Читать книгу Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 1 und 2 - J.H. Praßl - Страница 14

Thorn Gandir

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In weiter Ferne zeichnete sich die Palisade eines kleinen Militärlagers am blauen Firmament ab. Links und rechts davon konnte Rosmerta die Gebäude zweier Landgüter erkennen.

Das Lager war kaum sichtbar, aber Rosmerta rannte so schnell ihre Beine sie tragen konnten.

Weit hinter sich hörte sie leises Hufgetrappel.

Der Wind trug das Stampfen und Schnauben von mindestens zehn Pferden an ihre Ohren heran. Sie waren bestimmt noch weit entfernt, kamen aber bedrohlich schnell näher.

Es waren Cartius’ Männer, dessen war sie sich sicher. Vermutlich Späher. Wenigstens musste sie den Waldläufer nicht mehr hinter sich herzerren, wie noch tags zuvor. Rosmerta sah starr geradeaus und versuchte krampfhaft, nicht daran zu denken, was die ehemaligen Sklaven mit ihr anstellen würden, wenn sie sie zu fassen bekämen.

Von Thorn hörte sie nichts. Vielleicht war er unmittelbar hinter ihr, vielleicht auch nicht. Es war ihr egal.

Am Morgen, nachdem die Elfe gestorben war, hatte sie ihn neben dem Grab, das er ausgehoben hatte, schlafend vorgefunden. Sie selbst hatte sich, nachdem die Übelkeit nachgelassen hatte, in ihr Lager zurückgeschleppt und dort vergebens auf Thorn gewartet. Schlafen hatte sie beim besten Willen nicht gekonnt. Die ganze Nacht hatte sie sich unruhig auf ihrer Decke gewälzt, war aufgestanden und hatte Wache gehalten, nur um sich todmüde wieder hinzulegen.

Am Morgen war er immer noch nicht zurück und so hatte sie ihn gesucht. Er lag völlig kraftlos an einem Bachufer. Sein Kopf ruhte am Fuße eines Grabes. Sein Gesicht war voller Erde und seine Hand schloss sich lasch um seinen von Elfenhand gefertigten Dolch. An dessen Spitze klebte eingetrocknetes Blut.

Sie hatte ihn geweckt und versucht, ihn zum Aufbrechen zu motivieren, aber nachdem er endlich wach war, saß er nur völlig lethargisch und bar jeden klaren Gedankens da. Keinen Moment wich er von Kitayschas Grab. Er hatte nicht gegessen und nicht getrunken. Rosmerta konnte ihn schütteln, ihn anschreien, sogar mit den Füßen treten – es war ihm offensichtlich egal.

Schließlich hatte sie begonnen, ihre Kleider zu reinigen, und gehofft, dass er am nächsten Morgen so weit wäre, loszumarschieren. Tatsächlich war er im Morgengrauen aufgestanden, hatte seinen Blick vom Grab abgewandt und wortlos seine wenigen Sachen zusammengepackt.

Sie waren nur langsam vorangekommen, weil er anscheinend nicht die geringste Eile hatte, Valianor zu erreichen, und mit einer Gemütlichkeit dahingeschlendert war, die Rosmerta mächtig an die Nieren ging. Eineinhalb Tage lang waren sie in diesem Schneckentempo unterwegs gewesen. Nicht ein einziges Mal hatte Thorn das Wort an sie gerichtet oder auf ihre Fragen geantwortet. Mit keiner Geste hatte er sich bei ihr für seinen brutalen Schlag entschuldigt. Darüber war sie besonders wütend.

Nun lief sie mit einer dunkelblau-violett schattierten, angeschwollenen Nase durch die Gegend und hasste ihn dafür.

Vor wenigen Augenblicken hatte sie eine Staubwolke ausgemacht, die sich langsam auf sie zubewegte. Offensichtlich hatten Cartius’ Männer ihre Fährte aufgenommen und begonnen, in wildem Tempo hinter ihnen herzujagen. Sie hatte Thorn ihre Entdeckung zugerufen und war dann einfach losgerannt, ohne darauf zu achten, ob er ihr folgte.

Nun schoss sie voller Angst auf das Militärlager zu. Der Schweiß lief ihr in Strömen übers Gesicht und ihre Lungen brannten so heftig, dass sie kaum noch atmen konnte.

Rosmerta schloss die Augen, als könnte sie so den Schmerz, der in ihren Beinen und ihrer Brust hämmerte, einfach fortblinzeln.

Ein Pfeil zischte dicht an ihrem Ohr vorbei. Sie schrie leise auf, hielt aber unverdrossen auf das Lager zu. Es war nicht mehr weit! Sie musste es schaffen!

Plötzlich hörte sie unmittelbar neben sich eine Stimme: „Sie haben aufgegeben.“

Rosmerta zuckte zusammen und wäre beinahe gestolpert. Doch sie fing sich gerade noch und riss den Kopf herum.

„Thorn!“, keuchte sie und kam nach einigen Schritten zum Stehen. Dann brach sie zusammen.

„Wahrscheinlich haben sie das Lager gesehen!“, stieß sie hervor.

Thorn nickte stumm und marschierte wortlos an ihr vorbei.

Leise fluchend rappelte Rosmerta sich auf. Würde er jetzt wieder in dieses unerträgliche Schweigen verfallen? Wie lange sollte das noch so weitergehen?

Zwei Wachposten flankierten das Tor zum Lager und stritten gerade heftig, als die beiden auf sie zukamen. Einer der beiden lachte laut auf und tippte sich an die Stirn, woraufhin der andere verärgert sein Gesicht abwandte.

Als sie Rosmerta und Thorn erblickten, nahmen sie Haltung an. Wie auf Kommando kreuzten sie ihre Speere und blockierten den Eingang.

Rosmerta zischte Thorn von der Seite an: „Du hast doch deine Papiere noch, oder?“

Thorn löste wortlos die lederne Rolle von seinem Gürtel, riss ein Schriftstück heraus und hielt es einem der Soldaten vors Gesicht.

Rosmerta hatte sein Schweigen endgültig satt. Unsanft drängte sie ihn beiseite und baute sich hocherhobenen Hauptes vor dem Legionär auf.

Sie zeigte auf Thorn.

„Das ist …“

„Thorn Gandir“, vervollständigte Thorn müde lächelnd, als er in das verdutzte Gesicht des Wachpostens schaute.

Rosmerta starrte ihn fassungslos an. Es war das erste Lächeln seit Tagen. Fast hätte sie sich darüber gefreut, doch dann wurde ihr schmerzlich bewusst, dass das Lächeln nicht ihr galt.

„Ich kenne den Mann!“, flüsterte der zweite Wachposten. „Das ist einer der Helden des Valianischen Imperiums. Der Waldläufer Tho…“

„Ich weiß, wer das ist!“, fauchte der Kollege und richtete sich zu seiner vollen Größe auf; seine Gesichtszüge wirkten wie in Stein gemeißelt, als er vor Thorn salutierte.

„Ave, Thorn Gandir, Oberbefehlshaber der Legionen, Ehrenbürger Valianors und Hel…“

„Schon gut.“

Thorn gab dem Mann einen Klaps auf die Schulter, eine Geste, die den strammen Soldaten schwer aus der Fassung brachte. Dann blickte er zu Rosmerta und in seine Augen stahl sich ein kleines Funkeln.

„Die Dame hier bräuchte eine standesgemäße Körperwäsche und eine Salbe für ihre Nase. Ihr seht ja, wie sie aussieht!“

Sein Blick glitt in die Ferne und verlor sich zwischen den Felsen, die das Nadrus-Tal umschlossen. Abwesend fuhr er sich durch sein verschwitztes Haar, während die Wachmänner ihn erwartungsvoll anstarrten. Rosmerta ahnte, woran Thorn dachte, und hoffte inständig, dass sein sentimentaler Augenblick nicht zu lange andauerte.

„Und jetzt lasst uns passieren!“ Thorn warf den beiden Männern einen letzten Blick zu, umrundete sie und schritt, bevor sie noch etwas sagen konnten, zielstrebig auf das Hauptzelt im Zentrum des Lagers zu.

Das große Zelt hob sich deutlich von den anderen ab. An seiner Spitze prangten valianische Banner in den Farben Grün, Gold und Silber. Eine der Flaggen zierte das Emblem eines goldenen Greifen in einem silbern schimmernden Ring, der mit wachsamen Augen auf den Waldläufer herunterblickte. Widerstrebend nahm Thorn das valianische Wappen zur Kenntnis. Dann schlug er die Plane zur Seite und verschwand im Inneren des Zeltes.

Die Stille macht mich verrückt! Nicht die Stille um mich herum – sie ist mir eine unendliche Wohltat. Es ist die Stille in meinem Inneren. Eine Leere, die eisig schwarze Löcher in alles Leben reißt und das Nichts zu einer grauenhaften Substanzlosigkeit heranwachsen lässt.

Ich dachte, die Leere in mir verloren zu haben. Ich dachte, ich wäre zu neuem Leben erwacht.

Ich bin Thorn Gandir, Ehrenbürger Valianors, Oberbefehlshaber der valianischen Streitkräfte, Held des Imperiums …

Ich bin Thorn Gandir, ein Waldläufer aus Alba, Freund der Elfen und Feind der Clans …

Doppelgesichtig ist mein Dasein und doppeldeutig mein Name. Zwiefach stehe ich im Leben und mein Leben spaltet mein Ich.

Es war ihre unverhohlene Lebendigkeit, ihr nicht zu untergrabender Lebensmut und die Art ihrer unverfälschten Natur, die mir mein eigenes Wesen wieder nähergebracht haben. Wie der Wald meiner Heimat mit seinen bewegten Wipfeln und den zärtlichen Gesten seiner Zweige, schützend und tröstend, wie die Flüsse Albas, die wutentbrannt den Kies und die Erde ihres Grundes aufpeitschen und sich bei Regengüssen wild und ungezähmt über ihre Ufer werfen, ihren Grenzen trotzend; gleich der im Wind wogenden Gräser, die sich nicht sträuben, wenn ihnen eine sanfte Hand die Richtung weist; geradeso hat sie sich mit dem Wald, dem Fluss und den Gräsern vereint. Geradeso habe auch ich mich mit der Natur vereint. So sind wir beide einen gemeinsamen Weg gegangen. Doch oder gerade deshalb habe ich nicht nur sie verloren, sondern auch mich selbst.

Die Stille in mir ist greifbares Nichts …

Ein Windstoß hob das Pergament und ließ es sachte von der Tischkante auf den Teppich gleiten. Als Thorn überrascht seinen Kopf hob, registrierte er eine schemenhafte Handbewegung, die die Zeltplane wieder zurückschob und den kalten Wind nach draußen sperrte.

Niemand würde um diese Zeit unaufgefordert sein Zelt betreten. Es war spät in der Nacht, und da gab es nur eine Störung: wenn Alarm geschlagen wurde. Wer wagte es …?

Die Gestalt verharrte im zwielichtigen Dunkel der schwach flackernden Kerze.

Thorn zog misstrauisch seine Augenbrauen zusammen und griff nach dem Dolch auf dem Tisch.

„Wer da?“

Als sich die Gestalt leicht bewegte, erhob sich Thorn blitzschnell aus seinem Sessel. Er umrundete den Tisch und blieb in der Mitte des Zeltes stehen. Jetzt konnte er die Umrisse des Eindringlings deutlich erkennen. Er war nicht so groß wie Thorn. Der Schatten nahe dem Eingang zeugte von einem deutlich kleineren Körperwuchs.

Die Kerze flackerte wild, noch einmal züngelte ihre Flamme über den Docht hinaus und erlosch dann.

Es wurde stockfinster.

Während Thorn fieberhaft überlegte, ob er dem Fremden den Dolch ohne Umwege zwischen die Rippen stoßen oder abwarten sollte, hörte er ein Rascheln wie von einem samtigen Gewand und spürte kurz darauf warmen Atem an seiner Wange. Innerhalb eines Herzschlags hatte er den Fremden gepackt, seinen Arm auf den Rücken gedreht und ihm den Dolch an die Kehle gesetzt.

Ein schmerzhaftes Stöhnen brach die Stille und ließ Thorn verwirrt aufhorchen.

Sein Griff lockerte sich. Als er einatmete, stieg ihm ein wohlbekannter Duft nach Rosen in die Nase – zu intensiv für seinen Geschmack.

„Was machst du hier, Rosmerta?“, fragte er kühl.

„Ich muss mit dir reden“, flüsterte sie und Thorn konnte spüren, wie sie erschauerte.

Er ließ sie los, zündete die Kerze wieder an und hob das Stück Pergament vom Boden auf. Mit einem knappen Griff schloss er das in Leder gebundene Buch. Seine persönlichen Aufzeichnungen hätte er nur ungern in Rosmertas Händen gesehen.

„Und warum gibst du dich nicht zu erkennen, wenn du mein Zelt betrittst? Hast du deine Spielchen nicht langsam satt?“

Gereizt sank er auf den Stuhl hinter dem kleinen Tisch, der im entlegensten Winkel des spartanisch eingerichteten Zeltes stand, in welchem sich, abgesehen von zwei Sitzgelegenheiten, dem Tisch und einem Teppich, nur ein paar wahllos verstreute Decken befanden.

„Du bist in letzter Zeit so schweigsam“, antwortete Rosmerta und stützte sich mit beiden Händen auf die Tischplatte. „Ich dachte, ich überrasche dich mit meinem Besuch und sorge dafür, dass sich deine Stimmung hebt. Außerdem: Hätte ich mein Kommen angekündigt, hättest du mich abgewiesen, oder etwa nicht?“

Thorn schwieg, ohne sie aus den Augen zu lassen.

Rosmerta wartete, doch als er keine Anstalten machte, zu antworten, setzte sie sich auf die Tischplatte unmittelbar neben ihn, überkreuzte die Beine und heftete ihren Blick auf seine nackte Brust.

Thorn hatte das Hemd, das bis zu seinen Knien reichte, mit einem dünnen Gürtel locker unter dem Bauchnabel zusammengebunden. Seine Hosen lagen bereits neben seinem Lager, wo er sie fallen gelassen hatte. Er hatte keinen Besuch mehr erwartet.

„Du hast dich also entschieden, mit mir nach Valianor zu kommen“, griff sie die Unterhaltung wieder auf.

„Ohne dich lässt es sich kaum machen.“ Er tippte mit den Fingern ungeduldig auf den Tisch. „Es sei denn, ich nehme mir einen eigenen Trupp als Eskorte, aber ich schätze, dass Dorinius etwas dagegen hat. Er würde sicher nur ungern seine Zenturien aufteilen, damit wir beide unter Geleitschutz heil nach Valianor kommen.“

„Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass du nach … ich meine, ohne Kitayscha …“

„Du dachtest, ich hätte nun keinen Grund mehr, in die Hauptstadt zu reisen.“

Rosmerta nickte.

„Das dachte ich zunächst auch“, sagte Thorn, während er sie unverwandt ansah. „Die Dinge haben sich geändert.“

Es war offensichtlich, dass er ihr die Gründe für seinen Sinneswandel nicht mitteilen wollte. Also wechselte sie das Thema.

„Wie wär’s mit einem Becher Wein?“, schlug sie gutgelaunt vor.

Seufzend holte Thorn zwei Becher und einen Krug Rotwein unter einem weißen Tuch hervor, schob Rosmerta einen der Becher zu und schenkte ihr und sich selbst ein.

Während er seinen Becher in einem Zug leerte, nippte Rosmerta nur daran.

„Ich werde dem Senatsvorsitzenden anbieten, die valianischen Legionen zu befehligen“, bemerkte sie plötzlich.

„Tu das“, antwortete Thorn gleichgültig und starrte auf die Zeichnung, die noch auf dem Tisch lag und eine in feinen Linien gemalte Elfenkriegerin zeigte.

Rosmerta warf einen flüchtigen Blick auf die Skizze.

„Ich denke, ein Posten beim Militär könnte mir liegen. Außerdem ist die Bezahlung nicht schlecht und dank meines Namens dürfte ich auch keine Autoritätsprobleme haben.“

Thorns Blick glitt über ihr nussbraunes Haar, das von einem goldenen Reifen an ihrem Hinterkopf zusammengefasst war und in einem Strang bis in ihren Nacken fiel, wo es sich leicht kräuselte. Sie trug ein Kleid, das eine Kordel an ihrer Taille straffte und dessen Stoff so dünn war, dass man die Wölbungen darunter mehr als nur erahnen konnte. Rosmerta war ganz klar eine Frau, die nicht die geringste Hemmung hatte, ihre körperlichen Reize einzusetzen, um zu bekommen, was sie wollte. Und genau diese Strategie verfolgte sie gerade. Sie wollte etwas und es war überdeutlich, was. Blieb die Frage, ob ihr Begehren bloß körperlicher Natur war oder ob mehr dahinter steckte.

Rosmertas Wangen hatten ein zartes Rosa angenommen und Thorn mutmaßte, dass sie seine Blicke falsch deutete. Und richtig, jetzt stellte sie ihren Becher beiseite und stützte sich mit einer Hand auf seiner Stuhllehne ab, sodass der Ausschnitt ihres Kleides noch weiter nach unten rutschte und die Rundungen ihrer Brüste freigab, die nun unmittelbar vor seinem Gesicht schwebten.

Thorn sah ihr gerade in die Augen. Oh nein, Rosmerta. Nicht mit mir.

„Was wirst du tun, wenn wir in Valianor sind?“, fragte sie ihn mit einem übertriebenen Augenaufschlag. „Willst du nicht auch bei den Truppen bleiben? Fändest du es nicht effektiver, wieder mit einem Heer loszuziehen, als mit ein paar Handlangern, auf die du dich sowieso nicht verlassen kannst?“

„Wie du weißt, kann ich mit dem Militär nichts anfangen. Und allem Anschein nach habe ich auch kein Talent für das Kommandieren von Truppen. Ich habe diesen Auftrag bloß angenommen, weil Testaceus mich darum gebeten hat.“

Am liebsten hätte sie ihn geschlagen, um ihn aus der Reserve zu locken. Doch stattdessen wurde ihre Stimme wieder sanfter.

„Ich weiß, dass es schwer für dich ist, Thorn. Du hast all deine Freunde verloren. Ich …“

„Es waren auch deine Freunde“, unterbrach er sie verärgert.

Sie zuckte leicht zusammen, fing sich aber gleich wieder.

„Nun ja, der eine mehr, der andere weniger“, gab sie unbekümmert zurück. Dann wurde ihre Stimme eindringlich. „Testaceus braucht dich. Der Kampf gegen die Sklaven ist noch nicht vorbei und er wird nicht ruhen, bis Cartius tot oder in den Händen des Senats ist.“

Beiläufig strich sie die Falten ihres Kleides glatt und streifte dabei wie zufällig den schmalen Träger, der ihr Schlüsselbein bedeckte. Der Stoff rutschte über ihre Schulter und blieb in ihrer Armbeuge hängen.

„Testaceus schätzt dich und behandelt dich gut. Was willst du mehr?“

„Als ob ich darauf Wert lege.“

Sie überging seinen Einwurf einfach.

„Wir waren ihm mehr als einmal eine große Hilfe, Thorn. Die Zeit, die wir in seinen Diensten standen, war jedenfalls eine Zeit gewinnbringender Veränderungen, für Testaceus ebenso wie für uns.“

Rosmerta war nun ganz in ihrem Element. Ihr Zopf pendelte unruhig zwischen ihren Schulterblättern, während sie energisch fortfuhr: „Er braucht dich! Du warst immer derjenige, der uns mit Takt und Vernunft durch die gefährlichsten Situationen manövriert hat. Und ich brauche dich auch!“

Ah, jetzt kommen wir der Sache schon näher.

Thorn konnte deutlich spüren, wie sich Rosmerta zögernd aus ihrem Panzer hinausbewegte. Ihr Mut war gestiegen. Sie sah ihre Chance und ihr stetig näherrückendes Gesicht gab Zeugnis davon.

Thorn hätte sie gewarnt, ihr die Hoffnungslosigkeit ihrer Annäherungsversuche vor Augen geführt, doch sie ließ ihn nicht zu Wort kommen.

„Ja, Kit ist tot, Thorn“, fuhr sie sinnlich flüsternd fort. „Aber du lebst! Wir leben! Wir müssen weitermachen!“

Jetzt war ihr Gesicht so nahe, dass er ihren Atem auf seinem Kinn spüren konnte. Dachte sie wirklich, er würde sie küssen?

„Vergiss, wer alles gestorben ist! Wo gehobelt wird, da fallen Späne! Du wirst neue Freunde finden!“

Sie hatte vor lauter Eifer, sich ihn gefügig zu machen, die bedrohlichen Falten auf seiner Stirn übersehen. Thorn stand so plötzlich auf, dass der Stuhl hinter ihm umkippte und Rosmerta erschrocken zurückfuhr. Einen Lidschlag später stand sie neben dem Tisch und er ihr direkt gegenüber.

„Wo gehobelt wird, da fallen Späne?! … Neue Freunde?! … Und ich soll vergessen?!“, zischte er, die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengezogen. „Du bist so schwer von Begriff, dass es wehtut! Neue Freunde?! Dass ich nicht lache! Als ob es mich schert, allein zu sein! Besser allein als in falscher Gesellschaft!“

Während sie ihn wie paralysiert anstarrte, drängte er sie vor sich her Richtung Zeltwand.

„Ich bin ein Waldläufer! Weißt du, was das bedeutet? Das bedeutet, ich habe kein Problem damit, allein zu sein!“

Thorn erhob vor Rosmertas aufgerissenen Augen seine Hand. Doch anstatt sie zu schlagen, hielt er ihr nur seine Handinnenfläche vors Gesicht. Ein langer, tiefer Schnitt klaffte in seiner Haut …

„Verlust, das ist mein Problem! Nicht, dass ich allein bin! Dass ich verloren habe, was mir lieb und teuer war, das ist es, was mich innerlich zerreißt!“

Jetzt hatte sie die Zeltplane in ihrem Rücken und konnte nicht weiter zurückweichen. Er stand ihr direkt gegenüber, während sie hilflos auf den tiefen Schnitt in seiner Hand starrte.

„Du bist so kalt und leer wie deine Augen – starr und leblos“, flüsterte Thorn bitter.

Dann verfiel er in Schweigen, schloss seine Augen und atmete tief durch.

Als er die Augen wieder öffnete, war da nur diese traurige Gewissheit, dass er nicht verstanden wurde, nie verstanden werden würde – von niemandem. Am allerwenigsten aber von Rosmerta. Es tat ihm fast leid um sie. Aber im Augenblick herrschte nur noch ein alles verzehrendes Feuer in ihm und dieses richtete sich gegen jeden, der sich gegen Kit und ihn verschworen hatte. Rosmerta, Testaceus, … Cartius. Ja, er würde nach Valianor zurückkehren. Aber ganz bestimmt nicht, um Testaceus weitere Gefallen zu tun!

Als seine Hand zu Rosmertas Gesicht glitt, zuckte sie zurück. Doch zu ihrer Verwunderung strich er ihr zärtlich über die Wange. Rosmerta erzitterte und schloss die Augen.

Thorn lächelte.

„Ich weiß sehr gut, wonach du dich verzehrst. Ich weiß, was dich nachts wach hält und dich am Tag in sanfte Träume lullt.“

Behutsam strich er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Dann ließ er von ihr ab und wandte sich um.

„Aber ich werde deine Gefühle nicht erwidern und du wirst das nicht ändern können!“

Er drückte den Kerzendocht aus, während Rosmerta wie gebannt an die Zeltwand gedrückt stand und sich nicht bewegen konnte. Zweifelsohne hatte sie alles erwartet, nur das nicht. Sie hatte geglaubt, dass er sie im Endeffekt begehrte, dass er sie haben wollte wie die meisten Männer. Sie hatte sich geirrt.

„Und nun geh. Ich möchte schlafen“, sagte er müde.

Es war das Letzte, was sie von ihm hörte, bevor sie nach draußen schlüpfte. Ihre Knie waren weich geworden und ihre Hände zitterten.

Eine Weile blieb sie an der Außenwand des Zeltes stehen und versuchte, sich zu sammeln. Es gelang ihr nur schwer. Doch irgendwann spürte sie, wie die Verzweiflung von ihr abfiel und einem anderen Gefühl Platz machte – brennendem Zorn.

„Du hältst mich für deiner nicht wert?“, flüsterte sie, während das Blut heiß durch ihre Venen pulsierte und sie langsam den Weg zu ihrem Zelt in Angriff nahm. „Ich werde dich eines Besseren belehren, Thorn Gandir!“

Am Nachmittag des darauffolgenden Tages war das Lager abgebaut und der Trupp aufbruchsbereit. Nachdem Thorn widerwillig ein paar Worte der Ermutigung an die Legionäre gerichtet hatte – immerhin war er ihr Kommandant – brachen sie auf. Die Reise nach Valianor verlief ohne Zwischenfälle.

Thorn und Rosmerta gingen sich, so gut es eben ging, aus dem Weg und sprachen nur das Allernötigste miteinander. Während Thorn seinem Schmerz Herr zu werden versuchte, vertiefte sich Rosmerta in Gedanken rein pragmatischer Natur. Doch weil sie wusste, dass sich das Nützliche meist mit dem Nutzlosen verbinden ließ, kurz, mit dem Aufbegehren der Seele, war sie wesentlich besser gelaunt als Thorn.

Am Abend des dritten Tages, als die Dämmerung langsam über dem Valianischen Imperium hereinbrach, sahen sie in weiter Ferne die Dächer Valianors und als die Nacht heraufzog, passierten sie endlich das östliche Stadttor.

Kurz nachdem sie die Stadt betreten hatten, näherte sich noch jemand dem Tor und wurde ohne viel Aufhebens eingelassen.

Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 1 und 2

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