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Daradag, 1. Trideade im Draugmond/347 nGF

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Der Wille zur Macht

Der Geist mag weise sein, doch das Herz ist schwach. Der Geist mag sich hehre Ziele setzen, doch das Herz hört ausschließlich auf den monotonen Klang seines immerwährenden Rufs nach Leben und Glück. Der Geist mag die Grenzen des Irdischen sprengen, doch das Herz bescheidet sich und strebt nach Lustbefriedigung innerhalb dessen, was diese Welt zu bieten hat. Der Mensch ist das zwiegespaltene Wesen, das ein Ideal des Geistes vertritt, doch an der Realität seiner individuellen Bedürfnisse scheitert. Das Herz ist schwach, denn das Herz ist von egozentrischen Ambitionen geleitet.

Der Wille ist es, der uns steuert und lenkt … Der Wille … Er fordert ein, er treibt an, er schreibt vor … Sein einziges Interesse gilt dem Ego. Seine Botschaft lautet: Ich will! Ich tu, was ich tu, um meiner selbst willen. Ich will wissen, will haben, will sein. Ich will das Leben, die Liebe, die Macht … Ich bin das Zentrum, um das diese Welt sich dreht, nein, das Zentrum, um das sie sich zu drehen hat!

In manchen Fällen mag diese Feststellung gerechtfertigt sein. Es mögen Wesen existieren, die zu Recht als zentral in einer Welt wie der unseren gelten. Wenn man mich fragt (was man in der Regel nicht tut), ist die einzige Daseinsberechtigung für einen Normalsterblichen wie mich, sich einem solchen Wesen zu fügen und dessen Zwecke zu den eigenen zu machen.

Für manch einen mag ein Gott zentral sein. Fragt sich nur, ob die Ehrerbietung einem Gott gegenüber ein erfülltes oder zumindest, wenn ein unerfülltes, so doch sinnvolles Leben zulässt.

Jedenfalls mag es Wesen geben, die wir nicht grundlos als zentral empfinden und die sich als entscheidend für den Rest des existierenden Lebens herausstellen.

Der Rest, das sind wir. Ich, Thorn Gandir, der zweite Soldat von links, der fünfte Bedienstete des Testaceus, der Küchenjunge, der Gildenmeister Albontius. Wir sind der unvollkommene Rest, jene Wesen, die sich um die großen, mächtigen Zentren dieser Welt drängen wie die Mücken zum Licht. Viele unter uns mögen von großem Wissen sein, viele mögen mächtig, stark und weise sein, viele ausgesprochen nutzbringend, doch wir sind gerechtfertigterweise dienend und nicht herrschend.

Es wäre alles einfach und klar, gäbe es da nicht ein Problem, klitzeklein und eigentlich kaum erwähnenswert, für den Großteil der denkenden Seelen nicht einmal vorhanden, geschweige denn augenscheinlich. Das Problem ist folgendes:

Nicht nur die rechtmäßig herrschende Gesellschaft besitzt einen Willen. Jeder einzelne des Rests ebenso. Und kann man von den wirklich Großen unserer Zeit auch behaupten, dass deren Ego dem Wohle oder Übel der Allgemeinheit geopfert oder zumindest untergeordnet wird, so gilt das nicht für einen von uns. Der Rest der Gesellschaft, der kleine Küchenjunge, der täglich die Böden in den Speiseräumen der Villa des Senatsvorsitzenden schrubbt, träumt vor allem von seiner eigenen, ganz persönlichen Karriere als Kommandant der Leibgarde. Wie Untote nach dem Blut der Lebenden hecheln, hechelt der unbedeutende Rest der Befriedigung seiner egomanischen Bedürfnisse hinterher.

Als ein besonders auffälliges Exemplar egozentrischer Vollkommenheit offenbarte sich mir in jenen Tagen die Heldin des Valianischen Imperiums und Freundin des großen Testaceus. Wenn ich nur ein einziges Mal den Hauch des Eindrucks hätte, mein eigenes Ego wäre von derart aufgeblasener Präsenz, ich müsste Suizid begehen. Nicht so Rosmerta. Sie hält ihren Eigennutz für selbstverständlich.

„Was wollt Ihr?“, lautete die Botschaft, die ihr von Senatsseite zugespielt wurde. Ihre Antwort darauf, beinhart und hoffnungslos naiv: „Das Kommando über das valianische Militär.“ Kurz, eine Machtposition, die unumstritten ihresgleichen sucht.

Warum wohl bezeichne ich Rosmertas Willen als naiv?

Weil nur ein Mensch von fast grenzenloser Naivität von absoluter Macht träumt, ohne sich darüber Gedanken zu machen, worin eine solche, worin seine ganz persönliche Macht resultieren könnte. Die Konsequenzen sind entscheidend, wenn man nach Macht strebt, doch jemandem wie Rosmerta kommt es nicht in den Sinn, über die Folgen seines Begehrens zu reflektieren. Die „Heldin“ strebt nicht eines hehren Zieles wegen nach Macht. Ihr bekundetes Ziel ist die Macht selbst.

Das Ziel des Weisen überschreitet sein Ego. Um über sein Ich hinaus wirksam zu werden, benötigt er Macht. Die Macht ist hier nur Mittel zum Zweck, nicht etwa der Zweck selbst. Rosmerta wollte die Macht um der Macht willen, mit anderen Worten, sie wollte nichts anderes als sich selbst.

Dies war der ausschlaggebende Grund dafür, warum sie auf Cartius’ Verderben setzte. An seiner Demütigung vollführte sie ihre Macht. Seine Niederlage verhalf ihr dazu, die Fäden in die Hand zu nehmen und ihre Macht zu demonstrieren, indem sie über sein Schicksal verfügte. Auf ihren Befehl hin wurde der in Ungnade gefallene ehemalige Zenturio in Schach gehalten; ihre Entscheidung wurde in die Tat umgesetzt, als die Soldaten ihre Reihen um ihn schlossen und letztlich dafür sorgten, dass er dingfest gemacht werden konnte. Es lag in ihrer Hand, wie die Zukunft des Imperiums aussehen sollte, und dies konnte sie sich selbst und allen Beteiligten deutlich machen, indem sie den Sklavenführer am Leben ließ und dafür sorgte, dass seine Niederlage und ihr Sieg vor den Augen und Ohren der Bewohner Valianors erneut zur Schau gestellt wurden. In der Arena erlebte Rosmerta erst, wie sich Macht tatsächlich anfühlte, und zwar, als die tosende Menge den Tod eines offiziellen und allerorts bekannten Gegners bejubelte, den sie besiegt hatte. In der abwegigen Situation, als sie neben Testaceus auf der Empore stand und unter dem Beifall der Zuschauer auf Cartius’ toten Körper blickte, zeigte Rosmerta ihre Bereitschaft, um ihrer selbst willen und zum Zwecke der Selbstdarstellung über Leichen zu gehen.

Ich würde es nicht in Betracht ziehen, jemandem einen Mord vorzuwerfen, wenn dieser zum Nutzen eines Besseren wäre. Nichts läge mir ferner als das. Es ist nicht die Tat, die hier verwerflich oder zu verurteilen ist. Es ist das Motiv. Ich war zuerst überrascht, fast beeindruckt von ihrer Härte auf dem Schlachtfeld. Doch dann dämmerte es mir langsam, dass Rosmertas Einsatzbereitschaft nichts mit ihrem Verantwortungsbewusstsein dem Imperium gegenüber zu tun hatte. Nein, Rosmerta wollte nur das Eine: sich das Gehör und die Aufmerksamkeit des Senats, des Militärs und des ganzen verdammten Volkes verschaffen. Ihre verzweifelte Hysterie, die sie gewöhnlich an den Tag legte, war danach wie weggeblasen. Rosmerta war wieder fähig, zu handeln, denn sie hatte erkannt, dass ihr Wille die Dinge in Bewegung zu versetzen vermag und dass Macht nicht unbedingt Können voraussetzt. Macht hat derjenige, der Macht vermittelt. Dafür benötigt man lediglich das Talent, sich entsprechend zu präsentieren. Zumindest, wenn man jene Macht erstrebt, wie sie Rosmerta für sich in Anspruch nehmen wollte – eine leere, substanzlose Macht des Scheins.

Rosmerta war und ist gefährlich. Viel gefährlicher, als ich zu Beginn angenommen hatte. Ihr Wille zur Macht ist vom Hass beseelt – vom Hass auf den Rest der Welt, von dem sie sich selbst ausnimmt. Sie wollte zum Zentrum werden, um das diese Welt sich dreht. Genau aus diesem Grund hätte sie nie mehr Macht erlangen dürfen, als sie bereits hatte. Es ist kein Geheimnis, dass jeder, der um der eigenen Macht willen nach vorne strebt, das Leben um sich herum ins Verderben reißt. So, wie es neben Rosmerta auch ein anderer getan hat, indem er mit seinen sogenannten „Freunden“ spielte und sich hinterher daran erfreute, den Thron eines Imperators zu besteigen. Aber dazu später.

Irgendwann habe ich mir geschworen, mir niemals selbst zum Zweck zu werden, mich niemals selbst in eine entscheidende Position zu begeben. Ich hielt es aufgrund meines bescheidenen Wissens und der Tatsache, dass ich mich dem Tod näher fühlte als dem Leben, für angebracht, mir den Zweck meines Daseins außerhalb meiner selbst zu setzen. Mein Wille ist zwar nichtsdestotrotz mein Wille, doch es ist der Wille zur Macht eines anderen, der mich lenkt. Dieser Jemand herrscht oder sollte zumindest eines höheren Guts wegen herrschen.

Mir wird allmählich bewusst, dass die bisherigen Vorfälle seltsam willkürlich anmuten und dass ich damals keine Ahnung hatte, was um mich herum eigentlich geschah. Doch heute weiß ich, dass der bloßen Willkür hier nichts, aber auch gar nichts ausgesetzt ist. Vielmehr halten hier einige jener „Zentren“, von denen ich zu Beginn dieses etwas ausufernden Kommentars gesprochen habe, die Fäden fest in der Hand und versuchen, die Dinge im Hinblick auf zukünftige Ereignisse zu gängeln und zu lenken.

Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 1 und 2

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