Читать книгу Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 1 und 2 - J.H. Praßl - Страница 24

Das Zepter der Macht

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Sieben Tage später verfolgte Thorn, gelangweilt an einer weißen Säule im Festsaal der Villa lehnend, die Ruhmes- und Dankesrede des Senatsvorsitzenden. In seinem Kopf und seinem Herzen fühlte er immer noch Cartius’ Präsenz. Der Sklavenführer war tot. Er war in der Arena unter den Augen sämtlicher Bürger Valianors in den Tod gegangen, doch keineswegs so, wie man es von ihm erwartet hatte. Thorn hatte dem Schauspiel nicht beigewohnt, hatte sich aber von Chara die Details schildern lassen, wobei die Umstände seines Ablebens seine trübe Gemütsverfassung ein klein wenig aufhellten.

Testaceus stand in elfenbeinfarbener Festtagstoga mit purpurnem Umhang und charismatischer Führer-Pose auf der breiten Plattform oberhalb der marmornen Treppe, an welcher der Festsaal endete. Hinter der Plattform führten die Stufen weiter zu einer Empore im ersten Stock. Der Saal war dank seiner Größe und der prunkvollen Säulenreihen an den Längsseiten bestens für die von Testaceus inszenierten Feierlichkeiten geeignet, die in ganz Valianor für ihren verschwenderischen Stil und ihre prachtvolle Ausstattung berühmt waren. Die Götter- und Heldenstatuen in den beiden Säulengängen sorgten dazu für eben jenen huldvollen Glanz, der von der valianischen Elite erwartet wurde.

Testaceus blickte von der Plattform auf die elitäre Gesellschaft Valianors hinab. Alle waren sie gekommen, um vom Sieg des Imperiums gegen die aufständischen Sklaven zu hören: die Senatoren, der spärliche Rest des Hohen Rates der Magiergilde, sogar einige Priester aus dem Gryphos-Tempel sowie all jene, die über das nötige Ansehen oder den nötigen Reichtum verfügten – Testaceus enttäuschte keinen von ihnen. Nachdem er den wiederhergestellten Frieden innerhalb des Landes thematisiert hatte, schilderte er die Schlacht gegen den Sklavenführer in allen schillernden Details. Cartius’ Kampf in der Arena erwähnte er hingegen mit keinem Wort. Thorn konnte sich denken, warum. Das grandiose Finale hatte ihm Cartius gehörig verdorben. Er hatte sich erst gar nicht auf einen Kampf mit den Gladiatoren eingelassen, sondern sich seine Schwertklinge unter den empörten Blicken der Schaulustigen und mit einem hochzufriedenen Gesichtsausdruck genussvoll über die Kehle gezogen. Die letzte halbe Trideade war Cartius’ Ende das Thema in Valianor gewesen. Überall in den Straßen konnte man die Leute darüber tuscheln hören. Meistens fielen Worte wie Feigling oder Verräter, manchmal aber hörte Thorn auch zweifelnde Stimmen heraus, die darüber rätselten, ob die Vorwürfe gegen Cartius wahr oder erfunden waren.

Thorn konnte das Ganze nicht mehr hören. Was immer der ehemalige Zenturio auch getan haben mochte, er war gewiss kein machtbesessener Irrer gewesen und dass es ihm geglückt war, ein rasches Ende zu finden und dem Senat einen Strich durch die Rechnung zu machen, freute Thorn umso mehr.

In diesem Moment kam Testaceus auf den gewichtigen Beitrag der Helden zu sprechen. Unmittelbar neben Thorn hob Rosmerta, die förmlich an den Lippen des Senatsvorsitzenden klebte, stolz ihren Kopf. Obgleich ihr immer noch der linke Arm fehlte, wirkte sie überaus zufrieden. Die Heiler konnten nach anfänglichen Schwierigkeiten das Nachwachsen der fehlenden Gliedmaßen einleiten, doch bis Unterarm und Hand wieder vollständig ausgebildet waren, würde noch mindestens ein Mond vergehen.

„Rosmerta, der es als Befehlshaberin der Milizlegionen gelang, den Sklavenführer dingfest zu machen“, sagte Testaceus mit anschwellender Stimme, „hat unserem Imperium damit endgültig zum Frieden verholfen. Ich habe allen Grund, ihr meine größte Hochachtung auszusprechen.“

Mit einem freundlichen Kopfnicken bat er Rosmerta an seine Seite, während sein Blick Thorn streifte.

„Thorn Gandir wiederum bewies im Krieg gegen Cartius seinen meisterhaften Umgang mit Pfeil und Bogen. Er war es, der den Sklavenführer in die Knie zwang und Cartius’ Armee ihres Strategen, ihrer Führung, ja, ihres tragenden Pfeilers beraubte. Seinem beispiellosen Einsatz gilt all mein Respekt.“

Thorn hatte keine Lust, für Cartius’ Niederlage Dank und Bewunderung zu ernten. Trotzdem musste er heute dafür geradestehen und den Helden spielen, den die Gäste von ihm erwarteten.

Sichtlich träge stieß er sich von der Säule ab und schlenderte alles andere als heldengleich durch die Menge auf die Treppe zu. Neugierige Blicke folgten ihm, während er die Stufen hinaufschritt und sich zu Testaceus’ Linken aufbaute.

Thorn erspähte Bargh und Chara, die unterhalb der Plattform standen und die Zeremonie von dort aus mitverfolgten. Beide sahen ihn an. Er lächelte Bargh freundlich zu, doch als seine Augen Charas trafen, verschwand sein Lächeln. Ihr Blick war nüchtern, skeptisch. Fast schien es, als würden ihre schwarzen Augen zu ihm sprechen und die Botschaft war nicht eben angenehm: Wieso stehst du dort oben an der Seite des Senatsvorsitzenden und lässt dir huldigen?

Mit einem Mal verschwanden Langeweile und Missmut und machten einem neuen Gefühl Platz. So schwer es ihm auch fiel, es sich einzugestehen – Chara hatte recht behalten. Sie hatte ihm von Anfang an die essenzielle Frage gestellt: „Welcher Weg wird der deine sein?“

Er hatte einen Weg gewählt, von welchem aus es kein Entrinnen gab. Indem er Testaceus gefolgt war, um seine Rachegelüste zu befriedigen, war er auf einen Weg ohne Gabelung gelangt.

„Es ist an der Zeit, meiner Dankbarkeit, der Dankbarkeit des Senats und des gesamten Imperiums Ausdruck zu verleihen“, fuhr Testaceus förmlich fort und griff nach zwei versiegelten Schriftrollen, die ihm von einem seiner Leibwächter zusammen mit einer länglichen Kiste auf einem schwarzen Samtkissen dargeboten wurden.

Thorn kannte den Mann. Es handelte sich um Nerus Boratus Lexorius, jenen Krieger, der ihn, Kitayscha, Rosmerta und den Senatorenneffen davor bewahrt hatte, Schroeders Angriff vor Valianors Küste zum Opfer zu fallen. Damals hatte er ein Geschwader der valianischen Flotte kommandiert. Mittlerweile schien er in die Leibgarde Testaceus’ aufgestiegen zu sein.

Testaceus überreichte Rosmerta und Thorn je eine Schriftrolle und drehte sich noch einmal nach dem Samtkissen um, bevor er die schwarze Kiste öffnete.

Sorgsam entnahm er dem mit Samt ausgekleideten Kasten einen goldenen Streitkolben. Dann hob er ihn hoch, sodass jeder der Anwesenden ihn sehen konnte, und erklärte mit klarer Stimme: „Dies ist Valians Zepter!“

Thorn beugte sich vor, um die feine Maßarbeit des Zepters zu betrachten, die er eigentlich schon kannte. Der Schaft war mit schwarzen Edelsteinen und Rubinen besetzt und mündete in einen goldenen, scharfkantigen Kopf mit einem eingravierten Schwertsymbol. Thorn ging jede Wette ein, dass der kunstvoll gearbeitete Streitkolben ein Werk der Elfen war.

Unter den gespannten Blicken der Menge drehte sich Testaceus zu Rosmerta um und berührte mit der Spitze des Zepters ihre linke Schulter.

„Hiermit soll dir der Titel der Ehrensenatorin auf Lebenszeit verliehen werden“, erklärte er feierlich. Dann forderte er sie dazu auf, ihm nachzusprechen.

„Ich gelobe, alle Rechte eines Senators anzuerkennen …“

Rosmerta senkte ehrfürchtig ihren Kopf, während sie die rituelle Formel nachsprach.

„Und die Pflichten eines Senators gewissenhaft und selbstlos zu erfüllen. Ich gelobe, die valianischen Interessen zu wahren, den Wohlstand des Landes zu fördern, das Volk vor jedweder Bedrohung zu schützen und stets im Sinne der Republik und des Valianischen Imperiums zu handeln.“

Testaceus hob mit dem Zeigefinger Rosmertas Kinn, sodass sie ihm direkt in die Augen blickte, und beendete die Angelobung mit den Worten: „Und ich gelobe dem Valianischen Imperium und dem Senat absoluten Gehorsam und absolute Treue.“

Als Rosmerta auch dies mit dem Brustton der Überzeugung wiederholt hatte, wandte er sich lächelnd an Thorn.

Eine bleierne Ohnmacht legte sich über Thorns Verstand. Zu spät! Es war zu spät! Seine Zukunft wurde mit den wenigen Worten, die nun folgten, besiegelt. Wie in Trance brachte er seinen Eid vor, während die Menschenmenge am Fuß der Treppe jedes seiner Versprechen aufnahm und bezeugte. Die öden, blinden Gesichter starrten zu ihm hoch und hielten es auch noch für eine Gunst, zum Ehrensenator auf Lebenszeit ernannt zu werden. Viele von ihnen beneideten ihn sichtlich um diesen Titel, während er nur den unbändigen Wunsch verspürte, vom Podium zu stürmen, das Gebäude auf schnellstem Wege zu verlassen und aus dem verdammten Imperium zu fliehen.

Unterdessen stand Chara mit verschränkten Armen am Fuß der Treppe und schüttelte kaum merklich den Kopf. Ihre Gedanken hatten mit denen der Anwesenden nichts gemein. Ihr Problem hatte mit Ehrentitel, Lobeshymnen und Eiden nicht das Geringste zu tun. Der Waldläufer war ihr entglitten. Sie hatte versagt, ihn nicht für sich gewinnen können. Er war mehr denn je an Testaceus gebunden. Ein Held im Dienste des Landes … Mit seinem Rachefeldzug hatte er sich nur noch mehr in die Arme des Senats gespielt, ohne sich dessen bewusst zu sein. Ehrensenator

Sie brauchte beides, einen Freund und einen Feind des Imperiums. Ohne den Feind war ihr Glas nur halb voll und die Quelle nicht ergiebig genug, um es aufzufüllen.

Thorn hatte ihren Anspielungen keine Beachtung geschenkt, weil er ihr nicht traute. Nun, dann musste sie eben einen anderen Weg gehen, um ihn aus Testaceus’ Schoß zu locken.

Chara wandte sich ab und bahnte sich gemächlich einen Weg durch die Menge. Was soll’s, sie war noch lange nicht am Ende ihres Ideenreichtums angekommen.

„Viele Wege führen zum Bettlerkönig“, murmelte sie leise, während sie nach einem Becher Rotwein griff, der auf einem Tablett an ihr vorbeigetragen wurde. Dann zog sie sich in einen ruhigen Winkel zurück, von wo aus sie die Geschehnisse überblicken konnte. Sie wollte gerade entspannt an ihrem Wein nippen, als sich Bargh unter unendlichen Entschuldigungen zu ihr durcharbeitete und seinen Bierhumpen gegen ihren Becher knallte, sodass der Wein überschäumte und sich etwas davon über ihr Kleid ergoss.

„’tschuldigung“, grinste er gutgelaunt und wischte ungelenk über den Ärmel ihrer dunkelgrauen Palla.

Chara schloss die Augen und trank zur Beruhigung einen tiefen Schluck Wein. Nicht, weil es sie störte, dass ihr Gewand nass war – sie hatte ohnehin nichts für die valianische Garderobe übrig –, aber der Vallander stahl ihr jedes Mal die wenigen kostbaren Augenblicke segensreicher Ruhe und das nahm sie ihm allmählich übel.

„Gut siehst du aus!“, versuchte Bargh ein ungezwungenes Gespräch aufzuziehen und starrte ungeniert auf ihren Ausschnitt, der einen freizügigen Blick auf ihre wohlgeformten blassen Brüste gewährte.

„Ist mal was anderes – ich meine, du in einem Kleid! Sieht schön aus!“

Chara fuhr sich gereizt durch ihr dichtes schwarzes Haar, stellte ihren Becher auf dem gerade vorbeischwebenden Tablett ab und verschränkte ihre Arme vor der Brust.

„Was willst du?“

Barghs Lächeln verwandelte sich in ein verschmitztes Grinsen. Er beugte sich zu Charas Ohr und flüsterte aufgeregt: „Unsere Waffen sind in Arbeit und werden demnächst fertiggestellt!“

Chara nickte ungerührt.

„Alles klar.“

„Ein bisschen mehr Begeisterung wär’ nich’ schlecht!“, grummelte Bargh.

„Wolltest du nicht nach Rosmerta sehen?“, fragte Chara und blickte zum Podium.

In diesem Moment flogen die Flügel der beiden Haupttüren auf und vier Männer in Plattenrüstungen stürmten die Halle.

„Was bei Sverges Äxten …!“, stammelte Bargh und starrte mit offenem Mund auf die Meute schwerstgerüsteter Krieger.

Der Becher in seiner Hand kippte zur Seite und vergoss den letzten Rest Bier über den Boden, während er aus geweiteten Augen beobachtete, wie die Männer unvermittelt gewaltige Schlachtbeile zogen und auf die nächststehenden Gäste einschlugen.

Noch bevor Bargh zu einer vernünftigen Reaktion fähig war, hatte sich Chara ihrer Sandalen entledigt und rannte durch die kreischende Menge auf das Podium zu. Bargh aber konnte sich von dem bizarren Anblick eines beginnenden Blutbades nicht losreißen, das so völlig unerwartet seinen Lauf nahm. Hatte er irgendetwas nicht mitbekommen?

„Obacht da!“, knurrte er, seinen Becher von sich schleudernd, und setzte sich in Bewegung. „Lasst mich gefälligst zur Treppe! Das is’ wichtig, meine Güte! Bei den Göttern, habt ihr nicht gesehen, was hier vor sich geht?“

Bestimmt schob er einen Zuschauer nach dem anderen aus dem Weg, während er versuchte, Chara nicht aus den Augen zu verlieren.

„Vorsicht, weg hier …! Chara!!!“

Die Axt eines der schwer gerüsteten Krieger krachte unmittelbar neben ihm auf den Boden und zerschmetterte eine Marmorplatte.

Bargh sprang entsetzt zur Seite und trat dem Mann reflexartig gegen das Schienbein. Doch seine nach valianischer Tracht gefertigten Sandalen prallten ab, ohne dass der gepanzerte Fremde auch nur ins Wanken geriet. Stattdessen holte er zu einem neuen Schlag aus. Geistesgegenwärtig warf sich Bargh hinter eine Statue. Er hörte das ohrenbetäubende Krachen von Metall auf Stein und Marmorsplitter hagelten auf ihn herab. Zu seinen Füßen schlug der Kopf eines ehemaligen Senators auf und rollte über den blank polierten Boden.

Auf den Knien rutschend peilte Bargh die nächste Säule an, wobei ihm schmerzlich bewusst wurde, wie übel es für ihn und die anderen stand. Keiner von ihnen war bewaffnet.

Unterdessen setzte Thorn alles daran, Testaceus vom Tumult weg auf die hintere Tür zuzuschieben. Doch zu seinem Leidwesen entriss sich der Senatsvorsitzende seinem Griff und schrie Rosmerta zu: „Das Zepter! Greif dir das Zepter!“

Vergeblich versuchte Thorn, Testaceus dazu zu bewegen, den sicheren Ausgang anzusteuern, doch der hatte anscheinend andere Pläne.

„Mach schon, Rosmerta!“, schrie Thorn. „Wir müssen hier schleunigst verschwinden!“

Rosmerta suchte verzweifelt nach dem goldenen Stab, bis sie ihn schließlich am Fuße der Treppe zur Plattform entdeckte, wo sich Lexorius gerade danach bückte, um ihn in die Kiste zu packen und in Sicherheit zu bringen.

Hastig ihr Kleid raffend, stolperte Rosmerta die Treppe hinunter.

Ein lauter Knall übertönte die hysterischen Rufe der panisch nach draußen strömenden Menschen und sie warf sich instinktiv zu Boden.

In diesem Augenblick materialisierte sich wie aus dem Nichts eine Gestalt am Fuß der Treppe. Sie war in eine purpurne Robe gehüllt und trug eine Kapuze, die ihr Gesicht halb im Schatten verbarg. Aus dem Dunkel blitzten schmale Augen hervor. Die Gestalt hatte beide Hände in die Ärmel ihrer Robe gesteckt und bewegte sich nicht von ihrem Standort weg.

Nur einen Lidschlag später erschienen zwei weitere Gestalten in ebensolchen Roben im Saal und noch während die Menge entsetzt vor ihnen zurückwich, breiteten alle drei ihre Arme aus.

Lexorius, der noch immer bestrebt war, das Zepter zu retten, schien plötzlich von einer unsichtbaren Macht gebremst und blieb wie zur Salzsäule erstarrt stehen.

Unweit von ihm verfolgte Rosmerta, wie ihm einer der gepanzerten Krieger den Ellbogen in die Seite stieß, während er mit der anderen Hand einem sich heldenhaft auf ihn werfenden Gast sein Beil zwischen die Rippen rammte. In dem Moment, in dem der Gast tot niedersackte, ließ Lexorius die Kiste krachend zu Boden fallen. Der Deckel sprang auf und das Zepter rollte scheppernd über die Steinfliesen.

Die schmalen Augen unter den purpurnen Kapuzen beobachteten mit berechnendem Blick jede einzelne Sequenz der Szene. Und schließlich kam Bewegung in eine der drei Gestalten. Zielsicher schritt sie auf das Zepter zu und bückte sich nach dem begehrten Stab.

Doch bevor sie ihn an sich nehmen konnte, rollte sich eine andere Gestalt unter ihren Armen hindurch, schnappte sich das Zepter und kam neben der in purpurne Roben gehüllten Person wieder auf die Beine. Bevor sie jemand aufhalten konnte, schoss Chara zwischen den Leuten hindurch auf einen der Haupteingänge zu.

Als sie sich jedoch der Tür näherte, schienen die Muskeln in Charas Körper allmählich zu erlahmen und jeder ihrer Schritte wirkte bleiern und zäh. Als hätte ihr jemand ein Netz um den Körper geworfen, das sich immer enger zog, wurden ihre Bewegungen langsamer und als sie endlich die Säulenreihe vor dem Ausgang erreicht hatte, blieb sie reglos stehen. In ihrer erstarrten Hand hielt sie das Zepter der Macht.

„Wie in Satris Namen kommen die Ianna-Priesterinnen hierher?!“, fluchte Testaceus, der, die Leute aus dem Weg schiebend, von der Plattform nach unten lief und auf Chara zusteuerte, während Thorn hinter ihm herhetzte. „Und wer sind diese gepanzerten Gestalten?“

„Ihre Ordenskrieger!“, keuchte Thorn und versuchte mühsam, mit dem unverhofft agilen Senatsvorsitzenden Schritt zu halten.

Testaceus fluchte.

„Das Zepter!“, schnaufte er und riss Chara den Streitkolben aus den verkrampften Fingern, woraufhin sie heftig zu husten begann und tief Luft holte.

„Was war das?!“, stieß sie hervor, während Testaceus, ohne zu antworten, an ihr vorbeizukommen versuchte.

Doch kaum hielt Testaceus das Zepter in seinen Händen, wurde auch er langsam und musste alle Kraft aufbieten, um voranzukommen. Bevor er erstarrte, warf er den Stab Thorn zu, der jedoch ins Leere griff, weil er mit dem plötzlichen Wurf nicht gerechnet hatte. Das Zepter rollte über den Boden und stieß mit einem Klock gegen eine Säule, wo es inmitten der in Panik umhertrampelnden Menge liegen blieb.

„Das darf doch nicht wahr sein!“, fluchte Testaceus, der wieder frei atmen konnte. „Das Zepter darf auf keinen Fall in die Hände der Priesterinnen geraten, habt ihr verstanden?! Ihr tut, was immer getan werden muss, um es mir zu bringen! Rosmerta!“, bellte er, „schaff es hier raus!“

Rosmerta, die am nächsten stand, stürzte auf das Zepter zu und riss es an sich, bevor ein anderer es ergreifen konnte. Mit einem Tritt ihrer wohlgeformten Beine wollte sie sich einen der Ordenskrieger vom Leib halten, der gerade zu einem tödlichen Schlag ansetzte. Doch sie holte zu enthusiastisch aus, verlor wegen ihres fehlenden Arms das Gleichgewicht und knallte schmerzhaft auf ihr Hinterteil. Kreischend ließ sie das Zepter fallen und starrte entsetzt auf die Axt, die auf sie niederging.

In diesem Moment erschien Bargh neben ihr und prügelte mit seinen Fäusten wild auf den Ianna-Krieger ein. Als dieser entdeckte, dass der Barbar ohne Waffe war, trat ein grausames Funkeln in seine Augen. Genüsslich hob er sein Beil zum Todesschlag. Bargh hingegen lächelte freundlich, packte blitzartig das Handgelenk des Kriegers und knallte es mit einer derartigen Kraft gegen die danebenstehende Säule, dass Rosmerta die Knochen splittern hören konnte. Ein gurgelnder Schrei drang hohl aus der metallenen Rüstung und das Schlachtbeil glitt aus der zertrümmerten Hand des Mannes. Bevor es zu Boden fiel, fing Bargh es auf und holte aus. Der Ordenskrieger konnte nur noch die Augen aufreißen, bevor Bargh das Beil krachend gegen seinen Helm donnern ließ.

Unterdessen schnappte sich Rosmerta ein weiteres Mal das Zepter und sprang auf die Beine. Doch bereits nach den ersten Schritten begannen ihre Gelenke steif und mürbe zu werden.

„Gib es an Thorn ab!“, schrie Testaceus und duckte sich unter dem Schlag eines Schlachtbeils weg, das in diesem Moment auf ihn zurauschte.

Thorn fing den Streitkolben geschickt auf und steuerte damit auf die Treppe zur Plattform und den oberen Ausgang zu, wobei er aus den Augenwinkeln mitbekam, wie Chara von einem der Ordenskrieger angegriffen wurde. Als er sah, wie sie auf den Angriff reagierte, blieb er ungewollt stehen. Chara versuchte erst gar nicht, dem Krieger die Waffe abspenstig zu machen, wie Bargh es getan hatte. Stattdessen sprang sie behände über das Beil des Angreifers hinweg und wich seinen Schlägen derart geschickt aus, dass der schwerfällige Krieger keine Chance hatte, sie zu treffen. Wütend stürzte der Mann hinter ihr her und holte zu einem neuen Schlag aus, doch bevor er die Waffe durchziehen konnte, machte Chara plötzlich kehrt und setzte zu einem weiteren Sprung an, der sie glatt über den rasenden Krieger hinwegtrug.

„Zu mir!“, schrie sie und hechtete auf Thorn zu, der das Zepter gerade noch an sie übergeben konnte, bevor er in die erwartete Starre verfiel.

Als er sich wieder bewegen konnte, fiel sein Blick auf den oberen Ausgang und plötzlich kam ihm eine Idee.

Während die anderen in die sinnlose Aufgabe verstrickt waren, das Zepter von einem zum anderen zu werfen und sich mit der Frage konfrontiert sahen, wie sie dem Teufelskreis wohl entkommen konnten, stürmte Thorn die Treppe zur Tür hinauf, öffnete diese und warf einen Blick in die Halle dahinter. Zufrieden stellte er fest, dass sie leer war. Er positionierte sich im Türrahmen, sodass er zur Hälfte im Festsaal und zur anderen Hälfte in der Halle stand, und suchte in der Menge nach Chara.

Chara nahm Rosmerta gerade das Zepter ab und warf es Testaceus zu. Als Thorn ihren Namen rief, drehte sie sich abrupt zu ihm um.

„Was?!“

„Sieh zu, dass du das Zepter …!“

„Ich versteh’ kein Wort!“, schrie sie zurück.

Thorn verdrehte die Augen und versuchte es noch einmal: „Du sollst zusehen, dass du nahe genug bei mir stehst, sobald du das Zepter in die Finger bekommst!“

Er deutete auf die offene Tür und setzte brüllend hinzu: „Der Wirkungsbereich der Magie …! Verstehst du?!“

Chara nickte und begann, sich Richtung Treppe durchzuarbeiten. Auf der obersten Stufe blieb sie stehen und wartete darauf, dass man ihr das Zepter zuwarf. Dabei fiel ihr Blick auf die drei Priesterinnen, die sich auf die Winkel des Saals verteilt hatten, sodass sie zusammen eine Art gleichseitiges Dreieck bildeten. Ihre Hände hielten sie mit den Fingerspitzen voran von ihrem Körper weg ins Rauminnere. Sie verharrten reglos an ihren Plätzen, ohne sich an der Jagd nach dem Zepter zu beteiligen, und schienen ihren Beitrag darauf zu beschränken, dass niemand von Testaceus’ Leuten mit dem Zepter verschwinden konnte. Doch bislang war es ihren Ordenskriegern nicht gelungen, das Zepter erfolgreich an sich zu bringen und das wiederum war vor allem Barghs Verdienst.

„Verdammt, Chara, pass auf!“

Thorns harsche Stimme riss Chara aus ihren Gedanken.

Chara fuhr herum und konnte gerade noch den Arm hochreißen, bevor das Zepter über ihren Kopf hinwegsegelte. Sie griff sich den Stab und schleuderte ihn mit einem ordentlichen Schwung ihres muskulösen Arms weiter. Thorn musste mit beiden Händen zupacken, um sicherzugehen, das Zepter in seinem Flug bremsen zu können. Er biss kurz die Zähne zusammen, als das harte Metall gegen seine Handinnenflächen prallte. Einen Lidschlag später warf er sich mitsamt dem Zepter durch die offene Tür und landete, die rechte Schulter voran, schmerzhaft auf dem Boden der Halle, wo er ein Stück weit über den harten Stein rutschte. Ohne sich umzusehen, rappelte er sich hoch und rannte auf ein offenes Fenster zu. Ein kurzer Blick hinaus sagte ihm, dass dahinter die prachtvollen Gärten von Testaceus’ Villa lagen. Thorn sprang kurz entschlossen aus dem Fenster und landete wohlbehalten in dem entlang der Fensterfront gepflanzten Buschwerk. In gebückter Haltung schlich er durch das feuchte Gras auf fünf Holundersträucher zu, die abseits von der Hauswand dicht aneinandergedrängt wuchsen, und ließ sich hinter ihnen auf den Boden fallen. Dort blieb er erst mal liegen und versuchte, zu Atem zu kommen.

Ein sanfter Lichtschimmer fiel auf den Rasen vor der Hauswand. Im Inneren der Villa war niemand zu sehen. Thorn blieb nichts anderes übrig, als zu warten.

Sein Blick fiel auf das Zepter – Valians Zepter, wie Testaceus es genannt hatte. Sachte wog er es in seiner Hand und musterte das eingravierte Schwert am Kopf des Kolbens. Was war wohl so attraktiv an diesem goldenen Stab, dass alle Welt hinter ihm her zu sein schien? Und welchen Nutzen hatte er für Testaceus?

Das Zepter war schwer und Thorn ging davon aus, dass der Schaft aus purem Gold war. Doch es war nicht der materielle Wert, der eine Rolle spielte, dessen war er sich sicher. Vielleicht handelte es sich ja auch nur um ein Symbol, das den Valiani heilig war, aber auch das bezweifelte er. Testaceus hatte keine Ahnung gehabt, wer diese Priesterinnen waren, was wohl daran lag, dass er die wirklich essenziellen Dinge nicht selbst erledigte. Dafür hatte er Leute, deren Leben einen geringeren Wert besaßen als seines, Leute wie ihn, Thorn, zum Beispiel.

Es war jetzt etwa drei Jahre her, dass er, Kitayscha, Rosmerta und noch ein paar andere von einem Vertrauten des Senatsvorsitzenden beauftragt worden waren, das Zepter von seinem angestammten Platz bei den Ianna-Priesterinnen zu entwenden. Bei dieser Aktion hatte Thorn Rosmerta und Kit kennengelernt. Damals hatte niemand von ihnen um die eigentliche Bedeutung des Zepters der Macht gewusst. Erst jetzt wurde sie Thorn allmählich bewusst.

„Guten Abend, Thorn!“, vernahm er unmittelbar neben sich ein Flüstern.

Erschrocken fuhr er hoch und stolperte rückwärts in den Holunderstrauch, hinter dem er sich versteckt hatte.

„Genießt du den lauen Frühlingsabend?“

Unmittelbar vor Thorn hockte Chara und strich mit ihren Fingerspitzen über die Gräser, während sie ihn lächelnd musterte.

Thorn starrte sie völlig perplex an.

„Was zum …!“

Charas Grinsen wurde breiter.

„Du darfst dich entspannen: Sie sind fort. Es ist alles in bester Ordnung.“

Thorn befreite sich aus dem Strauch und schüttelte sich die Blätter von seiner Toga. Unterdessen nahm ihm Chara das Zepter aus der Hand und legte es lieblos in die mitgebrachte Kiste.

„Wie konntest du dich so an mich ranschleichen?“, fragte Thorn etwas unsicher.

Chara schüttelte lächelnd den Kopf.

„Du warst so sehr darin vertieft, das Zepter zu studieren, dass du weder Augen noch Ohren für etwas anderes hattest.“

Beruhigend tätschelte sie seinen Arm.

„Du hättest mich ganz sicher kommen hören. Du bist doch ein Waldläufer, nicht wahr? Es heißt, Waldläufer hätten recht scharfe Sinne.“

„Das dachte ich auch“, murmelte er, während er Chara einen misstrauischen Seitenblick zuwarf. Dabei streiften seine Augen die schwarze Kiste, die sie gleichgültig in der Hand hielt.

„Lass uns zurückgehen“, meinte er schließlich. „Die anderen suchen uns wahrscheinlich schon.“

Bis zum Tor sprach keiner von ihnen ein Wort. Thorn hatte das drängende Bedürfnis, Chara das Zepter abzunehmen, doch sie schien nicht das geringste Interesse an dem Streitkolben zu haben und das wiederum beruhigte ihn. Seine Augen ruhten auf der dunklen Gestalt, die schweigend neben ihm herschritt, und dabei wollte ihm eine Frage einfach nicht aus dem Kopf gehen: Warum hatte ihn Chara niedergeschlagen, als er versucht hatte, Liams Leben zu retten?

Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 1 und 2

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