Читать книгу Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 1 und 2 - J.H. Praßl - Страница 22

Brunius Doridorus Cartius

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„Kommandantin!“, brüllte der Späher schon von Weitem. Er hielt in gestrecktem Galopp auf den Hügel zu, auf den sie im Morgengrauen ihr Pferd gelenkt hatte.

Rosmerta hob gelangweilt eine Augenbraue. Wahrscheinlich hieß es wieder nur, dass irgendeine der anderen Legionen ein paar unbedeutende Kämpfe ausfocht.

Sie hatte das Lager ihrer Truppen, bestehend aus zwei Milizlegionen, einer regulären Legion und dem verbliebenen Aufgebot an Magiern, darunter der Gildenmeister höchstselbst, einen Tagesritt nordöstlich der Stadt aufschlagen lassen. Cartius persönlich zu fassen, blieb trotz allem ein frommer Wunschtraum. Der Sklavenführer würde gewiss nicht ausgerechnet an ihrem Standort aufkreuzen. Nicht umsonst hatte man diesen Bereich vor der Stadt nur halb so gut gesichert wie jeden anderen. Trotzdem würde sie dafür sorgen, dass jede Bedrohung, welcher Art auch immer, gnadenlos zurückgeschlagen wurde. Der Senat brauchte zweifelsohne ihre Hilfe. Die Senatoren hatten alle Hände voll damit zu tun, die seit Cartius’ errungenem Sieg am Pass ständig zunehmenden Sklavenaufstände innerhalb der Stadt in den Griff zu bekommen. Täglich gab es Berichte über Anschläge auf die Prätorianer, auf wohlhabende Bürger, aber auch auf die Tempel, ihre Priester und Tempelwachen.

Als der Soldat nach Atem ringend vor ihr haltmachte und die Hand zum Gruß erhob, blickte sie gleichgültig zu ihm hin.

„Ave Rosmerta, Oberbefehlshaberin der valia…“

„Ja, ja, schon gut!“, würgte sie ihn ab, bevor er ausschweifend werden konnte. Er wirkte irritiert, kam dann aber zur Sache.

„Ein Teil der Sklavenarmee marschiert direkt auf Euch zu, Kommandantin. Ihre Zahl konnte ich leider nicht ermessen – es waren zu viele, um sie überblicken zu können.“

„Danke!“, antwortete Rosmerta knapp, aber mit einem deutlichen Gefühl der Erregung in ihrem Bauch. „Ihr dürft wegtreten!“

Der Soldat salutierte erneut und trieb sein Pferd Richtung Lager.

Zwei Tage warteten die valianischen Truppen nun schon auf den Angriff der Sklaven. Zwei Tage, an denen, abgesehen von ein paar kleineren Scharmützeln mit vereinzelten Sklaventrupps, nichts passiert war. Zwei Tage, an denen Rosmerta vor Langeweile fast gestorben wäre.

Mit wild pochendem Herzen wendete sie ihren Schimmel und galoppierte zum Lager zurück.

Thorn atmete tief ein und spürte, wie die kalte Morgenluft in seinen Lungenflügeln kribbelte. Er fühlte sich müde und ausgelaugt. Die letzten Tage hatten ihn mürbe gemacht. Seufzend schob er die Gedanken an Kit beiseite und lenkte Sankris Richtung Tor, wo er Rosmerta auf ihrem Schimmel im Gewirr der Legionäre erspäht hatte. Sie ließ gerade die Armee antreten.

„Ihr seid Soldaten des Imperiums!“, begann Rosmerta, nachdem sie sich mit einer theatralischen Geste ihrer Hand die ihr gebührende Aufmerksamkeit verschafft hatte. Thorn erhaschte einen Blick auf einige Gesichter, auf denen sich bedingungslose Ehrerbietung abzeichnete. Rosmerta offenbar ebenso, denn ein selbstzufriedenes Lächeln tänzelte über ihre Lippen.

„Soldaten unter valianischem Banner, Krieger im Kampf um Recht und Ordnung, Gegner aller chaotischen Mächte, die von außerhalb unserer Lande versuchen, uns zu unterjochen, aber auch Gegner aller, die dem großen Gryphos trotzen, indem sie im Inneren ihre dunklen Machenschaften vollführen und die Menschen in Angst und Schrecken versetzen.“

Eine kurze Pause verhalf ihr dazu, die Aufmerksamkeit ihrer Soldaten zu prüfen und die Spannung noch weiter zu steigern. Ausnahmslos alle Augen ruhten auf ihr.

Wer ließ sich als Oberbefehlshaber der 21. Legion hochleben?“, setzte sie ihre Ansprache mit blitzenden Augen fort. „Nur um sich diesen Status für seine niederen Zwecke zunutze zu machen? Wer versuchte den Senat zu stürzen, wer sich den Imperatortitel anzueignen?“

Rosmerta rückte sich im Sattel zurecht und griff nach ihrem silbernen Helm, der über dem Knauf hing.

„Und wer, frage ich euch, vergoss das Blut unzähliger valianischer Soldaten am Isola-Pass? Viele von euch wissen, wovon ich spreche. Einige von euch waren dort und kamen nur um ein Haar mit dem Leben davon. Sie haben ihre Kameraden und Freunde dort am Pass sterben sehen. Mir selbst entriss Cartius’ Sklavenheer drei Freunde im Emlin-Tal!“

Bei diesen Worten hob Thorn, der die Rede bisher nur mit einem Ohr mitverfolgt hatte, seinen Kopf und warf Rosmerta einen vernichtenden Blick zu. Doch ihre Aufmerksamkeit galt einzig und allein den Soldaten, die für sie in die Schlacht ziehen sollten.

Sämtliche Augen verfolgten, wie sie ihren Helm aufsetzte und den Speer entgegennahm, den Zenturio Gambini ihr reichte. Dann fuhr sie mit gedämpfter Stimme fort: „Cartius ist so wenig ein ehrenvoller Oberbefehlshaber, wie ich eine unehrenhafte Diebin oder Hure bin.“

Ein kaum hörbares Raunen ging durch die Reihen, während Thorn angewidert seinen Kopf schüttelte und leise murmelte: „Wenn ich es nicht besser wüsste …“

Rosmerta lächelte beim Anblick der entrüsteten Gesichter, ohne dabei ihre steinerne Miene einzubüßen.

„Wenn ihr erkennt, dass ich alles daran setzen werde, das Imperium vor dieser akuten Bedrohung zu schützen; wenn ihr versteht, dass Cartius’ Sieg den Untergang unseres Reiches bedeuten kann, dann wisst ihr auch, worin eure Aufgabe in dieser Schlacht besteht. Es ist nicht eure Berufung, unter Einsatz eures Lebens zu kämpfen, eure Berufung verlangt von euch, dass ihr siegt! Ihr seid hier, um zu siegen! Ihr werdet dieser Sklavenbrut endgültig das valianische Schwert in den verruchten Leib stoßen und das Imperium vom Chaos befreien, in das Cartius es geführt hat! Wir werden siegen!“

Rosmerta hob den Speer und stieß ihn in den Himmel: „Sieg der Gerechtigkeit! Sieg der Macht und der Ordnung! Sieg den Valiani und Valianor!“

Die Soldaten streckten ihre Hände aus und antworteten wie aus einem Mund: „Heil Rosmerta!“

Thorn schüttelte verächtlich den Kopf und band den Bogen von Sankris’ Sattel. Zwei Pferde trabten an ihm vorbei und schlossen zu Rosmertas Schimmel auf. Bargh und Chara nahmen die Befehlshaberin in ihre Mitte und ritten an ihrer Seite auf die Hügel vor dem Lager zu. Die valianische Streitmacht folgte unter Gambinis Führung.

Und wieder sah sich Thorn auf das Schlachtfeld galoppieren. Er sah sich dabei zu, wie er, ohne auch nur die geringste Idee zu haben, ob es sich lohnte und für welche Sache er da eigentlich kämpfte, sein Leben aufs Spiel setzte – im Dienste des Senats, um das Imperium vor einer Bedrohung zu bewahren, welche die hiesige Staatsform zerstören könnte. Zumindest war dies das Motiv, das er wie ein Banner vor sich her trug. Rache machte sich in den Augen der Öffentlichkeit einfach nicht besonders gut. Aber wie hielten es die Valiani mit vorzeigbaren Idealen? Ehre und Gerechtigkeit … Zählte das überhaupt noch etwas? Wenn man es genau betrachtete, war Politik mit solchen Prinzipien unvereinbar, zumindest sofern die Spitze des politischen Systems eine Erweiterung ihres Machteinflusses anstrebte. Und Thorn bezweifelte mit allen Sinnen, dass Testaceus ausschließlich am Wohle des valianischen Volks interessiert war. Ohne mit der Wimper zu zucken, hatte er eine Frau zum Zünglein an der Waage gemacht, die bereit war, für die Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse über Leichen zu gehen. Liams Hinrichtung war ihm wie eine Metapher für alles, wofür Rosmerta stand: Absolute Amoralität im Interesse der Selbstinszenierung und Selbsterhöhung. Oh nein, es gab keine Gerechtigkeit in diesem Staate. Womöglich wurde Cartius selbst ein Opfer dieser Tatsache. Aber dies änderte nichts daran, dass er Kitayschas Tod zu verantworten hatte. Und Thorn war hier, um wenigstens in dieser Sache Gerechtigkeit zu fordern.

„Meister Gandir!“, hörte Thorn eine vertraute Stimme neben sich.

Albontius ging zügigen Schrittes neben Sankris her und blickte lächelnd zu ihm hoch.

„Denkt Ihr, wir werden heute auf Cartius treffen?“

Seine Augen funkelten begeistert und er schien drauf und dran zu sein, vor lauter Tatendrang ein paar Blitze abzufeuern.

Thorn schüttelte lächelnd seinen Kopf. Der Magier gefiel ihm. Ob Albontius’ verrückt-zerstreutes Auftreten nun Tarnung und Täuschung war oder ob es sich dabei tatsächlich um charakteristische Eigenschaften des Magiers handelte, es änderte nichts daran, dass er ein wahrer Meister der Magie, hochintelligent und obendrein noch sympathisch war.

„Ich fürchte, Cartius werden wir nicht einmal von hinten sehen“, antwortete Thorn. „Ihr werdet Eure Begeisterung für den Kampf wohl oder übel an den anderen Sklaven auslassen müssen.“

Die bereits von feinen Fältchen umrahmten Augen Albontius’ verloren nichts von ihrem aufgeregten Blitzen.

„Aber nicht doch, Meister Gandir! Von Begeisterung kann keine Rede sein! Ich bin nur neugierig, was der Abend bringen mag, nur neugierig …“ Sein Blick glitt ins Leere, während er leise vor sich hin pfiff und dabei den Anschluss an Sankris verlor, der nun vor ihm her trabte.

In der Zwischenzeit hatten sich die Truppen in drei Blöcken formiert. Rosmertas Schimmel war schon von Weitem zu sehen. Er tänzelte vor dem mittleren Soldatenblock der Milizlegion auf und ab. Die Magier hatten sich zusammen mit der zweiten Milizlegion rechts von ihrem Block positioniert, während die linke Flanke aus jenem Teil der Soldaten bestand, die den Kampf am Isola-Pass überlebt hatten. Diesen Block kommandierte Gambini.

Albontius beschleunigte, immer noch pfeifend, seinen Schritt, zwinkerte Thorn kurz zu und schloss sich dann den restlichen Magiern an. Thorn brachte Sankris hinter den Soldaten des mittleren Blocks zum Stehen, legte den Bogen auf seinen Schenkeln ab und fasste sich die Haare im Nacken zusammen. Vom Rücken seines Rappens aus konnte er über die Köpfe der Infanteristen hinweg die Geschehnisse an der vorderen Front halbwegs überblicken.

In weiter Ferne erkannte er einen langsam größer werdenden, dunklen Fleck. Mit einem leisen Gefühl des Unbehagens stellte Thorn fest, dass es sich nicht, wie vermutet, um einen kleinen Ableger des Sklavenheers handelte, sondern um eine beunruhigend große Zahl Freiheitskämpfer, die direkt von Osten her auf sie zuhielten.

Ein unheilverkündendes Schweigen hatte sich über die valianischen Legionen gelegt. Selbst die Natur schien die Spannung in der Luft zu spüren. Es war Stille eingekehrt – als ob sich die Bedeutung dessen, was sich demnächst hier abspielen würde, in jedem Baum, jedem Strauch, jedem Grashalm und jedem zurückhaltenden Plätschern des nahen Flusses niedergeschlagen hätte. Alles harrte schweigend der kommenden Geschehnisse.

Und dann standen sich Feind und Feind gegenüber. Thorn konnte die Unruhe in den Reihen der valianischen Legionäre förmlich spüren. Nicht nur das gewaltige Ausmaß des in drei Blöcke unterteilten Sklavenheers, auch die wilden Erscheinungen seiner Krieger waren furchteinflößend. Am Isola-Pass hatte er keinen so ungetrübten Blick auf den Feind gehabt. Der Aufmarsch der Freiheitskämpfer hatte zu weit entfernt von ihm stattgefunden.

Thorn empfand die blank polierten Rüstungen der Valiani fast als peinlich angesichts der entschlossenen Sklaven, die nicht das geringste Interesse an ihrer Aufmachung hatten, weil nur ein einziger Gedanke sie antrieb: Freiheit.

Drei Reiter lösten sich aus dem mittleren Sklavenblock. Diesmal würde sich Thorn die Verhandlungen nicht entgehen lassen. Er drückte Sankris die Schenkel in die Flanken und galoppierte Richtung Rosmerta, Chara und Bargh, die ihre Pferde bereits auf die Parlamentarier zu lenkten. Ein knapper Seitenblick von Rosmerta empfing ihn und machte ihm deutlich, dass sie weder ein Interesse an Verhandlungen, noch an seiner Gesellschaft hatte, aber sie ließ sich nicht dazu herab, eine Diskussion vom Zaun zu brechen.

Zwei Männer auf Schimmeln, der dritte auf einem gewaltigen schwarzen Schlachtross, hielten ihre Pferde unmittelbar vor ihnen an. Die beiden links und rechts trugen valianische Metallrüstungen und Helme, die sie wahrscheinlich im Zuge ihres Freiheitskampfes erbeutet hatten. Soweit Thorn es erkennen konnte, handelte es sich zumindest bei einem der beiden um einen Barbaren aus Valland.

Der Mann, der von den beiden flankiert wurde und auf dem schwarzen Schlachtross ritt, trug eine schwere Metallrüstung, die auffallend kunstvoll gearbeitet war. Über seinen Schultern hing ein dunkelblauer Umhang. Aus seinem Waffengürtel ragte das Schwert eines valianischen Zenturios. Der Mann war muskulös, sein rabenschwarzes, kurzgeschnittenes Haar wies einen seltenen bläulichen Schimmer auf und er hatte außergewöhnlich wache Augen. Über seine linke Wange zog sich eine lange, hässliche Narbe, die der Attraktivität seines Gesichts aber keinerlei Abbruch tat, sondern diesem im Gegenteil eine ganz besondere Note verlieh.

Thorn kannte die Narbe. Er hatte sie schon einmal gesehen – zusammen mit Kitayscha. Sein Pulsschlag beschleunigte sich merklich, als er von der Narbe in die dunklen, fast schwarzen Augen des ehemaligen Zenturios blickte: Brunius Doridorus Cartius.

Wie kam es, dass der Sklavenführer ausgerechnet hier auftauchte? Hier, wo niemand ihn erwartete!

Da saß er auf seinem Schlachtross, nur zwei, drei Schritt von Thorn entfernt. Doch das Gefühl, das sich angesichts von Kits Mörder in ihm breitmachte, war alles andere als die Euphorie, die er erwartet hatte. Vielmehr schnürte sich ihm beim Anblick der Entschlossenheit in den Augen des Mannes der Magen zu.

Rosmerta war nicht minder erschrocken. Sie ließ sich zwar nichts anmerken, aber in ihr tobte ein wilder Orkan, den sie gekonnt aus ihrem Gesicht zu halten wusste. Da war der Mann, der ihr, wenn es ihr gelang, ihn zu schnappen, genau jene Macht verschaffen konnte, die sie schon so lange begehrte.

Cartius löste seine Rechte vom Sattelknauf und hob sie kurz, bevor er sie auf den Griff seines Schwertes legte.

„Seid gegrüßt, Rosmerta.“

Rosmerta erwiderte seinen Gruß mit auffallend sanfter Stimme, was der Sklavenführer mit einem schwachen Lächeln zur Kenntnis nahm. Dann wurde sein Ausdruck nüchtern.

„Ihr wisst, dass wir in der Überzahl sind und keine größeren Schwierigkeiten haben werden, uns den Weg bis Valianor freizukämpfen. Wir werden keine Gnade zeigen, solltet Ihr tatsächlich vorhaben, Euch uns in den Weg zu stellen. Ich denke aber, Verhandeln ist besser als Blutvergießen. Darum appelliere ich hier und jetzt an Euren Verstand und fordere Euch auf: Zieht Eure Truppen zurück oder schließt Euch uns an! Ich hege keinen persönlichen Groll gegen Euch, Oberbefehlshaberin. Mein Zorn gilt dem Mann, der in der Hauptstadt darauf wartet, dass Ihr hier seine Arbeit tut.“

Ein ironisches Lächeln breitete sich auf Rosmertas Gesicht aus. „Hat man Euch in den Minen den Verstand zu Goldstaub zerbröselt, Brunius? Ihr denkt doch nicht allen Ernstes, dass ich vor Eurer ausgehungerten, kurz vor einem Schwächeanfall stehenden Sklavenbrut Angst habe, geschweige denn, dass ich Euch passieren lasse oder, noch abwegiger, mich Euch anschließe?“

Der Mann links neben Cartius griff ruckartig zu seinem Schwert. Mit kalter Abscheu in den Augen ließ er sein Pferd einen Schritt auf Rosmerta zu machen, doch Cartius warf ihm einen knappen Seitenblick zu und schüttelte kaum merklich den Kopf. Daraufhin hielt sich der Mann zähneknirschend zurück. Seine Hand aber behielt er am Schwertknauf.

Schließlich lächelte Cartius matt und nickte.

„Testaceus hat an Euch ganz offensichtlich gute Arbeit geleistet. Ihr seid bestens geeignet für die Führung der valianischen Truppen.“

Dann fiel sein Blick auf Thorn. Einen nichtigen Moment lang lag etwas wie Zweifel in seinen Augen und Thorn hatte den Eindruck, dass Cartius drauf und dran war, sich an ihn zu richten.

Doch dann wandte er sich ab und gab seinen beiden Vertrauten den Befehl zur Umkehr. Ohne ein weiteres Wort galoppierten sie zurück zu ihren Truppen, während Rosmerta ihrer Begeisterung freien Lauf ließ.

„Das darf doch nicht wahr sein!“, stieß sie voller Genugtuung hervor. „Besser hätte ich es mir nicht wünschen können! Läuft mir doch dieser verdammte Bastard direkt in die Arme! Die Götter sind auf meiner Seite! Wer hätte das gedacht?“

Euphorisch wandte sie sich Chara und Bargh zu, die endlich auch begriffen hatten, wer ihnen gerade gegenübergestanden hatte.

„Na, seid ihr soweit, den Sklavenführer dingfest zu machen?“

Bargh nickte stumm, während Chara sich teilnahmslos die Kapuze über den Kopf zog und dabei den Eindruck machte, als hätte sie mit der ganzen Angelegenheit nichts zu tun. Wortlos lenkte sie ihr Pferd hinter Thorn her, der bereits auf halbem Weg zurück zu den Legionen war.

„Also, holen wir uns die Trophäe“, murmelte Rosmerta und trieb ihren Schimmel an, während Bargh einen letzten Blick auf Cartius warf, der gerade zwischen den Reihen seiner Kämpfer untergetaucht war. Als er verschwunden war, ritt auch der Vallander zurück zu den Soldaten.

„Sind wir bereit?“, fragte Rosmerta Gambini, als sie am linken Soldatenblock vorbeikam. „Und seid Ihr absolut sicher, dass die Aufstellung, wie wir sie vorgenommen haben, ihren Zweck erfüllt?“

Gambini, der in vorderster Reihe seiner Soldaten auf seiner kastanienbraunen Stute saß und ein waches Auge auf jede Bewegung in den feindlichen Reihen der Sklaven hatte, nickte.

„Macht Euch keine Sorgen, Kommandantin. Unsere Taktik wird aufgehen. Wir können losschlagen!“

„Also gut.“

Rosmerta tätschelte zufrieden den Hals ihres Pferdes und sah Gambini fest in die Augen.

„Ich bin gerade Cartius begegnet“, bemerkte sie, woraufhin Gambini hörbar die Luft einsog. „Das bedeutet, wir kämpfen heute gegen den Sklavenführer höchstpersönlich. Haltet also Augen und Ohren offen! Sobald Ihr eine Vermutung habt, wo er sich aufhält, meldet Ihr es und sorgt dafür, dass sich die besten Männer der Sache annehmen. Habt Ihr mich verstanden?“

Der Zenturio straffte sich und salutierte.

„Zu Befehl, Kommandantin!“

Mit einem leisen Grollen zog das erste Gewitter im Bärenmond nördlich an der beginnenden Schlacht vorbei. Ein grelles Leuchten erhellte für einen nichtigen Augenblick den schwarzgrauen Himmel in der Ferne und Thorn hatte den Eindruck, als ob der metallische Geruch sich entladender Energie über dem Schlachtfeld hing.

Von der letzten Reihe aus beobachtete er, wie sich der mittlere Sklavenblock langsam auf das Zentrum des valianischen Heers zuschob, während sich die anderen beiden Blöcke nicht bewegten.

„Kontrollierter Rückzug!“, erscholl Rosmertas Befehl, woraufhin sich die Legionäre ihres Blocks langsam nach hinten bewegten und Thorn zwangen, Sankris zurückzutreiben.

Die vordersten Reihen der angreifenden Sklaveneinheit verfielen in einen Laufschritt und näherten sich nun beunruhigend rasch Rosmertas Truppen. Dies war der Zeitpunkt, an dem sich auch die anderen beiden Blöcke der Sklavenarmee in Bewegung setzten und, soweit Thorn das erkennen konnte, auf die Lücken zwischen Rosmertas Milizlegion, Gambinis regulärer Legion und den Magiern zuhielten.

Mit seltsamer Gelassenheit verfolgte er das Vorrücken des feindlichen Heeres. Er beobachtete, wie der mittlere Sklavenblock auf die vordersten Reihen der sich im Rückzug befindlichen Milizlegion traf, wie die ersten Soldaten niedergemetzelt wurden, wie die linke und rechte Flanke der Sklaven ihrer Vorhut nachströmten, um Rosmertas Milizlegion von den Magiern und Gambinis Heer zu trennen. Er beobachtete, wie Gambinis Truppen versuchten, dem rechten Sklavenblock den Weg abzuschneiden, indem sie direkt auf die Angreiferwelle in der Mitte zuhielten, die sich bereits gefährlich weit in Rosmertas Truppen gegraben hatte.

Von Thorns Position aus wirkte die Schlacht, als würden Figuren auf einem Spielbrett hin und her geschoben. Seltsamerweise hatte er ganz und gar nicht das Gefühl, als wäre er ein Teil dessen, was sich vor ihm abspielte. Im Augenblick sah er sich selbst vielmehr als einen neutralen Beobachter, der die Taktik der Spieler analysierte. So war beispielsweise Gambinis Intention leicht zu durchschauen. Offensichtlich war es das Ziel des Zenturios, die Spitze des angreifenden mittleren Sklavenblocks vom Rest abzutrennen, damit diese von Rosmertas Milizlegion eingekreist und aufgerieben werden konnte. Außerdem gelang es seinen Truppen mit diesem Manöver, dem rechten Sklavenblock fürs Erste den Weg abzuschneiden. Thorn hatte keinen Zweifel daran, dass Gambinis Taktik von Erfolg gekrönt sein würde.

Was die Magier zur Rechten von Rosmertas Legion vorhatten, war ihm allerdings ein Rätsel. Doch über das Vorhaben eines Magiers ließen sich normalerweise auch keine Prognosen erstellen. Albontius würde schon wissen, was zu tun war.

Den Bogen lasch in seiner Linken haltend, ging Thorn daran, die sich allmählich ablösende Spitze des mittleren Angreiferblocks in Augenschein zu nehmen, während Gambinis Männer damit beschäftigt waren, die Furche, die sie gegraben hatten, zu weiten.

Thorn strich mit dem Daumen sanft über das Holz seines Bogens, während er die Geschehnisse analysierte.

Da war Rosmerta, die unentwegt Kommandos brüllte, sich aber soweit es ging vom eigentlichen Kampfbereich fernhielt. Da war Gambini, der an der Front seines Soldatenblocks wütete und sich darauf verlassen konnte, dass seine Männer auch ohne konkrete Befehle wussten, was sie taten. Und da waren die Soldaten, die ihr Leben für ihre Kommandanten und ihre eigene Ehre bereitwillig auf dem Schlachtfeld opferten. Und da war er, Thorn, der auf seinem Pferd saß und sein Handeln mit seinen Ideologien nicht in Einklang bringen konnte und, statt sich zu beteiligen, lieber sinnlose Gedanken wälzte.

Plötzlich fiel sein Blick auf eine auffallende Bewegung innerhalb der abgetrennten Spitze der ersten Sklaveneinheit. Mitten im Schlachtgetümmel, dort, wo die isolierte Vorhut der Sklaven alles daran setzte, die valianischen Legionäre auf Abstand zu halten, erkannte er eine ungewöhnlich dichte Ansammlung feindlicher Krieger. Es sah so aus, als würde die eigendynamische Gruppierung den harten Kern der abgetrennten Spitze bilden. Soweit Thorn es erkennen konnte, kam keiner der valianischen Soldaten auch nur annähernd an diesen Kern heran.

Und plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Was er dort sah, war niemand Geringerer als Cartius mit seinen Gefolgsleuten. Der Sklavenführer hatte sein schwarzes Schlachtross abgegeben und kämpfte nun zu Fuß. Thorns Blick fixierte die dicht gedrängten Krieger. Aus der Distanz konnte er zumindest den Aschraner El’Schanin und den Vallander identifizieren. Sie hielten sich souverän jeden Feind vom Leibe, gerieten kaum in Bedrängnis. Über mangelnde Treue konnte sich der Sklavenführer wahrlich nicht beschweren. Der stählerne Ring aus Leibwächtern ließ nichts und niemanden durch und vermutlich hätte selbst Bargh Probleme, die lückenlose Barriere zu durchbrechen.

Doch seltsamerweise änderte der Anblick des Sklavenführers nichts an Thorns fast stoischer Ruhe. So gleichmütig er zuvor noch die Schlacht beobachtet hatte, so ungerührt verfolgten seine Augen nun Cartius. Es war ihm selbst ein Rätsel, warum sein Blut in Aussicht auf eine Niederlage des Feindes nicht in Wallung geriet. Trotzdem musste er handeln, das wurde ihm in diesem Moment schmerzlich bewusst. Dies war seine Chance, das Gleichgewicht wiederherzustellen.

Ruhig lenkte er Sankris um Rosmertas Milizlegion herum, die die Sklaven mittlerweile eingekreist hatte, und näherte sich allmählich dem nächstgelegenen Punkt der Leibgardisten um Cartius, wobei er darauf achtete, außerhalb des Schlachtgetümmels zu bleiben. Schließlich brachte er den Rappen zum Stehen.

Von seiner neuen Position aus konnte er den Sklavenführer deutlich erkennen. Cartius verschaffte sich gerade die Möglichkeit, eigenständig für die Dezimierung der feindlichen Legionäre Sorge zu tragen, indem er einen seiner Vertrauensmänner dazu anhielt, ihm aus dem Weg zu gehen. Mit beeindruckend eleganten Schwerthieben metzelte der Sklavenführer in kürzester Zeit fünf valianische Soldaten nieder.

Thorns linke Hand schloss sich fester um seinen Bogen. Die Augen auf Cartius geheftet, zog er mit der anderen einen Pfeil aus seinem Köcher am Rücken, leckte die Federn am Schaft gewissenhaft glatt und legte ohne Hast den Pfeil an. Die Sehnen an seinem Unterarm traten hervor, als er den Bogen spannte und die Pfeilspitze direkt auf Cartius’ Hals ausrichtete. Doch dann lenkte etwas seine Aufmerksamkeit ab. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Gambinis Truppen einen Keil gebildet hatten und darangingen, sich einen Weg zu Cartius freizukämpfen. Thorn war also nicht mehr der Einzige, der den Sklavenführer bemerkt hatte. Die Jagd hatte begonnen. Umso besser – Cartius war vorerst voll und ganz beschäftigt. Dennoch, Thorn hatte nur einen Schuss. Ein Schuss und Cartius musste erledigt sein. Verfehlte er sein Ziel, würde man auf ihn aufmerksam werden und die Sache wäre gelaufen.

Thorn atmete tief ein und hielt die Luft an. Seine Hände waren absolut ruhig – die Spitze seines Pfeils verharrte reglos in der Luft.

Es bedarf genau eines Schusses. Ein Schuss und Cartius’ Schicksal war besiegelt. Ein Schuss, dann wäre es endgültig vorbei und Thorn konnte endlich seiner Wege gehen. Ein Schuss und der Gerechtigkeit wäre genüge getan.

Seine Augen fixierten ihr Ziel. Zuerst sah er nur verschwommen, dann schärfte sich das Bild langsam. Das Ziel des Pfeils rückte näher, Thorn zog das Bild des Sklavenführers, soweit es seine Sinne und sein Verstand ermöglichten, zu sich heran. Dann ließ er die Bogensehne los und der Pfeil schnellte über die Köpfe der kämpfenden Soldaten hinweg auf sein Ziel zu. Er konnte es fast fühlen, konnte, noch bevor der Pfeil Cartius erreichte, den Treffer regelrecht spüren. Er wusste, dass er exakt dort auftreffen würde, wo er ihn hinhaben wollte. Ohne auf das Ergebnis zu warten, spannte er ein weiteres Mal den Bogen und schoss einen zweiten Pfeil ab, um seinen Erfolg zu sichern.

Der erste Pfeil fand sein Ziel und bohrte sich in den Hals des Sklavenführers. Thorn verfolgte, wie Cartius verblüfft seinen Kopf herumriss. Doch bevor er realisierte, was mit ihm geschehen war oder wer auf ihn geschossen hatte, traf Thorns zweiter Pfeil und grub sich unmittelbar neben seinem Kehlkopf tief ins Fleisch. Zwei Schritte taumelte Cartius in Thorns Richtung, dann stürzte er zu Boden und verschwand in der Menge.

Thorn atmete aus und senkte den Bogen. Es war vorbei. Der Feind war gefallen. Kitayschas Mörder hatte bezahlt. Und Rosmerta? Ein leises Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Doch dann verschwand es so plötzlich, wie es gekommen war und Thorn drückte Sankris die Schenkel in die Seite. Er musste sich beeilen.

Während er das Pferd durch die kämpfenden Soldaten auf die Stelle zudrängte, wo er Cartius hatte zusammensacken sehen, preschte Rosmerta von der anderen Seite auf ihrem Schimmel durch die Reihen, dicht gefolgt von Bargh und Chara, die versuchten, mit ihrer Kommandantin Schritt zu halten.

Noch bevor Thorn Cartius erreichen konnte, hatte Bargh einem von Cartius’ Vertrauten das Kriegsbeil in die Rippen geschlagen und fiel nun unter furchteinflößendem Gebrüll über den Vallander her, der sich schützend vor den gefallenen Sklavenführer stellte.

„Bring ihn zu Fall!“, hörte Thorn Rosmertas hysterische Schreie, während er alles daran setzte, an den dicht gedrängten Legionären vorbeizukommen. Er musste vor Rosmerta da sein!

Plötzlich packte ihn jemand und riss ihn brutal vom Pferd. Thorn versuchte, sich am Boden abzurollen, schlug sich dabei aber die linke Schulter schmerzvoll an einer dort liegenden Schwertklinge blutig und musste kurz Luft holen, bevor er fluchend wieder auf die Beine kam. Vor ihm blitzte die Klinge eines in valianischer Rüstung gekleideten Sklaven auf. In den Augen des Mannes funkelte der blanke Hass und Thorn zog augenblicklich sein Schwert. Im selben Moment wurde ihm bewusst, dass er alle Hoffnung der Sklaven mit seinem Schuss zunichtegemacht hatte. Er hatte den Sklavenführer zum Tode verurteilt und damit sämtliche Sklaven ihrer Führung und ihres Glaubens beraubt. Mit dieser Tat hatte er sich zum Hassobjekt aller Freiheitskämpfer gemacht. Doch der Weg zurück war versperrt. Es gab nur noch ein Vorwärts.

Der Weg ohne Gabelung also.

Charas Worte hatten sich gewaltsam Zugriff auf seine Gedanken verschafft und ließen sich nicht mehr abschütteln. Während Thorn seinem Gegner ohne Umwege sein Schwert in die Seite stieß, spürte er, wie ihm die Kontrolle entglitt. Jetzt war er nicht länger Beobachter, sondern Teilnehmer. Er war mittendrin.

Er war zu weit gegangen, um sich noch umentscheiden zu können. Die Weggabelung lag hinter ihm.

Noch während sein Gegner in stummem Schmerz zu Boden ging, nahm Thorn Sankris bei den Zügeln und arbeitete sich weiter durch die Menge.

Als er bis zu Cartius durchgekommen war, sah er, wie Rosmerta neben dem Sklavenführer kniete und ihm mit einem bestialischen Siegeslächeln ihren Dolch an die Kehle setzte. An ihrer linken Seite floss unablässig Blut ihren Körper hinab, aber sie schien es gar nicht wahrzunehmen. Offenbar war ihr völlig gleichgültig, dass man ihr den Arm abgeschlagen hatte und lediglich ein blutiger Stumpf übrig geblieben war. Sie hatte bekommen, was sie wollte und Thorn war zu spät gekommen. Niemals würde sie ihn zu Cartius durchlassen, niemals ihn auch nur in seiner Nähe dulden! Rosmerta teilte ihre Beute nicht.

Wieder vernahm er eine fremde Stimme in seinem Kopf. Diesmal war es der sanfte Klang jener Frau, die er geliebt hatte.

Du siehst den anderen gerne dabei zu, wie sie ihre Entscheidungen treffen. Triff deine eigenen, Thorn! Stell dich nach vorne und verlass die Position im Abseits. Beweise mir, dass du es wert bist, an meiner Seite zu kämpfen.

Thorn ließ die Zügel los. Seine Hand schloss sich fest um den Griff seines Schwertes. Rosmertas Gestalt im Blick, drängte er sich an den Soldaten vorbei und bahnte sich so einen Weg bis zu Bargh durch, der Rosmertas Körper abschirmte. Doch zwischen ihm und dem Soldat daneben war reichlich Platz und Rosmerta nahm ihn gar nicht wahr. Sie konzentrierte sich ganz und gar auf ihre Trophäe.

„Fesselt ihn!“, befahl sie gerade, wobei sich ihre Stimme vor Erregung überschlug. „Und sorgt dafür, dass er mir nicht krepiert!“

Im Abseits stehen – andere Leute entscheiden lassen …

„Wieso hast du sie nicht einfach getötet, anstatt sie zu warnen?“

Das Schwert in Thorns Hand fühlte sich plötzlich an wie ein das Tor in die Freiheit zerschmetternder Rammbock, eine Waffe, die ihn von allen Übeln befreien konnte. Während er einen Schritt an Bargh vorbei machte, der keine Bedrohung in ihm sah, hob er diese Waffe zum Schlag.

Doch bevor er den Schlag ausführen konnte, der Rosmertas Kopf von ihrem verruchten Leib trennen sollte, geschah etwas, das er nicht hätte vorhersehen können.

Die Klinge seines Schwertes krachte fruchtlos gegen den langen Schaft einer Zweihandwaffe. Im selben Moment drängten sich zwei Legionäre mit einem Heiler vorbei und schirmten Thorns Körper und den seines Angreifers von Rosmerta ab.

Thorn starrte wie paralysiert in die schwarzen Augen Charas. Die Söldnerin starrte zurück, ohne dabei ihre Waffe sinken zu lassen.

„Es ist zu spät, Thorn“, flüsterte sie. „Du hattest deine Chance.“

Thorn brachte kein Wort über die Lippen. Er spähte zu den beiden Klingen, die an den Enden von Charas Waffe blitzten. Dann sah er zurück in ihre Augen. Ohne seinen Blick abzuwenden, ließ er sein Schwert zu Boden fallen und ging in die Knie.

Die Gleichgültigkeit, die seine Gedanken am Beginn der Schlacht noch in kalter Präzision hatte arbeiten lassen, verpuffte. Bar eines klaren Gedankens starrte er Chara hinterher, die sich zu Bargh, Rosmerta und dem Heiler gesellte. In dem Durcheinander hatte keiner den Zwischenfall bemerkt.

In Thorns Kopf herrschte eine gähnende Leere. Seine Augen suchten sich einen Weg zwischen den Leuten hindurch zu Cartius.

Das Gesicht des Sklavenführers war blass geworden und sein Atem ging rasselnd. Er bekam kaum Luft. Der Pfeil in seiner Kehle verhinderte, dass er frei atmen konnte. Auf Cartius’ Stirn stand der Schweiß der Anstrengung und des Schmerzes. Seine Augen aber waren offen. Mit wachem Blick musterte er seine Widersacherin, die ihn gar nicht zur Kenntnis nahm und lediglich daran interessiert war, dass ihre Männer ihn so schnell wie möglich in Gewahrsam nahmen.

Zwei valianische Soldaten waren damit beschäftigt, den Sklavenführer an Händen und Füßen zu fesseln, während der Heiler ihm die Pfeile aus dem Körper entfernte.

Als die Männer Cartius auf die Beine hievten, wanderten dessen Augen durch die Menge und blieben schließlich an Thorn hängen. Ein kurzes Aufflackern klärte seinen Blick und Thorns Herzschlag beschleunigte sich. Im nächsten Moment hatten die Soldaten Cartius weggedreht und schleiften ihn hinter sich her durch die zurücktretende Menge.

Thorn schloss die Augen. Es war vorbei. Er hatte Cartius geschlagen. Er hatte Rosmerta den Sieg streitig gemacht, so wie er es geplant hatte. Und jetzt? Was jetzt?

Rosmerta lebte noch und Testaceus würde weiterhin auf ihre Unterstützung bauen, um am Ende … ja, was? Um das Chaos zu bekämpfen? War Cartius ein Handlanger des Chaos?

Thorn griff nach seinem Schwert und richtete sich schwerfällig auf. Plötzlich verdunkelte sich der Himmel. Ein rötlicher Schimmer breitete sich über das Schlachtfeld aus und Thorn sah, wie sich eine riesige, ungewöhnlich rote Wolke in südlicher Richtung am Firmament abzeichnete. Mit einem letzten Blick auf Cartius schritt er zu Sankris, zog sich in den Sattel hoch und spähte über das Schlachtfeld.

Soweit er es ausmachen konnte, war der linke Sklavenblock drauf und dran, zwischen Rosmertas Milizlegion und den Magiern Richtung Valianor durchzubrechen. Vonseiten der Magier wurden immer wieder Blitze und Feuerbälle auf die Sklaven geschossen, aber ihre Magie war zu schwach, um den Feind aufzuhalten.

Thorns Blick richtete sich auf den Durchgang zwischen den beiden valianischen Heeresblöcken, den die Sklaven als ihre Chance auf einen Sieg wahrgenommen hatten. Dort, in einiger Entfernung von den direkt auf ihn zustürmenden Sklaven, baute sich ein Mann exakt im Zentrum der Passage zwischen der Milizlegion und den Magiern auf, die verzweifelt versuchten, die Sklaven aufzuhalten. Der Mann musste lebensmüde sein! Völlig unbeeindruckt von der auf ihn zuströmenden Sklavenmeute stand er da und rührte sich nicht, während über ihm und den vorwärtsdrängenden Sklaven dunkel und bedrohlich die rote Wolke schwebte.

Plötzlich hoben sich die Arme des Mannes in den Himmel und sein Kopf glitt in seinen Nacken. Ein seltsames Säuseln drang an Thorns Ohren. Zuerst ganz leise, aber allmählich wurde es lauter und lauter, bis es zu einem alles durchdringenden Rauschen anschwoll. Zu dem gleichbleibenden, dumpfen Brausen gesellte sich ein unheimliches Knistern. In kurzer Zeit begann sich die Luft rings herum zu erwärmen und Thorn konnte die Energie förmlich spüren, die sich über den Köpfen der Kämpfenden zusammenballte.

Aus dem Rauschen schien ein Flüstern zu dringen. Thorn fühlte, wie sich seine Nackenhaare sträubten. Ihm war, als würden sich in dem monotonen Brausen Worte bilden, Worte, die er nicht verstand, die aber dennoch Sinn zu machen schienen. Als würden die Naturgewalten lebendig werden und in gemeinsamem Bestreben eine Macht entfalten, die gottgleich zu ihnen hinab sprach: „Caelurai morte, incendor caelurai morte, exidurai!“

Immer wieder dieselben Worte. Wie Blätter im Wind umtanzten sie die heranstürmenden Sklaven und den Mann, der sich ihnen in den Weg gestellt hatte. Da begriff Thorn, dass er die Quelle der seltsamen Formel war und er erkannte, wer dieser Mann war, der sein Leben für das sämtlicher Valiani zu opfern gedachte.

Unter ihm tänzelte Sankris unruhig und wieherte in Todesangst. Die Luft begann zu vibrieren und Thorn versuchte verzweifelt, sein Pferd im Zaum zu halten, ohne dabei seinen Blick von der Gestalt zu lösen.

Langsam verdichtete sich die Wolke und was zuvor noch bloßer Dunst gewesen war, verwandelte sich schlagartig in tropfenförmige Glutherde, die auf den Erdboden zuschossen. Je näher sie kamen, desto größer wurden die Tropfen, bis schließlich ein gewaltiger Feuerregen auf die Sklaven niederging, die den Mann fast erreicht hatten.

Panische Schreie zerrissen die brennende Luft. Starr vor Entsetzen verfolgte Thorn, wie die Sklaven in Flammen aufgingen und einer nach dem anderen brennend zu Boden stürzte.

Albontius ließ sich von den Geschehnissen nicht beirren. Die Arme in den Himmel gestreckt, wiederholte er seine Zauberformel und verharrte in stoischer Ruhe mitten in der von ihm ausgelösten Feuersbrunst, mit der er den Tod über den Feind und sich selbst brachte.

Es wurde still um Thorn. Sämtliche Augenpaare waren auf das Feld der Zerstörung gerichtet. Das Schlachten hatte aufgehört. Die Männer hatten für diesen einen unbegreiflichen Augenblick, da Albontius’ Macht die entscheidende Wende brachte, ehrfurchtsvoll innegehalten. Erst nachdem die letzten Schreie verstummt waren, begannen sehr zögerlich die Schwerter wieder zu klirren und der Kampf ging weiter.

Fassungslos starrte Thorn auf die brennenden Leichenreste der Sklaven, bevor seine Augen zum Leichnam des Gildenmeisters wanderten und ihm schlagartig übel wurde. Alles, was von Albontius übrig geblieben war, war ein Haufen glühender Asche.

Thorn wandte sich ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ein weiterer Mann, für den er Hochachtung und Sympathie empfunden hatte, war gefallen. Aber der Zweck heiligte ja bekanntlich die Mittel.

Es war ein klarer Sieg für Testaceus. Die Sklaven hatten sowohl ihren Anführer, als auch ihren Mut und ihre Hoffnung verloren und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie die Tragweite ihres Verlustes erkennen und fliehen würden.

Thorn hingegen wollte nur noch eines: das Schlachtfeld verlassen und schlafen. Schlafen, bis er nichts mehr von alldem wusste. Er wollte vergessen, was er getan hatte, vergessen, was geschehen war und warum es geschehen war. Seine Hände zitterten, als er die Zügel griff und durch die toten Leiber, die sich wie ein Teppich vor ihm ausbreiteten, Richtung Lager ritt.

In der darauffolgenden Nacht war Rosmerta zu aufgewühlt, um auch nur für einen Moment dahinzudämmern. Sie hatte alles erreicht, was es zu erreichen galt. Schon am nächsten Morgen würde sie Cartius persönlich nach Valianor bringen und ihren gerechten Lohn erhalten. Es kümmerte sie nicht, dass sie einen Arm verloren hatte. Irgendeiner der Heiler, die den Krieg gegen Cartius überlebt hatten, würde ihr schon einen nachwachsen lassen. Sie hatte Ähnliches bereits gesehen, Wunderheiler, die Derartiges zuwege brachten, und Testaceus würde sich bestimmt um einen solchen bemühen. Was Thorn anbelangte, so hatte sie einen dämonisch guten Plan, wie sie ihm einen weiteren Denkzettel verpassen, ihn vielleicht sogar aus dem Weg räumen konnte. Dass sie ihren Sieg mit ihm teilen musste, machte sie rasend. Sie konnte sich nicht erklären, wie er es geschafft hatte, ihr zuvorzukommen. Thorns Gegenwart und Anteilname an den politischen Vorkommnissen in und um Valianor stellten für die Zukunft keine Option mehr dar.

Nicht nur Rosmerta blieb der Schlaf verwehrt. Unweit von ihr starrte jemand anderes hellwach die Zeltplane an. Dieser Jemand kämpfte mit Gedanken ganz anderer Art, denn die vergangenen Tage hatten seine Pläne heftig ins Wanken gebracht.

Charas Pulsschlag ging gleichmäßig, während sie ihr Resümee zog und in nüchterner Präzision schlussfolgerte.

Die von ihr ausgesuchte Zielperson hatte einen Kurswechsel vorgenommen, der sie für ihre Zwecke unbrauchbar machte. Die Zeit aber drängte – das hatte man ihr überdeutlich, um nicht zu sagen auf schmerzvolle Weise, klargemacht. Sie musste eine neue Möglichkeit finden, um das Vertrauen der Person zu gewinnen. Und dabei durfte sie ihren Posten als Leibwächterin nicht in Gefahr bringen. Beides war essenziell. Beides musste gewährleistet sein. Ein tragender Balken konnte nicht auf nur einer Säule stehen. Er benötigte mindestens zwei.

Charas Strategie verlangte wiederum nach Eigenschaften, für die sie nicht gerade berühmt war. Feingefühl war eine davon, Zurückhaltung eine andere. Sie musste sich vorsehen. Und sie musste schneller vorankommen.

Am frühen Morgen des nächsten Tages brach Rosmerta mit einer Kohorte Soldaten, ihren beiden Leibwächtern und Thorn, der alles daran setzte, sich während der Reise von den anderen fernzuhalten, nach Valianor auf. Die restlichen Truppen unter Gambinis Kommando jagten den flüchtigen Sklaven hinterher, um sie einen nach dem anderen festzunehmen. Abends wurde Rosmerta von einer Kohorte der Prätorianergarde in der Hauptstadt empfangen, nachdem Cartius in Gewahrsam genommen worden war.

Am nächsten Morgen wurden Thorn und Rosmerta zu Testaceus’ Villa befohlen. Zu Thorns Verwunderung wollte Testaceus die beiden getrennt voneinander sprechen, was seinen Argwohn Testaceus gegenüber nicht eben schmälerte. Und das von dem Senatsvorsitzenden an ihn herangetragene Anliegen machte es nicht besser, im Gegenteil. Thorn war fassungslos.

„Ist das dein Ernst?“, fragte er Testaceus, der mit dem Rücken zu ihm am Fenster stand und in den Garten hinausblickte. „Du willst, dass ich gegen Cartius in der Arena kämpfe und ihm den Todesstoß verpasse?!“

Testaceus rührte sich nicht. Genau in diesem Augenblick wurden Tausende Sklaven in Ketten durch Valianors Straßen getrieben und er wollte dem Triumphzug beiwohnen. Sicher war ganz Valianor auf den Beinen, um die Gefangenen mit eigenen Augen zu sehen. Niemand würde sich dieses Szenario entgehen lassen.

„Ich war der Meinung, du würdest meinen Vorschlag begrüßen.“ Testaceus drehte sich um. „Es ist deine Gelegenheit, Kitayschas Ermordung zu rächen und die Waage wieder ins Lot zu bringen! Wo liegt das Problem?“

Thorn starrte ihn fassungslos an.

„Das Problem, Antonius“, sagte er, „liegt darin, dass ich mich außerstande sehe, Cartius zur Belustigung des valianischen Volkes zu töten!“

Die Tür zum Nebenraum ging auf. Ein Heiler eilte wortlos und mit sorgenvoller Miene durchs Zimmer auf den Gang hinaus.

„Sie sind gerade dabei, Rosmertas Arm wiederherzustellen“, erklärte Testaceus, doch Thorn hatte den Auftritt des Heilers kaum zur Kenntnis genommen.

„Ich denke, du betrachtest das Ganze aus der falschen Perspektive“, seufzte Testaceus. „Es wäre eine Ehre für dich, den Staatsfeind vor den Augen Valianors zu töten. Es ist ein Zweikampf, kein Mord!“

„Es ist Mord! Selbst wenn Cartius den Kampf gewinnen sollte, wirst du ihn zum Tode verurteilen, durch wessen Hand auch immer er dann sterben würde. Ich kann daran nichts Ehrenvolles finden, tut mir leid!“

„Das heißt, du lehnst mein Angebot ab?“, fragte Testaceus vorsichtig.

„Dein Angebot …“, begann Thorn, doch dann hielt er plötzlich inne. „Nein, warte …“

Seine Augen glitten zur Tür und wieder zurück zu Testaceus.

„Kann es denn sein, dass sie es sogar schafft, Antonius Virgil Testaceus hinters Licht zu führen?“

Testaceus seufzte und zuckte mit den Schultern. Er wusste, worauf Thorn hinauswollte.

„Der Vorschlag kam von Rosmerta, da hast du recht“, sagte Testaceus. „Aber ich sehe nicht, worüber sie damit hinwegtäuschen wollte. Sie hielt es einfach für eine gute Idee, insofern, als du ihrer Meinung nach auf diesem Weg mit Kitayschas Tod abschließen könntest. Eine Meinung, der ich mich anschließe. Das ist alles.“

„Das ist alles?!“

Thorn starrte Testaceus an, als wäre dieser schwer von Begriff. Doch als sich Testaceus’ Miene kein bisschen veränderte, schüttelte er ungläubig den Kopf.

„Du denkst doch nicht wirklich, dass es ihr dabei um mein Wohl geht!“

Testaceus antwortete nicht.

„Also gut. Lassen wir es dabei bewenden.“ Thorn wandte sich ab und schritt auf die Tür zu.

„Thorn, denk doch mal darüber nach …“

„Nein!“, sagte Thorn entschieden und öffnete die Tür. „Das ist mein letztes Wort!“

Auf dem Weg zur Arena begegnete Thorn Chara und Bargh, die schweigend nebeneinander herschlenderten.

„He da, Thorn!“, schrie der Vallander, als er Thorn um die Ecke biegen sah. „Wie wär’s nachher mit einem Humpen Bier im Gladiator?“

Obwohl Thorn so rasch wie möglich weiterwollte, blieb er kurz stehen und ließ sich von Bargh freundschaftlich auf den Rücken klopfen.

„Mal sehen, vielleicht komme ich später noch vorbei.“

Bargh grinste breit und stieß Chara in die Rippen, woraufhin sie einen Schritt zur Seite machte, während sie Thorn unter ihrer Kapuze einen abwägenden Blick zuwarf.

„Woll’n doch mal sehen, ob unser attraktives Muskelpaket wie ein Mann trinken kann oder ob die Muskeln bloß Täuschung sind!“, johlte Bargh.

Chara enthielt sich jeden Kommentars. Stattdessen lehnte sie sich gegen eine Hauswand und beobachtete schweigend Thorn, der Barghs guter Laune nur ein halbherziges Lächeln entgegenbringen konnte.

„Wo wollt ihr eigentlich hin?“, fragte er aus reiner Höflichkeit; in Gedanken war er bereits bei den finsteren Kerkern der Arena.

Barghs Grinsen wurde noch breiter.

„Ich hab da ’n paar Gerüchte gehört, dass man mit Hilfe von irgendeinem dieser Magier, wie heißen die noch gleich …“

Er kratzte sich grübelnd den Bart.

„Tarma… Turmaga…gurgen.“

„Thaumaturgen“, unterbrach ihn Chara, während sie mit ihren Fingern gegen die Mauer trommelte und Thorn nicht aus den Augen ließ.

„Tramagurten, richtig!“, nickte Bargh. „Jedenfalls können die magische Waffen herstellen, mit denen man so richtig aufräumen kann, und das hat doch was, oder? Weißt du, die haben da …“

Thorn winkte ab.

„Schon klar. Ich muss jetzt trotzdem weiter. Das mit den Waffen kannst du mir später erklären!“

Er nickte Chara kurz zu und eilte dann Richtung Arena davon.

„In Ordnung!“, schrie Bargh hinter ihm her. „Alles Weitere dann im Gladiator!“

Die Stufen zu den Kerkern waren feucht und modrig und der Wachposten am Eingang hatte Thorn nachdrücklich ans Herz gelegt, auf seine Schritte zu achten, immerhin habe sich der eine oder andere beim Treppensteigen schon das Genick gebrochen.

Unterhalb der letzten Stufe verlief ein schmaler, von Fackeln beleuchteter Gang bis zu einer einzigen Zelle am Ende des Kellergewölbes. Eine Ratte schlüpfte zwischen Thorns Beinen hindurch und verschwand in einem Loch in der Wand. Es roch nach Schimmel und Exkrementen. Es war anzunehmen, dass der Kerker noch nie gereinigt worden war, anders konnte er sich den widerlichen Gestank nicht erklären. So sehr die Valiani darauf bedacht waren, die exponierten Bereiche der Stadt sauber und ordentlich zu halten, so wenig kümmerten sie sich anscheinend um die Hygiene an Orten, die ein guter Bürger ohnehin nicht betrat.

Ein Blick in die Zelle bestätigte seine Annahme. Die Gitterstäbe waren zum Teil kotbeschmiert. Wahrscheinlich warfen manche Gefangenen ihre Ausscheidungen nach den Wärtern, um ihnen damit ihre Verachtung deutlich zu machen.

Cartius hing im hintersten Winkel der Zelle. Man hatte ihn mit beiden Handgelenken an die Steinmauer gekettet. Es sah aus, als würde er auf dem Boden knien, doch seine Knie waren nur angewinkelt, ohne dabei den Stein darunter zu berühren. Abgesehen von einer schmutzigen, in Fetzen von seinen Beinen hängenden Leinenhose, war er nackt. Seine Verletzungen am Hals hatte man versorgt und verbunden, aber über seine Schultern und die Brust verliefen tiefe, blutverkrustete Striemen.

Thorn musste angesichts des so veränderten Anblicks des Sklavenführers kurz schlucken. Alles Stattliche, seine beeindruckende Erscheinung und das einschüchternde Äußere, waren verschwunden. Vor sich sah er einen Mann, der vom Leben zum Narren gemacht worden war und der jetzt nur noch darauf wartete, von seiner inneren Qual erlöst zu werden.

„Cartius“, sagte er leise und trat einen Schritt auf die Gitterstäbe zu.

Der Gefangene rührte sich nicht.

„Brunius Doridorus Cartius“, wiederholte Thorn seinen Namen mit etwas mehr Nachdruck.

Mühsam hob Cartius seinen Kopf. Sein Blick suchte in dem dumpfen Schimmer der Fackeln Thorn. Offensichtlich hatte der Sklavenführer Probleme damit, klar zu sehen, was nicht verwunderlich war, denn er brachte seine Augen kaum auf. Schließlich blieb sein Blick an Thorn hängen. Er musterte seinen Häscher kurz und ließ den Kopf dann wieder sinken.

„Was wollt Ihr?“, flüsterte er kaum verständlich.

Thorn atmete tief ein und starrte an die feuchte Gewölbedecke.

Ich habe nicht die leiseste Ahnung!, schoss es ihm durch den Kopf. Bei Vana, ich weiß nicht, was ich hier will!

Cartius hustete. Von seinen Lippen tropfte Speichel. Sicher war er ganz heiß darauf, unter den gegebenen Umständen mit ihm zu plaudern. Thorn spürte, wie ein zynisches Lächeln über seine Lippen glitt.

Und dann riss ihn ein plötzlich wieder aufloderndes Gefühl des Zorns aus seinen trüben Gedanken – ein Zorn, den er schon fast vergessen hatte.

Wahrscheinlich sah Cartius in ihm lediglich einen Mann, der einen Pfeil auf ihn geschossen hatte, der ihn ganz zufällig traf. In Cartius’ Augen war er ein Niemand und dass er Kitayscha verloren hatte, war bedeutungslos. Er war ein Namenloser – ein Gegner unter vielen!

„Ihr habt sie umgebracht!“, presste Thorn unter zusammengebissenen Zähnen hervor und wusste noch im selben Augenblick, dass es nicht nur eine Lüge war, sondern auch ein völlig unangebrachter Vorwurf.

Cartius war kurz davor, in den Tod zu gehen. Was interessierte ihn da Thorns Kummer? Doch zu seiner Verwunderung hob Cartius seinen Kopf und blickte ihm in die Augen.

„Ich weiß“, murmelte er schwach. „O’Neill …“

Er hustete neuerlich und brach ab. Blut troff von seiner Unterlippe.

Thorn musste seinen Blick abwenden. Bitterkeit kroch in ihm hoch und drückte von innen gegen seine Augen. Er konnte es kaum ertragen, Cartius in diesem finsteren, kalten Kerkerloch zu sehen.

„Es ist die Stimme der Liebe, die aus Euch spricht“, flüsterte Cartius. „Ich weiß, wie sich das anfühlt. Man hat mir meine Familie genommen, meine Frau, meine Kinder … Ich weiß, was Ihr durchmacht.“

Seine Stimme brach und der Kopf sank wieder auf seine Brust.

„Ihr habt mich zum Tode verurteilt, ja“, murmelte er schwach. „Doch Ihr tatet es, weil Ihr liebt. Solange Ihr diese Liebe fühlt, werdet Ihr das Leben dem Tod vorziehen. Solange Ihr liebt, ist das Leben es Euch wert zu töten. Und solange Ihr töten könnt, fühlt Ihr Leben in Euch. Ihr müsst vergessen, dass Ihr meinen Tod unterzeichnet habt. Ich war bereits tot, als mich Euer Pfeil traf. Das Einzige, das mich noch am Leben hielt, war der Gedanke an Rache. Doch Rache ist ein trauriger Ersatz für die Liebe. Sie hält einen zwar am Leben, aber es ist ein Leben ohne Glück, ein Leben ohne Gefühl. Der Tod ist einem solchen Leben vorzuziehen.“

Thorns Hände griffen nach den Gitterstäben und umschlossen das kalte, dreckverschmierte Metall. Seine Stirn sank auf seine Unterarme.

„Dann bin auch ich längst tot. Alles, was ich fühle, ist Hass und Ohnmacht.“

Cartius atmete tief ein. Ein Zittern ging durch seine Arme und er stöhnte schmerzvoll auf. Die Wunden der Folter auf seiner Brust und seinen Schultern waren rot und aufgesprungen und seine Gelenke knirschten unter dem Gewicht seines Körpers.

„Was waren das für Tränen?“, presste Cartius unter zusammengebissenen Zähnen hervor. „Tränen des Hasses? Ihr liebt noch immer. Das Leben ist Euch näher als der Tod.“

Er schüttelte schwach den Kopf und fuhr mit gedämpfter Stimme fort: „Ich habe Euch den Weg nach unten gezeigt, indem ich Euch nahm, was mir selbst genommen wurde. Ihr wolltet wie ich Rache. Doch meine Rache galt den wahren Schuldigen. Eure Rache aber galt einem Mann, der um die Wahrheit, die Freiheit, sein eigenes Überleben und das seiner Gefolgsleute kämpfte. Was tut Ihr nun mit dieser Gier nach Vergeltung? Denn eines ist gewiss, es verschafft Euch keine Befriedigung, mich sterben zu sehen.“

Cartius’ Blick war verschleiert, doch Thorn hatte das Gefühl, dass er bis in seine Seele sah. Er schauderte.

„Ihr müsst nach einem neuen Opfer Eures Vergeltungsdrangs suchen. Entweder das oder Ihr vergesst endgültig, wen oder was Ihr verloren habt … und warum.“

„Aber wer sind die wahren Schuldigen?“ Die Frage war da, bevor er einlenken konnte.

Ein plötzliches Grinsen kräuselte Cartius’ Lippen. „Wir wurden beide getäuscht. Könnt Ihr Euch nicht denken von wem? Wisst Ihr denn nicht, was hier für ein Spiel gespielt wird?“

„Ihr sprecht vom Senat.“

„Der Senat wurde wie wir hinters Licht geführt. Der Sklavenaufstand war die Bedrohung, auf die der Senat reagierte. Aber wer begünstigte diese Bedrohung? Bei allem, was der Senat tat, um den Aufstand niederzuschlagen, gab es eine entscheidende Stimme.“

„Testaceus“, murmelte Thorn. „Er hat getan, was er für richtig hielt.“

„Ja, das ist wahr. Doch seine Pläne gingen weit über das Abwenden einer Gefahr hinaus. Was denkt Ihr, welchen Effekt der Sieg über die Bedrohung durch die Freiheitskämpfer auf das valianische Volk hat, jetzt, wo es kurz davor war, unterzugehen? Es jubelt lauter denn je. Und wer hat diesen Sieg errungen? Testaceus und diejenigen, die er ins Feld geschickt hat – als allerletzte Rettung. Testaceus wusste genau, was ihm einen echten, wirkungsvollen und andauernden Ruhm einbringen würde und dies war gewiss kein Sieg über einen Aufstand irgendwelcher Sklaven im weit entfernt liegenden Emlin-Tal. Die Bedrohung musste wachsen und gedeihen, damit sie für jeden erkennbar und spürbar werden konnte. Keine Sorge, ich war so blind wie Ihr. Ich wollte an meine eigenen Siege glauben. Ich war überzeugt davon, dass es meine Siege waren, die die Freiheitskämpfer bis zur Hauptstadt vordringen ließen.“ Cartius schnaubte verächtlich auf. „Es waren die Siege Eures Senatsvorsitzenden.“

Thorn hatte das Gefühl, als hätte ihm jemand einen Knüppel über den Schädel gezogen.

Meines Senatsvorsitzenden?“, sagte er benommen.

„Ah, vielleicht habt Ihr recht. Testaceus ist nicht Euer Senatsvorsitzender, aber Ihr seid sein Mann … ein Mittel zum Zweck, nur ein Mittel zum Zweck.“

Thorns Kehle war staubtrocken. Mühsam schluckte er, während er versuchte, eine Logik in Cartius’ Sicht der Dinge zu finden. Die Erschütterung kam, als er sie gefunden hatte. Alles, was Cartius gesagt hatte, machte Sinn. Testaceus hatte hervorragende Arbeit geleistet und er, Thorn, war dabei nichts weiter als sein Spielball gewesen. Das Chaos war nie ein Akteur in diesem Spiel gewesen. Ordnung gegen Ordnung … Was für ein Duell! Da war es nicht verwunderlich, dass der Zweifel seine klaren Richtlinien ins Wanken gebracht hatte. Man hatte ihn gelehrt, das Chaos zu bekämpfen. Aber wo war das Chaos? Wer war das Chaos?

„Ich für meinen Teil habe jedenfalls noch eine letzte Chance, mich ein klein wenig für das zu revanchieren, was Testaceus mir angetan hat“, fuhr Cartius fort. „Es ist zwar ein schwacher Trost, aber immerhin ein kleiner Spaß, bevor ich sterbe.“

Er grinste.

„Testaceus wird viel Freude mit mir haben, da bin ich sicher.“

Thorn musste unwillkürlich lächeln. Er konnte sich ungefähr vorstellen, was Cartius plante, zumal er wusste, was Testaceus tatsächlich mit ihm vorhatte.

Eine Weile blickten sie einander schweigend in die Augen. Dann fiel Cartius’ Kinn zurück auf die Brust.

„Lebt wohl, Thorn Gandir“, flüsterte er mit verebbender Stimme.

Thorn stieß sich von den Gitterstäben ab und trat einen Schritt zurück. Seine Augen ruhten auf der eingeknickten Gestalt des Sklavenführers.

„Ich werde für Euer rasches Ende beten …“, murmelte er, dann wandte er sich um und schritt den dunklen Gang entlang.

Der Schmerz in seinem Inneren war verschwunden.

Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 1 und 2

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