui Teufel!« Wieder spuckte er verächtlich aus. »Sei’s drum. Dem Papst jedenfalls hat er die Stirn geboten.«

Hinrick stand auf. »Tut mir leid, aber ich muss weiter. Die Bibliothek, Ihr versteht …«

»Nun lass das vornehme Getue.« Der Fremde streckte ihm die Hand hin. »Ich bin Wilbolt.«

Hinrick nickte.

»Ich begleite dich bis zu deinen Pfaffen. Auf dem Weg dorthin erzähle ich dir etwas über mich und den Baltringer Haufen. Da lernst du mehr über das Leben als aus den Büchern dieser verdammten Klosterbibliothek.«

Neustadt, so begann Wilbolt, liege im Thüringischen an der Orla. Dort habe er noch vor sechs Jahren gelebt. Er sei Schneider gewesen und habe kurz davor gestanden, Meister zu werden und der Gilde beizutreten. Aber dann sei alles ganz anders gekommen. »Die Herren von Beulwitz residierten damals wie heute auf Schloss Eichicht. Sie plünderten das Volk aus, wo sie nur konnten. Irgendwann hatten wir die Nase voll. Es war Ende April vor sechs Jahren. Ein ebenso milder Tag wie der heutige. Eine Abordnung der Neustädter zog zum Schloss, um den Herren eine Lehre zu erteilen. Ich war einer von ihnen.«

Er erzählte, wie sie begonnen hatten, den Schlossteich leer zu fischen. Als der empörte Besitzer sie zur Rede stellte, nahmen sie ihm sein Pferd und zwangen ihn, zu Fuß zurück zu seinem Schloss zu laufen – für einen Adeligen eine große Schmach.

Die erbeuteten Fische banden sie auf Stangen und trugen sie in einem Triumphzug zurück in die Stadt, begleitet von der Musik der städtischen Pfeifer und Trommler. Dort brieten sie ihre Beute auf dem Marktplatz und verspeisten sie im Haus eines Ratsherrn.

Dummerweise verspürte einer der Fischer noch Hunger und kehrte allein zum Teich zurück. Dort wurde er verhaftet und in einer nahe gelegenen Festung inhaftiert.

Am nächsten Tag hatte sich die Festnahme herumgesprochen. Der Stadttrommler rief die Bevölkerung an der Kapelle zusammen. Auch der Magistrat erhob keine Einwände gegen die Versammlung, im Gegenteil: Er überließ den wütenden Bürgern Waffen und Pferde.

»Dann hieß es, der Häftling sei getötet worden«, berichtete Wilbolt. »Da gab es für uns kein Halten mehr. Wir haben Schloss Eichicht gestürmt, den Bewohnern aber kein Haar gekrümmt. Das schwöre ich!« Er hielt demonstrativ drei Finger in die Höhe. »Die Schlossherrin hat uns sogar ihre Küche geöffnet. Mann, was haben wir geschmaust. So besoffen wie an diesem Tag war ich schon lange nicht mehr. Mittlerweile hatten sich uns auch die Bauern der Umgebung angeschlossen. Die waren arm und hatten noch mehr Hunger als wir. Tja, und dann sind wir doch in die Wohnräume der hohen Herren und haben dort das eine oder andere mitgenommen.«

Zurück in Neustadt, so Wilbolt weiter, hätte sich der Stadtrat gegen sie verschworen. Er habe insgeheim mit dem Landesfürsten Kontakt aufgenommen und sie verraten. Der bewaffnete Haufen solle vor den Toren bleiben, baten die Räte, um der Stadt mögliche Repressalien zu ersparen. Während sie noch verhandelten, um ihren Protest niederzuschreiben, wurden die Aufständischen von Stadtsoldaten entwaffnet und interniert. Die Erhebung war in sich zusammengebrochen, bevor sie richtig angefangen hatte.

»Viele von uns wurden in den Kerker geworfen, gefoltert oder verstümmelt. Mir gelang die Flucht. Die Stadt musste ihre Waffen abgeben und eine Strafsteuer bezahlen.« Wilbolt schüttelte den Kopf. »Wie dumm wir waren. Aber warum sollte es uns besser ergehen als den anderen.«

»Welchen anderen?«, wollte Hinrick wissen.

»Na, dem Baltringer Haufen«, erläuterte Wilbolt. »Er hat in Memmingen die Zwölf Artikel verfasst.« Der Vertriebene kramte in seiner Hosentasche und zog ein zerknittertes Stück Papier hervor. Er strich es mit den Händen glatt. »Darin steht, dass wir unsere Pfarrer selbst wählen, keinen Zehnten mehr bezahlen, weniger Frondienst leisten und keine Todesfallsteuer mehr zahlen wollen. Auch weniger Pacht wird gefordert. Außerdem sollen die Leibeigenschaft abgeschafft, Jagd- und Fischereifreiheit gewährt und die dem Adel gehörenden und von den Städten geraubten Wälder zurückgegeben werden. Waren das jetzt zwölf Forderungen?« Er zählte leise nach. »Nein, nur acht.« Wilbolt lachte und reichte Hinrick das Flugblatt. »Du kannst ja lesen. Also lies.«

Die Kirchtürme Werdens erschienen über den Baumspitzen. Sie erreichten eine Weggabelung. Wilbolt blieb stehen. »Jetzt hast du dein Ziel fast erreicht. Ich werde dich nicht länger begleiten, sondern die Stadt rechts liegen lassen. Sicher schaffe ich den Weg bis Sonnenuntergang.«

»Was willst du in Düsseldorf?«

»Ich kenne dort einige Leute. Vielleicht gelingt es mir, wieder als Schneider zu arbeiten und mich dort niederzulassen. Zu lange war ich auf der Flucht vor den Schergen des Adels, die wahrscheinlich immer noch nach mir suchen.« Er klopfte seinem Begleiter auf die Schulter. »Mach’s gut, mein junger Freund. Und danke für das Essen.« Dann wandte er sich nach links.

Nachdenklich sah der junge Hattinger ihm hinterher.

Wenig später grüßte Hinrick freundlich den alten Mönch, der an der Pforte seinen Dienst tat, meldete sich an und betrat nach Genehmigung das Innere des Klosters. Er musste nicht weit bis zur Bibliothek laufen. Sie lag im Obergeschoss des nördlichen Kreuzgangflügels, direkt bei der kleinen Kapelle des Abtes, die wiederum an die mächtige Basilika Sankt Ludgerus grenzte.

Hinrick stieg die ausgetretenen Stufen hinauf und klopfte an die schwere Eichentür. Bruder Gregor, dem die Bibliothek unterstand, öffnete. Er lächelte, als er den Besucher erkannte.

Vor etwa einem Jahr waren sie sich das erste Mal begegnet. Gregor war im Auftrag seines Ordens unterwegs gewesen, um Federkiele und anderes Schreibmaterial zu kaufen. Hinrick sollte nach dem Wunsch seiner Mutter auf dem Markt in Werden nach seltenen Kräutern suchen. Für den Mönch war es der erste Aufenthalt außerhalb der Klostermauern seit mehr als dreißig Jahren. Ein Händler versuchte, seine Unwissenheit auszunutzen und ihm die Waren zu völlig überteuerten Preisen zu verkaufen. Hinrick hatte eingegriffen und Bruder Georg so davor bewahrt, über den Tisch gezogen zu werden. Im anschließenden Gespräch hatte er von seiner Sehnsucht nach Büchern erzählt. Seitdem genoss er die Gunst des Bibliothekars.

»Ist schon wieder Samstag?«, erkundigte sich der Mönch im Scherz. »Gott lässt die Tage so schnell vergehen, dass wir armen Sünder kaum mitbekommen, wie wir altern. Aber einen so jungen Spund wie dich muss das ja nicht interessieren.«

Hinrick beugte ehrerbietig den Kopf zum Gruß.

»Heute musst du dich besonders ruhig verhalten«, schärfte Bruder Georg ihm ein. »Unser Abt ist im Bibliothekssaal. Er hat einen Gast mitgebracht. Ein Berater unseres Landesfürsten. Also störe die Herren nicht.«

Hinrick nickte. Er würde niemals etwas tun, was ihm den Zugang zu den Büchern verwehren könnte.

Der Mönch ließ ihn eintreten und schloss vorsichtig die Tür. Hinrick erkannte an einem der Tische, an denen üblicherweise die beiden Schreiber arbeiteten, den Abt und einen ihm unbekannten Mann. Der Fremde trug eine schwarze Schaube mit großem Pelzkragen, seinen dunklen Filzhut hatte er auf dem Schreibtisch neben sich abgelegt. Beide Männer beugten sich über eine Karte und schenkten Hinrick keine Beachtung.

Bruder Gregor führte seinen Gast zu einem Fensterplatz. »Möchtest du wieder das Werk des Professors Eck studieren?«

Hinrick nickte. Ihn interessierte die Kampfschrift des Theologen aus Ingolstadt, die dieser gegen Luther verfasst hatte. Bruder Gregor holte das Buch aus einem der Schränke und schon bald war Hinrick dermaßen in den Text versunken, dass er seine Umgebung nicht mehr wahrnahm.

»Ein junger Mann Eures Alters, der seine Freizeit in der Bibliothek und nicht in Schenken verbringt. Wirklich sehr lobenswert.«

Unbemerkt war der Unbekannte an Hinricks Lesepult getreten. Der schreckte hoch. Hektisch sah er sich um. Hatte er den anderen Besucher etwa gestört? Aber der Mann vor ihm schien nicht verärgert zu sein, im Gegenteil. Seine Stimme klang freundlich und er lächelte fein. Allerdings waren der Abt und Bruder Gregor nicht mehr in der Bibliothek.

»Was lest Ihr da?«, erkundigte sich der Fremde.

»Ecks Kampfschrift gegen Luther.«

»Und? Was haltet Ihr davon?«

»Ich weiß nicht so recht.«

Der Mann zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Versteht Ihr womöglich Ecks Argumentation nicht?«

»Doch. Das ist es nicht. Wenngleich …«

»Ja?«

»Es fällt mir immer noch recht schwer, Latein zu lesen. Trotz der Grammatik und des Wörterbuches, die mir mein Vater gab. Mein Problem liegt an anderer Stelle.«

»Und die wäre?«

»Ich habe nur über diesen Luther gelesen, nie eines seiner Bücher. Und so kann ich nicht überprüfen, ob Ecks Argumente, die er gegen ihn ins Feld führt, richtig sind.«

»Hoho. Ihr traut Euch zu, die Argumentation eines Theologieprofessors infrage zu stellen?«

»Das habe ich nicht gesagt«, erwiderte Hinrick. Er war entschlossen, sich nicht einschüchtern zu lassen. »Ich kann sie nur nicht überprüfen. Wenn Eck behauptet, Luther habe dieses oder jenes gesagt, muss ich das glauben. Hätte ich Luthers Schriften zur Verfügung …«

Der Mann lachte laut auf. »Luther in einer Bibliothek der Benediktiner? Das wäre ein gelungener Scherz.«

»Warum denn nicht?«, erwiderte Hinrick. »Die besseren Argumente sollten sich durchsetzen. Wie sonst soll man wissen, was wahr oder falsch ist?«

»Große Worte für einen jungen Mann. Aber Ihr habt nicht unrecht. Nur dürfte eine Klosterbibliothek aus Sicht der Mönche nicht der richtige Ort für solche Disputationen sein. Ihr stammt aus Hattingen, habe ich gehört?«

»Ja. Ich heiße Hinrick von Linden.«

»Und ich bin Konrad Heresbach. Es hat mich gefreut, Eure Bekanntschaft zu machen.«

Ein Königreich von kurzer Dauer

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