Читать книгу Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 1 und 2 - J.H. Praßl - Страница 17

Verräter

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„Nenn mir einen Grund, warum ich dich nicht auf der Stelle töten sollte, O’Neill!“

Thorn hatte den Dolch immer noch in der Hand, aber Liam machte keine Anstalten, sich abzusichern. Er sah ihn nur mit wachen Augen an.

„Oder möchtest du mir noch sagen, wie dein richtiger Name lautet?“

„Wozu sollte ich unter falschem Namen operieren? An mich erinnert sich hier ohnehin niemand“, erwiderte Liam nun mit seiner normalen Stimme.

Als Thorn den Dolch losließ und die Öllampe entzündete, sah er die Blässe in Liams Gesicht, die von seinen müden Augen und seinen hohlen, ausgemergelten Wangen noch verstärkt wurde.

„Also hatte ich unrecht“, stellte Liam ruhig fest.

Thorn verspürte nicht die geringste Lust, das Gespräch weiterzuführen. Stattdessen wollte er der Sache ein kurzes Ende bereiten und Liam den Dolch zwischen die Rippen rammen. Doch er versuchte seinen Zorn zu beschwichtigen. Liam wusste Dinge, die er nicht wusste – über Cartius, seinen Freiheitskampf, womöglich sogar über dessen Strategien. Ihn jetzt zu töten wäre nicht nur vorschnell, sondern dumm. Und doch, alles in ihm schrie nach Rache. Endlich könnte er für Gerechtigkeit sorgen und seinem Schmerz Erleichterung verschaffen, wenn auch nur vorübergehend. In ihm war ein Tier erwacht, das nur darauf wartete, losgekettet zu werden. Doch so sehr er sich auch danach verzehrte, es auf Liam loszulassen, seine Neugier zügelte seinen unbändigen Hass.

Womit hattest du unrecht?“, knurrte er leise.

Um Liams Mundwinkel zuckte ein anerkennendes Lächeln.

„Damit, dass ich dich für jemanden hielt, der mit voreiligen Schuldzuweisungen vorsichtig umgeht und vergeben kann, wo Reue gezeigt wird.“

„Vergeben? Ich habe dir vertraut, Liam. All die Zeit während der Belagerung und der Entbehrungen habe ich dir vertraut“, flüsterte Thorn bitter. Jetzt spürte er deutlich die Folgen des Verrats. Schwer und unverwüstlich lastete das Gefühl auf seinem Herzen, dass ein Freund ihn ans Messer geliefert hatte. Thorn war müde, unendlich müde. Und er hatte keine Lust mehr, sich mit Leuten herumzuschlagen, von denen er annehmen konnte, dass sie nur aus Eigennutz handelten.

„Und Reue kann ich keine finden“, setzte er hinzu. „Du hast das Tor zur Garnison geöffnet und den Feind eindringen lassen. Deinetwegen starb jemand, der mir sehr nahe stand!“

„Kitayscha … Ich weiß.“

Thorn war überrascht, al er in Liams Augen ehrliches Mitleid erkannte.

„Ich habe sie nicht getötet, Thorn. Aber was ich getan habe, bereue ich dennoch. Das musst du mir glauben. Nur vergiss nicht, ich diente einer Sache, wie auch du einer dienst, und ich war davon überzeugt, das Richtige zu tun. Auch du hast einer vermeintlich guten Sache wegen Menschen getötet. Auch durch dein Schwert starben Leute, um die jemand trauert.“

Thorn schwieg. Er wusste, dass Liam die Wahrheit sprach, aber ihm fehlte die Kraft, sich damit auseinanderzusetzen. Noch immer spürte er diesen unbändigen Zorn, der ihn dazu verführen wollte, der Sache ein rasches Ende zu bereiten.

„Gib mir einen Augenblick, um es dir zu erklären“, bat Liam leise.

„Dann sprich, aber mach schnell! Es juckt mich nämlich unbändig, dir den Hals umzudrehen.“

Liam nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Becher und fixierte Thorn mit seinem Blick.

„Ich war ein Sklave, Thorn. Ich glaube, du hast keine Ahnung, was das bedeutet. Es bedeutet, kein eigenes Leben zu haben. Unfreiheit, die durch alle deine Poren dringt, bis hin zum völligen Zerfall deiner Identität …“ Liam fuhr sich müde über die Augen. „Cartius zeigte mir einen Weg hinaus aus dieser Sackgasse. Als wir die Minen unter unsere Kontrolle brachten, gab es keinen unter uns Sklaven, der nicht hinter ihm stand. Er war unser Retter, verstehst du?“

„Und wurde zu meinem Verderben“, konterte Thorn unbeeindruckt.

„Versetz dich in meine Lage. Ich verschwendete keinen Gedanken an unsere Feinde, zu denen auch du gehörtest. Wieso sollte ich?“ Liam lehnte sich zurück und gab Thorn Zeit, seine Worte wirken zu lassen.

„Es kam anders, als ich erwartet hatte“, fuhr er schließlich fort und Thorn spürte, wie die Trauer, die in seiner Stimme mitschwang, einen Weg unter seine Haut fand. „Ich wechselte als Spion ins Lager der valianischen Truppen und lernte dich und Kit kennen. Und da unterlief mir ein Fehler, der einem Spion nie passieren darf. Während der Zeit der Belagerung begann ich, euch beide zu respektieren, mehr noch, ich schätzte eure Nähe. Mir wurde klar, dass der Kampf für ein bestimmtes, erstrebenswertes Ideal nicht alles rechtfertigt. Das hast du mir beigebracht, Thorn. Wir haben oft darüber gesprochen. Du sagtest: Wenn wir nicht lernen, eine Situation stets neu zu hinterfragen, können wir zu einem Handlanger des Chaos werden, ohne es zu bemerken. Erinnerst du dich?“

Thorn nickte zögernd.

„Ich habe lange darüber nachgedacht. Mir wurde klar, dass ich mich noch nie so frei gefühlt habe wie während der Zeit der Belagerung. Ich war kein Sklave mehr und wurde aufgrund meiner Tarnung zu einem der euren. Unter Cartius war ich frei und doch war ich einer, der für seine Pläne über Leichen gehen musste. Ich geriet von einer Versklavung in die nächste. Cartius’ Freiheitskampf zwang mich dazu, meine Überzeugungen zu verraten.“ Liam atmete tief durch. „Trotzdem, ich zog die Sache durch – mit dem Resultat, dass jemand über die Klinge sprang, der mir lieb und teuer war. Damit änderte sich alles.“

Thorn spürte, wie die Kälte aus seinem Körper wich und tiefer Trauer Platz machte. Liam hatte recht. Er hatte Kitayscha weder getötet, noch den Befehl dazu gegeben. Wenn jemand für Kits Tod bezahlen musste, dann Cartius selbst. Liam war lediglich ein Opfer der Umstände. So wie er selbst. Was aber sollte er nun mit diesem Wissen tun? Es änderte nichts an seinen Gefühlen. Und es änderte nichts daran, dass diese Gerechtigkeit forderten.

Liam griff nach seinem Becher und nahm einen weiteren kräftigen Schluck. Er wirkte weder nervös noch angespannt. Offenbar hatte er sich damit abgefunden, dass es nicht mehr in seiner Hand lag, was nun, da er seine Identität preisgegeben hatte, mit ihm geschah.

„Thorn“, sagte er leise. „Ich weiß, was ich getan habe. Ich weiß, was du meinetwegen durchgemacht hast. Ich kannte Kitayscha und ich weiß von deinen Gefühlen für sie. Aber ich bin hier. Ich setze mich der Gefahr aus, von dir getötet zu werden. Fragst du dich nicht, warum?“

Thorn blickte Liam in die Augen und schwieg. Sein Zorn auf den ehemaligen Sklaven war noch immer nicht ganz verraucht, doch wahrscheinlich war er ungerechtfertigt. Jedenfalls hatte es der ehemalige Sklave mit seiner entwaffnenden Offenheit geschafft, dass er den Dolch wieder wegsteckte. Zumindest fürs erste.

„Lass uns etwas essen“, seufzte Thorn. In seinem Magen hatte sich ein hämmerndes Gefühl der Leere breitgemacht.

Liam schien verblüfft. „Essen ist gut!“, lächelte er. „Mann, gerade noch hatte ich Angst um mein Leben und nun bietest du mir an, mit dir zu speisen. Du steckst voller Überraschungen, Thorn, das muss man dir lassen.“

Der Abend wurde lang. Während sich beide hingebungsvoll der Fischsuppe widmeten, für die die Taverne zum Gladiator berühmt war, erzählte Liam, dass er Thorn und Rosmerta vom Emlin-Tal aus gefolgt war. So sehr er anfangs auch von Cartius’ Freiheitskampf überzeugt gewesen sei, die Art und Weise, wie er ihn führte, hätte ihm immer deutlicher missfallen. Cartius hatte keinerlei Erbarmen mit denen, die im Zuge der Kämpfe in seine Gefangenschaft gerieten. Er ließ die valianischen Legionäre, ja sogar die Zivilisten, die seinen Leuten in die Quere kamen, für alles bezahlen, was er, wie er nicht zu betonen müde wurde, unter dem Joch der Valiani selbst erlitten hatte. Er machte seine Gefangenen zu Sklaven oder tötete sie, ohne Gnade zu zeigen. Seine Argumente dafür waren einfach: Gerechtigkeit. Was ihr den Sklaven angetan habt, wird nun euch zuteilwerden.

Liam wollte nicht länger ein Mordwerkzeug auf Cartius’ Rachefeldzug sein und so folgte er Thorn und Rosmerta nach Valianor.

Doch an seiner wiedergewonnenen Freiheit wollte er festhalten. Darum plante er, sich mit seinem Wissen über Cartius freizukaufen.

Thorn hörte Liam aufmerksam zu. Er war sich nicht sicher, was er davon halten sollte. Liams Kritik an Cartius’ Vorgehen gefiel ihm. Davon abgesehen bewunderte er den Mut, mit dem sich Liam seiner eigenen Sache entgegenstellte. Aber da war noch etwas anderes, das ihn versöhnlich stimmte, ohne dass er etwas dagegen tun konnte: Liam war der einzige „Freund“, der ihm von den Ereignissen im Emlin-Tal geblieben war, der einzige, den er noch hatte. Und alles in ihm sträubte sich dagegen, auch diesen zu verlieren.

Dass Liam bereit war, seine Fehler wiedergutzumachen, imponierte ihm. Und es ließ sich auch nicht unter den Tisch kehren, dass ihm der ehemalige Sklave bei seinen eigenen Plänen behilflich sein könnte.

„Ein zweifacher Verrat also“, meinte Thorn nichtsdestotrotz. „Du hast dir ganz schön was vorgenommen.“

„Das Leben schreibt manchmal bizarre Geschichten.“

Thorn lächelte schwach.

„Wie dem auch sei“, sagte er. „Ich bin für deine Absichten der Falsche. Da bist du bei Rosmerta besser aufgehoben. Sie hat jetzt das Kommando über die Truppen.“

Liam schob die leere Schüssel von sich und fuhr sich mit dem Ärmel über den Mund.

„Mag sein, mag sein“, sagte er. „Es würde aber schon reichen, wenn du bei Testaceus ein gutes Wort für mich einlegst.“

„Warum sollte ich das tun?“

„Weil du mir bereits vergeben hast. Was hindert dich dann daran, mich zu unterstützen? Du würdest damit die Sache deines Senatsvorsitzenden vorantreiben. Ich dachte, du wärst trotz allem sein Freund … und Cartius dein Feind.“

Thorn musterte Liam. Er war bestechend sympathisch. Das war es, was ihn von Anfang an Vertrauen zu ihm hatte fassen lassen.

„Man hat dich dazu verurteilt, in den Minen des Emlin-Tals deine Schuld zu verbüßen. Eine Strafe, die nur bei schwersten Verbrechen verhängt wird. Was hast du getan, Liam?“

„Ich habe einen Senator ermordet“, antwortete er emotionslos.

Thorn gab sich unbeteiligt, was Liam leicht aus der Fassung zu bringen schien.

„Willst du nicht wissen, wie es dazu kam?“, fragte er irritiert.

„Nein.“

„Meinetwegen, dann lass uns zurück zum Punkt kommen.“

Thorn nickte und kramte einen Lederbeutel hervor.

„Ich werde dich dem Senatsvorsitzenden vorstellen. Was du dann daraus machst, ist dir überlassen.“

Er legte fünf Goldstücke auf den Tisch und sah Liam an.

„Eines aber würde ich gerne noch wissen. Was ist an den Gerüchten über Cartius dran?“

Liam grinste.

„Keine Ahnung, Mann. Aber wenn du mich fragst, stinkt das Ganze gewaltig nach Intrige. Ich meine, er war Zenturio und verdammt reich und angesehen. Wer setzt das alles so leichtfertig aufs Spiel? Seine Familie … Frau und Kinder wurden versklavt. Sein gesamter Besitz aufgelöst. Er selbst wurde in die Minen geschickt.“

„Ein politischer Schachzug?“

„Möglich.“

„Und warum?“

„Tja, mein Freund, vielleicht wollte man jemandem schaden, der dem Senat ein Dorn im Auge war. Vielleicht seinem Mäzen Savinius. Immerhin hat man nach Cartius’ Verhaftung nichts mehr von ihm gehört. Ich jedenfalls hege starke Zweifel an den Gerüchten um Cartius. Ich bezweifle, dass er den Senat stürmen wollte, um sich selbst zum Diktator zu ernennen. Ich meine, mal ehrlich, der Mann ist nicht dämlich! Nur: Wissen tut das keiner so genau.“

„Aber genau das behaupten die Leute. Sie reden davon, dass er größenwahnsinnig geworden wäre und die Macht über das Imperium an sich reißen wollte.“

„Mag sein und vielleicht haben sie recht. Aber auf mich wirkte Cartius alles andere als verrückt. Und was sollte er damit gewonnen haben, wo er doch schon alles hatte? Klar, ein Imperium als alleiniger Herrscher zu regieren, ist schon ein verführerischer Gedanke, aber ein solches Risiko einzugehen, bei derart geringen Aussichten auf Erfolg! Ich weiß nicht …“

Die Tür zur Taverne ging auf und Thorn schärfte seinen Blick.

Im Türrahmen stand eine Frau in dunkler Kleidung. Sie war ohne männliche Begleitung, was an und für sich schon ungewöhnlich war, aber das war es nicht, was Thorns Interesse weckte. Die Frau fiel eindeutig aus der Rolle. Sie hatte pechschwarzes, wirres Haar, das ihr knapp bis über das Kinn fiel. Ihre Augen waren so schwarz wie ihre Haare. Unter einem Mantel, der ihr fast bis an die Knöchel reichte, trug sie eine dunkelbraune Lederhose und ein schwarzes Hemd, das locker über ihre Hüften fiel und von einem breiten Gürtel gestrafft wurde.

Aber es war nicht ihre Aufmachung, die Thorns und Liams Aufmerksamkeit und die der anderen Gäste auf sich zog, es waren ihre Statur und ihr Gesicht.

Die Frau war schön. Ihre Gesichtszüge waren von einzigartiger Klarheit und seltener Prägnanz. Die blasse Haut war bar jeden Makels und ihre wachen, dunklen Augen waren von seltsamer Eindringlichkeit. Ihre Statur hingegen hatte nichts von der Zartheit anderer attraktiver Frauen. Sie war athletisch, ja muskulös wie die eines Mannes, was sich deutlich zeigte, als sie ihren Mantel von den Schultern zog und über den Kleiderständer neben der Tür warf. Und trotzdem war ihr Körper weiblich genug, um ihrem wohlgestalteten Gesicht in nichts nachzustehen.

Die Fremde war offensichtlich alles andere als wehrlos, wie die beiden Dolchscheiden an ihrem Gürtel und die Selbstsicherheit, mit der sie den taxierenden Blicken der Leute begegnete, bezeugten.

Ohne Zögern steuerte sie auf die Theke zu.

„Junge, Junge“, entfuhr es Liam anerkennend. „Die würd’ ich auch nicht von der Bettkante stoßen.“

Thorn lächelte.

„Ich weiß nicht. Wenn es die Kraft einer Frau vermag, mir Angst einzujagen, lass’ ich lieber die Finger von ihr. Welcher Mann will schon den Kürzeren ziehen, wenn er mit seinem Weib in einen Streit gerät.“

„Vielleicht ist sie nicht so stark, wie sie aussieht.“

Thorn warf Liam einen zweifelnden Blick zu.

„Ich glaube zwar nicht, dass sie uns überwältigen könnte, aber allein die Möglichkeit reicht mir schon, um ihre Gesellschaft zu meiden.“

Die Fremde stützte den Unterarm auf die Theke und winkte den Wirt heran, der sich sichtbar nervös auf den Weg machte und sie willkommen hieß.

Unbeteiligt legte die Frau ein Silberstück auf die Theke und ließ ihre Augen über das Regal mit den Spirituosen wandern.

„Ob sie sich besäuft?“, fragte Liam. Offensichtlich gefiel ihm der Gedanke.

Thorn schüttelte grinsend den Kopf.

„Keine Ahnung. Ist mir, ehrlich gesagt, auch egal. Es ist nämlich Zeit für mich zu gehen.“

Er stand auf und warf sich den Mantel über.

„Du bist im Übrigen eingeladen.“

Liam grinste.

„Dein Edelmut kennt keine Grenzen.“

Auch Liam stand auf und warf sich seinen Rucksack über die Schultern.

„Sag mal, hättest du etwas dagegen, wenn ich bei dir nächtige? Mein Geld reicht nicht mal für eine Bleibe bei den Schweinen im Stall, geschweige denn für ein Zimmer.“

Thorn runzelte die Stirn.

„Ich nehme an, das hier hättest du auch nicht bezahlen können.“

Er deutete auf den Tisch, wo Liams leerer Teller und mehrere Becher standen.

Liam lächelte entschuldigend.

„Du hast es erfasst.“

„Für einen Verräter bist du ziemlich frech“, fand Thorn.

„Und für jemanden, der verraten wurde, bist du ziemlich großzügig.“

Thorn musste lächeln.

„Ja, das ist eine meiner größten Schwächen.“

Als er Liam die Tür aufhielt, warf er einen letzten Blick zurück zur Theke.

Die Frau lehnte entspannt am Tresen, in ihrer Rechten hielt sie einen Becher. Bevor er wegsehen konnte, traf ihn ihr Blick und Thorn fühlte, wie sich sein Pulsschlag merklich beschleunigte. Doch dann wanderten ihre Augen weiter durch den Gastraum und der Bann war gebrochen.

Mit leisem Unbehagen folgte Thorn Liam durch die Tür nach draußen.

In den Straßen Valianors herrschte Totenstille. Selbst um diese Zeit war das eigenartig. Thorn lief schweigend neben Liam her, der ehrfürchtig die gewaltigen Säulen des Gryphostempels betrachtete. Das mächtige Gebäude ragte am Rand der breiten Straße empor, die die Hauptschlagader Valianors bildete.

Schon von Weitem zog der atemberaubend schöne Tempel die Blicke auf sich. Die breiten weißen Marmortreppen endeten in einer säulenumrankten Vorhalle und waren von zwei hohen Sockeln flankiert, auf denen jeweils ein aus schwarzem, glatt geschliffenem Basalt gehauener Greif thronte, der mit kalten scharfen Augen auf die Passanten herunterstarrte. Der von Säulen zur Gänze umrahmte Vorbau, der quer zum Hauptgebäude verlief, war von solch enormen Ausmaßen, dass er eher einem Platz, denn einem Gebäudeteil glich. Zwischen den Säulen standen riesige Marmorbecken, bis zum Rand mit klarem Wasser gefüllt, in welchen sich das Licht der unzähligen Fackeln spiegelte, die den Säulengang säumten. Der Tempel war der Stolz ganz Valianors. Er war der Sitz des höchsten aller Götter des Imperiums und dieser stellte aus Sicht eines Valiani alle fremden Götter in den Schatten.

Das Gebäude war so sauber wie alle öffentlichen Bauten in Valianor. Alle zentralen Plätze und Straßen waren gepflegt und von bestechender Symmetrie, doch Thorn wusste, dass der schöne Schein trog.

„Hast du keine Familie hier?“, fragte Thorn.

„Ich war nie verheiratet, falls du das meinst. Meine Eltern leben nicht mehr und ich schätze, die Frauen, die ich irgendwann einmal hatte, wollen heute nichts mehr von mir wissen.“

Thorn nickte stumm und bog in die Via Aquae Gryphus ein, die einem der vier Aquädukte Valianors folgte.

„Wie steht’s mit dir?“, fragte Liam. „Wirst du dich wieder nach Frauen umsehen?“

Thorn antwortete nicht. Er mied Liams Blick und konzentrierte sich auf die Straße.

„Du willst nicht darüber sprechen“, stellte Liam fest.

Thorn schüttelte den Kopf. Also wechselte Liam das Thema.

„Wie weit ist es noch?“, fragte er, während er an der Häuserfront entlangblickte.

Sie waren in einer an mehrstöckigen Häusern entlangführenden schmalen Seitenstraße angelangt, deren nüchterner Baustil sich von dem des Villenviertels am anderen Ende der Stadt deutlich unterschied.

Thorn nickte zu einem kleineren, aber sehr gepflegten Gebäude hinüber, das zwischen zwei wuchtigen Häusern mit vorspringendem Säulengang zwar schmächtig, aber dafür umso einladender wirkte.

„Seit wann bezieht ein Waldläufer eigentlich einen festen Wohnsitz in der Stadt?“, fragte Liam und inspizierte den kleinen Vorgarten.

Vor einem der Fenster wuchs ein Olivenbaum und beanspruchte mit seinen ausladenden Zweigen beinahe den gesamten Garten.

„Das Haus verdanke ich einem glücklichen Händchen beim Würfeln“, antwortete Thorn trocken.

Liam grinste. „Und welcher arme Spieler sitzt nun auf der Straße?“

„Seinen Namen kenne ich nicht, aber er teilt sich mittlerweile einen hübschen, kleinen Abschnitt unter einem Brückenpfeiler mit anderen Obdachlosen.“

Er warf Liam einen Seitenblick zu.

„Scherz beiseite: Ich glaube, er konnte es sich leisten, eines seiner Häuser zu verlieren.“

Die Tür ging auf und eine Sklavin eilte auf Thorn zu.

„Meine Güte, Herr, wie schön, dass Ihr wohlbehalten zurück seid! Wir haben uns unglaubliche Sorgen um Euch gemacht!“

Liams Grinsen war wie weggewischt. Er blickte Thorn anklagend an.

„Krieg dich wieder ein. Ich bezahle meine Sklaven. Natürlich weiß niemand davon, sonst würde man mit dem Finger auf mich zeigen und das passiert ohnehin öfter, als mir lieb ist.“

„Und du, meine Liebe, nenn mich endlich bei meinem Namen“, sagte Thorn in gespielt strengem Tonfall.

Verlegen nickte die Frau, zog dann aber ein besorgtes Gesicht.

„Was ist mit Eurer Gefährtin, Herr? Kitayscha … Ist sie nicht mit Euch gekommen?“

Als sich Thorns Ausdruck verfinsterte, zögerte sie. Schließlich legte sie Thorn beruhigend die Hand auf den Oberarm. „Es tut mir sehr leid. Sie war eine beeindruckende Frau.“

Damit nickte sie Liam kurz zu und eilte geschäftig hinter Thorn und dem ehemaligen Sklaven ins Haus.

Es dämmerte bereits, als Savinia für Liam ein kleines Zimmer herrichtete, das neben Thorns Zimmer lag. Liam fiel sofort ins Bett und realisierte nur noch am Rande, dass ihm die Sklavin mit dem hübschen roten Kleid und den kunstvoll zu einem Knoten zusammengesteckten Haaren gefiel. Einen Lidschlag später war er eingeschlafen.

Thorn starrte ein Zimmer weiter mit offenen Augen an die Decke. In jedem Winkel des Hauses hingen Erinnerungen an Kitayscha. Dieses Zimmer hatte er mit ihr geteilt, bevor sie ins Emlin-Tal aufgebrochen waren. Der Schmerz über ihren Tod lag wie ein Alb auf seinem Herzen.

Warum nur waren sie Testaceus’ Anweisungen gefolgt?

Am nächsten Morgen, eigentlich war es schon Mittag, trottete Thorn verschlafen in die Küche, wo neben dem Feuer ein Waschzuber für ihn bereitstand. Obgleich es in Valianor mehr als unüblich war, sich in der Küche aufzuhalten, hatte Thorn darauf bestanden, sich nach albischen Sitten in seinem Haus einzurichten, und so war die Küche zum zentralen Raum geworden. Sie war zwar nicht groß, aber Thorn hatte einen massiven, eichenen Tisch und vier Stühle untergebracht.

Liam war noch nicht erschienen, als Thorn in den hölzernen Waschzuber stieg, der neben dem Kamin auf ihn wartete. Während er sich seinen Bart mit dem Messer entfernte und sich von oben bis unten abschrubbte, deckte Savinia den Tisch mit allerlei Leckereien. Mittlerweile wusste sie um Thorns Vorliebe für die albische Küche und achtete penibel darauf, nur das auf den Tisch zu bringen, was er besonders schätzte.

Nun standen ein Krug mit Ziegenmilch, zwei Becher mit dampfendem Tee und ein Brett, auf dem fünf dicke Scheiben Brot sowie Wurst und Käse lagen, auf dem Tisch.

Als Thorn seine Leinentunika überwarf und sich gerade setzen wollte, betrat Liam laut gähnend die Küche und musterte mit sehnsüchtigem Blick die Wanne auf dem Steinboden. Seine Haut hatte vermutlich schon mehrere Trideaden kein Wasser mehr gesehen.

„Nur zu!“, nickte Thorn ihm auffordernd zu. „Was mein ist, ist auch dein! Ich hoffe, es stört dich nicht, dass du mit meinem Dreckwasser vorliebnehmen musst.“

„Dem Hausherrn, was des Hausherrn ist“, murmelte Liam dankbar und entledigte sich seiner Kleider. Savinia schlug befangen die Augen nieder und wandte sich ab, während Liam sich mit einem genussvollen Seufzen ins Wasser gleiten ließ.

Nachdem Liam mit seinem Bad fertig war und sich abgetrocknet hatte, gesellte er sich zu Thorn an den Tisch.

Eine Weile saßen sie sich schweigend gegenüber und verloren sich in dem seltenen Genuss eines liebevoll zubereiteten Frühstücks. Es war das erste Mal seit Langem, dass Thorn einen Gast hatte, und es war ewig her, dass er die Gesellschaft als angenehm empfand. Es war, als hätte es zwischen dem ehemaligen Sklaven und ihm nie einen Konflikt gegeben.

Thorn konnte es nicht leugnen: Die Gesellschaft gefiel ihm.

Liam sorgte dafür, dass er sich gut fühlte – damals wie heute. Es blieb dabei. Er würde Liam bei seinen Plänen unterstützen. Immerhin war Thorn nicht hinter ihm, sondern hinter Cartius her.

Es war später Nachmittag, als ein Bote des Senatsvorsitzenden auftauchte. Savinia war gerade dabei, das Abendessen vorzubereiten, und hätte beinahe die Schüssel mit dem gewaschenen Gemüse durch die Küche geschleudert, als sie mit übertriebenem Eifer Richtung Tür stürmte.

Liam, der in unmittelbarer Nähe stand, fing das gute Stück geschickt auf und stellte es lächelnd wieder auf den Tisch. Ein freudig erregtes Danke! von Savinia war es allemal wert, sich bei einer so plötzlichen Bewegung die Schulter zu verreißen.

„Ave Valian!“, begrüßte ein junger Mann im Leinengewand mit roter Schärpe und sauber rasiertem Gesicht Savinia, als sie die Tür öffnete. „Bring dies zu deinem Herrn! Es ist eine Nachricht vom Senatsvorsitzenden Antonius Virgil Testaceus!“

Savinia beeilte sich, das Schriftstück zu Thorn in die Küche zu bringen, wo Liam immer noch lässig am Tisch lehnte und jeden ihrer Handgriffe beobachtete, nachdem sie ihre Arbeit wieder aufgenommen hatte.

Thorn setzte sich und las laut vor:

Lieber Thorn, der Senat hat entschieden. Ich erwarte dich morgen am späten Nachmittag im Besprechungsraum meiner Villa. Testaceus.

„Das ist deine Gelegenheit, Liam“, begann er nach einer kurzen Pause. „Bist du bereit dafür?“

„Aber sicher doch!“, grinste Liam und ließ sich in den Stuhl gegenüber fallen. Dann beugte er sich über den Tisch und dämpfte seine Stimme zu einem geheimnisvollen Flüstern. „Was denkst du über den Verrückten, der gestern im Gladiator für Stimmung gesorgt hat?“

Thorn runzelte fragend die Stirn.

„Wen meinst du?“

„Ich glaube, sein Name war Farach.“

Schulterzuckend griff Thorn nach der Ziegenmilch, die Savinia auf den Tisch stellte.

„Keine Ahnung, was ich von seinem Gerede halten soll. Ich weiß nur, dass es in Aschran jemanden gibt, der dem Senat zu schaffen macht. Als ich das letzte Mal bei Testaceus war, sprach er jedenfalls von einer Bedrohung aus dem Süden.“

Der Alte! Der Alte vom Berg!“, flüsterte Liam mit unheilschwangerer Stimme und imitierte den Betrunkenen so gekonnt, dass Thorn laut auflachte.

„Genau der!“, grinste Thorn. „Aber ob alt oder nicht, er schafft es jedenfalls das Oberhaupt des Valianischen Imperiums in Angst und Schrecken zu versetzen.“

Liam schlürfte geräuschvoll seine Milch aus dem hölzernen Becher und grinste.

„Der Senatsvorsitzende wäre sicher hocherfreut, wenn wir ihm Farach, den Händler, als Berater in Sachen Bedrohung aus dem Süden empfehlen würden. Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie der hässliche Knilch an einer gedeckten Tafel in Testaceus’ Villa lungert und grunzend von den Machenschaften eines schwarzen Magiers berichtet, während ihm der Sabber vom Kinn tropft.“

Thorn nickte schweigend. Der Auftritt des Südländers war ihm trotzdem nicht geheuer gewesen und irgendetwas sagte ihm, dass mehr an seinem Vortrag dran war, als es zunächst den Anschein hatte.

Als Thorn und Liam am nächsten Tag in den Besprechungsraum des Senatsvorsitzenden geführt wurden, fühlte sich Thorn plötzlich unbehaglich. Und als er nach Testaceus Ausschau hielt, registrierte er aus dem Augenwinkel, wie jemand durch einen weiteren Eingang zu seiner Linken verschwand. Er erhaschte gerade noch den schwarzen Saum einer samtigen Robe, bevor sich die Tür schloss.

Thorns Blick verfinsterte sich. Das beklemmende Gefühl in seiner Brust war wie ein Mahnmal, das zu ignorieren unklug gewesen wäre. Sein Instinkt ließ ihn selten im Stich. Aber bevor er sich weitere Gedanken darüber machen konnte, steuerte Testaceus breit lächelnd an Pentorius’ Büste vorbei auf ihn zu.

„Ave Valian!“, begrüßte er Thorn und schüttelte beherzt seine Hand.

Als sein Blick auf Liam fiel, der etwas unbeholfen im Hintergrund stand, zog Testaceus seine Hand zurück.

„Mit wem habe ich hier noch die Ehre?“, fragte er, ohne sein Missfallen über einen weiteren, noch dazu unangekündigten Besucher zu verhehlen.

Bevor Liam antworten konnte, tat es Thorn für ihn.

„Das ist Liam O’Neill“, gab er bekannt, ohne auf Testaceus’ Irritation einzugehen. „Ich habe ihn dir gegenüber bereits erwähnt.“

Testaceus’ Augenbrauen hoben sich in sichtbarem Erstaunen. Er musterte Liam von Kopf bis Fuß, bis er sich gefasst zu Thorn umdrehte.

„Nun, ich nehme an, du hast einen guten Grund dafür, dass er dich begleitet, als wäre er ein Freund und kein Verräter.“

„Das habe ich tatsächlich.“

„Allerdings“, fuhr Testaceus fort, ohne Thorns Antwort überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, „muss ich dich korrigieren. Du hast O’Neill nicht mir, sondern dem Senat gegenüber erwähnt. Das ist ein feiner Unterschied.“

Der Vorwurf war zu erwarten gewesen und ließ Thorn unbeeindruckt.

„Aber ich denke, du warst zu sehr damit beschäftigt, deine zweifellos aufreibenden Erinnerungen an die Schlacht zu verarbeiten. Und darum will ich dir die kleine Nachlässigkeit verzeihen, den Verräter unerwähnt gelassen zu haben.“

„Sein Name ist Liam“, setzte Thorn neu an.

Testaceus schwieg und wies stattdessen auf die leeren Stühle um den großen Tisch herum.

„Was hat es mit dem Sklaven auf sich?“, kam Testaceus unumwunden zum Thema, nachdem sie sich gesetzt hatten. „Ich hoffe, seine Anwesenheit ist nicht auf deine Neigung zurückzuführen, an das Gute im Menschen zu glauben, Thorn.“

„Nicht ganz.“

Thorn bedachte Testaceus mit einem geringschätzigen Blick, den der Senatsvorsitzende mit leichtem Ärger registrierte.

„Liam …“, Thorn betonte den Namen mehr als nötig und wies mit dem Kinn auf den ehemaligen Sklaven, „… ist mir nach Valianor gefolgt. Wie ich bereits vor dem Senat kundgetan habe, hatte ich so einen Verdacht. Warum er das tat, soll er dir selbst berichten.“

Er wandte sich Liam zu, der sich bislang ruhig verhalten hatte, weil er die valianischen Sitten kannte, zu denen gehörte, in Anwesenheit eines Höhergestellten zu schweigen, bis einem das Wort erteilt wurde. Liam nickte und als Testaceus ihn zum Sprechen anhielt, begann er jene Geschichte auszurollen, die er Thorn im Gladiator erzählt hatte.

Thorns Gedanken schweiften ab. Seine Augen wanderten durch den Raum und blieben an der Tür haften, durch die die Gestalt in dunkler Robe verschwunden war. Vermutlich handelte es sich dabei nur um einen von Testaceus’ Beratern, aber es gefiel ihm nicht, dass dieser bei ihrem Eintreffen so eilig das Weite gesucht hatte. Testaceus’ Verschwiegenheit, sein andauerndes Bemühen, Thorn aus seinen Geschäften rauszuhalten und ihm wesentliche Informationen zu versagen, wäre nachvollziehbar, wäre er nichts weiter als einer von Testaceus’ Handlangern. Thorn hingegen war der Ansicht, dass es sich mittlerweile um eine Freundschaft handelte und einen Freund bezog man ein. Vertrauen gedieh nur dort, wo der Boden keine Geheimnisse barg. Testaceus sah das offensichtlich anders oder er legte ganz einfach keinen Wert auf sein Vertrauen.

„Deine Informationen könnten durchaus hilfreich sein“, räumte Testaceus gerade ein. Offensichtlich war Liam zu einem Ende gekommen. „Aber wirklich nützen würden sie Rosmerta. Sie ist schließlich diejenige, die sich gegen Cartius’ Armee behaupten muss. Inzwischen ist sie zum Isola-Pass aufgebrochen, um ihn dort mit ihrem Heer zu stellen. Ich werde dich zu ihr bringen lassen. Rosmerta soll dann nach eigenem Gutdünken über dich verfügen.“

Thorn stutzte. Demnach hatte Rosmerta in nur zwei Tagen ihr Amt als Kommandantin übernommen. Davon abgesehen ärgerte es ihn, dass Testaceus Liam keinerlei Respekt entgegenbrachte. Aber zumindest war die Sache soweit geklärt, dass sie sich nun anderen Dingen zuwenden konnten. Er wollte endlich die Entscheidung des Senats hören und erfahren, was Testaceus im Fall Cartius noch mit ihm beabsichtigte. Möglicherweise war Liams Auftauchen in dieser Angelegenheit eine glückliche Fügung. Irgendjemand musste ihn schließlich zu Rosmerta bringen.

„Aber vorher wirst du mir alles mitteilen, was du über Cartius weißt“, verlangte Testaceus und unterbrach damit Thorns Gedanken.

„Und wer garantiert mir, dass Rosmerta mich nicht liquidieren lässt, nachdem ich Euch alles verraten habe? Wenn Ihr vorher schon alles wisst, habe ich keinerlei Absicherung.“

„Mit Verrätern verhandle ich nicht“, antwortete Testaceus gleichgültig. „Entweder du richtest dich nach mir oder ich lasse dich hier und jetzt festnehmen.“

Liam schwieg, aber Thorn konnte förmlich spüren, wie sich in seinem Kopf die Gedanken überschlugen. Er hätte es verhindern können, dass Liam in diese unangenehme Lage geriet. Liam hätte sich einfach absetzen können, anstatt sich in die Höhle des Löwen zu begeben. Doch dies hatte der ehemalige Sklave selbst offenbar nie in Betracht gezogen, was Thorn wiederum gefiel.

Thorn rückte sich angespannt im Stuhl zurecht. Irgendetwas hier war nicht so, wie es sein sollte. Irgendetwas in seinem Inneren warnte ihn. Nur wusste er weder, was es war, noch, wovor es ihn warnte.

Liam wollte gerade dazu ansetzen, von Cartius zu erzählen, als sich Testaceus eines Besseren besann: „Warte, ich denke, wir klären das unter vier Augen. Kümmern wir uns zunächst um die wirklich wichtigen Punkte.“

Liam sah überrascht auf, schwieg aber.

„Du bist entlassen, O’Neill“, machte Testaceus deutlich. „Warte draußen, bis ich dich wieder rufen lasse.“

Thorn gab Liam einen beruhigenden Klaps auf die Schulter, als dieser sich erhob.

Nachdem Liam in schweigsamer Ernüchterung den Raum verlassen hatte, berichtete Testaceus in knappen Worten, dass der Senat Thorn und Rosmerta die Flucht aus dem Emlin-Tal nicht weiter vorzuhalten beabsichtigte. Offenbar war man zu dem Schluss gekommen, dass sie angesichts der kritischen Umstände richtig gehandelt hatten, wobei der Senator Clarinius hier sicher anderer Meinung war.

Es war Thorn egal. Für ihn zählte im Augenblick nur eine Sache: Er musste so schnell wie möglich zum Isola-Pass.

„Rosmerta hat mich um zwei den valianischen Legionen nicht angehörige Leibwachen gebeten“, wechselte Testaceus ad hoc das Thema. „Hast du eine Ahnung, weshalb?“

„Ich habe damit aufgehört, über Rosmertas Beweggründe nachzudenken“, antwortete Thorn trocken. „Und im Augenblick interessiert es mich viel mehr zu erfahren, was du weiter für mich geplant hast?“

„Genau darum geht es“, sagte Testaceus. Er stand auf, schritt zur Tür und öffnete sie.

Überrumpelt verfolgte Thorn, wie zwei Fremde den Raum betraten und geradewegs auf die Tafel zusteuerten, so als hätten sie schon eine ganze Weile darauf gewartet, eingelassen zu werden. Einer von ihnen war unverkennbar ein Krieger – ein Vallander, wie Thorn vermutete. Er war zwar nicht besonders groß, aber dafür von beeindruckend breitem Körperbau. Seine Muskeln waren erstaunlich und Thorn konnte sich einen bewundernden Blick nicht verkneifen. Zwar bevorzugte er im Kampf den drahtigeren Typ an seiner Seite, der für gewöhnlich gewandter und schneller war, doch dieser Mann war derart respekteinflößend, dass er einem allein durch seine Erscheinung einen entscheidenden Vorteil im Kampf Mann gegen Mann einbringen würde.

Wie bei den nordischen Barbaren üblich, hatte er rotes Haar, das ihm in langen, struppigen Strähnen über seine Schultern fiel und einen langen, in zwei dicke Zöpfe geflochtenen Bart. Er trug eine schwere Kettenrüstung, schien ihr Gewicht aber kaum wahrzunehmen. Obwohl er auf den ersten Blick äußerst bedrohlich wirkte, konnte Thorn in seinem Gesicht nichts Beunruhigendes entdecken. Ganz im Gegenteil: Seine grauen Augen zwinkerten ihm lustig zu.

Neben ihm und von ähnlich muskulöser Statur, wenn auch etwas schmaler, hatte die zweite Gestalt ihren Kopf leicht gesenkt und die Kapuze ihres schwarzen Mantels tief in ihr Gesicht gezogen, sodass Thorn es nicht sehen konnte. Sie sagte nichts und fühlte sich auch nicht dazu veranlasst, ihn anzusehen. Stattdessen ließ sie sich in den Stuhl gegenüber gleiten. Thorn registrierte, dass ihre Bewegungen von einer Geschmeidigkeit waren, die er ihrer kräftigen Statur nicht zugetraut hätte.

Während der Vallander plump auf den Stuhl zu ihrer Linken fiel, begab sich Testaceus an den Kopf der Tafel zurück.

„Dies sind Bargh Barrowsøn aus Valland und Chara Viola Lukullus.“

Bei diesen Worten zog die Gestalt neben Bargh ihre Kapuze vom Kopf und nickte Thorn zu.

Thorn sog geräuschvoll die Luft ein. Bei der Unbekannten handelte es sich tatsächlich um eine Frau. Aber nicht um irgendeine. Das schöne Gesicht, der athletische Körperbau, die Geschmeidigkeit, mit der sie sich bewegte … Dies alles war ihm bekannt. Und wäre Liam noch hier gewesen, wären ihm jetzt vermutlich dieselben Gedanken durch den Kopf geschossen wie Thorn. War es ein Zufall, dass sie im Gladiator gewesen war und ihm jetzt gegenübersaß? Vermutlich.

Nachdem er den ersten Schreck überwunden hatte, gab er sich so gelassen wie möglich, ohne allerdings verhindern zu können, dass sein Blick interessiert über den unglaublichen Körper der Frau wanderte – von den starken Armen über die breiten Schultern bis hin zu ihren schwarzen Augen, wo er schließlich hängenblieb.

Sie erwiderte seinen Blick, aber ihr Ausdruck war unergründlich. Bargh dagegen beugte sich überraschend über den Tisch, ergriff höchst erfreut Thorns Hand und riss ihn beinahe vom Stuhl, als er sie kräftig schüttelte. Thorn biss die Zähne zusammen, zwang sich aber ein höfliches Lächeln ab.

„Thorn Gandir!“, dröhnte die tiefe Stimme des Barbaren durch den spärlich möblierten Besprechungsraum. „Es ist mir eine Ehre! Besser könnt’ ich’s gar nich’ erwischen, nich’?“

Er grinste den Senatsvorsitzenden euphorisch an und deutete dabei auf Thorn. „Ich meine, einem richtigen Helden unter die Arme zu greifen! Wer hätte das gedacht!“

Testaceus lächelte amüsiert und plötzlich lief es Thorn kalt über den Rücken. Einen winzigen Augenblick hatte er das Gefühl, als wären sie nicht die einzigen Ohrenzeugen im Raum. Irgendjemand hörte mit. Als er aber seinen Blick auf Testaceus heftete, der ein zahmes Lächeln auf den Lippen trug, verlor sich dieses Gefühl. Seine Bedenken entschlossen beiseiteschiebend, griff er nach dem Krug und füllte die Becher der Anwesenden mit Wein.

„Es tut mir leid, Euch enttäuschen zu müssen, Bargh“, sagte Testaceus, „aber Ihr seid nicht zu seinem, sondern zum Schutz der Oberbefehlshaberin Rosmerta hier.“

„Ach so“, murmelte Bargh und sein Gesicht nahm einen enttäuschten Ausdruck an, doch als Testaceus hinzufügte, dass Rosmerta auch Heldin geheißen wurde, hellte sich seine Miene wieder auf und er griff gut gelaunt nach seinem Becher.

„Dies sind also die neuen Leibwachen für Rosmerta“, kam Thorn zum Thema zurück. „Ich bin mir nicht sicher, ob sie deinen Geschmack teilt, Antonius.“

„Nach allem, was ich über die beiden in Erfahrung bringen konnte, sind sie bestens für diese Arbeit geeignet.“

Testaceus faltete seine Hände, wie er es so oft tat, wenn es um etwas ging, das ihm wichtig war.

„Ich brauche jemanden, der Chara und Bargh zum Isola-Pass bringt … Und natürlich unseren kleinen Spitzel“, korrigierte er sich, Thorns forschendem Blick gelassen standhaltend. „Du kennst die Gegend, und, was noch wichtiger ist: Rosmerta vertraut dir. Immerhin wurde sie schon einmal getäuscht.“

Ah ja, wunderbar! Er hatte also richtig vermutet. Testaceus hatte nicht vor, ihn aus der Akte Cartius zu streichen.

Eine plötzliche Ahnung befiel Thorn und rief Rosmertas Gesicht vor sein inneres Auge. Leibwächter, die nicht dem valianischen Militär entstammten? Es gab da in der Tat einen Grund, der Rosmerta zu einer solchen Maßnahme verleiten konnte. Wenn eine Bedrohung von den eigenen Leuten nicht als solche wahrgenommen wurde, brauchte man Schutz aus einem unvoreingenommenen Lager. Fakt war, dass Thorn unter den Legionären ein großes Ansehen hatte. Immerhin war er ein Held des Valianischen Imperiums. Legionäre als Leibwächter waren keine gute Idee, sofern Rosmerta plante …

Thorn unterdrückte ein Lächeln. Rosmerta traf Vorkehrungen, sich vor ihm zu schützen! Hatte sie etwa vor, ihn von seinem Platz innerhalb des valianischen Systems zu verdrängen? Zuzutrauen wär’s ihr.

„Ich werde deinem Wunsch nachkommen, Antonius“, gab er nüchtern seine Antwort. Die Erleichterung, die daraufhin über Testaceus’ Gesicht glitt, blieb ihm nicht verborgen. Ebenso wenig wie der Frau im dunklen Mantel.

Plötzlich spürte Thorn ihren Blick auf sich. Und als er ihn erwiderte, zuckten ihre Augen zu Testaceus weiter. Da war ein unwillkürlich aufkeimendes Interesse, das ihn stutzig machte. Diese Chara war zweifelsohne eine Frau von verwirrender Präsenz. Und das gefiel Thorn ganz und gar nicht. Sie wirkte nicht arrogant, doch machte sie den Eindruck, als würde sie die ganze Sache nichts angehen oder als wäre dieses Gespräch unter ihrer Würde. Ihr Gesicht wirkte teilnahmslos und trotzdem war sich Thorn sicher, dass sie jedes Detail des Gesprächs mitbekam.

Plötzlich sah sie zu ihm zurück und ihr Blick bohrte sich in seinen Kopf. Thorn musste sich abwenden und heftete seine Augen betreten auf Testaceus.

„Du schickst also deine Legionen zum Isola-Pass, um das Sklavenheer dort aufzuhalten“, bemerkte er mehr aus Verlegenheit, denn aus Interesse.

Erleichtert stellte er fest, dass sich die Aufmerksamkeit der Fremden erneut auf Testaceus richtete, der nachdenklich seinen Becher drehte.

„So ist es.“

Thorn lächelte. Natürlich, der Isola-Pass war ein vorteilhafter Engpass, um dem zahlenmäßig überlegenen Sklavenheer Paroli zu bieten. So hatten Cartius’ Männer nicht die Möglichkeit, sich der valianischen Armee mit ihrem gesamten Aufgebot entgegenzustellen. Vielmehr waren sie gezwungen, nach und nach, Reihe um Reihe zu kämpfen, und das bedeutete eine gewaltige Eindämmung ihres Kraftpotentials. Trotzdem würde Cartius nichts anderes übrig bleiben, als seine Leute über diesen Pass zu schicken, denn er war der einzige Weg, der aus dem Nadrus-Tal nach Valianor führte – jedenfalls für ein Heer dieses Ausmaßes.

Testaceus erklärte, dass sich mittlerweile gut drei Viertel der Magiergilde dem valianischen Heer angeschlossen hätten, eine Tatsache, die bisher undenkbar gewesen war. Die Magiergilde Valianors war eine autonome Vereinigung. Sie unterstand niemandem. Ihre Mitglieder hielten sich prinzipiell aus politischen Angelegenheiten heraus. Sie lebten nach eigenen Gesetzen und hatten eigene Probleme zu bewältigen. Die Magier arrangierten sich lediglich mit der valianischen Justiz, der sie wohlwollend gegenüberstanden. Darum war Thorn über diese Neuigkeit mehr als überrascht. Selbst Chara, wenn er ihren Namen richtig verstanden hatte, hob verwundert eine Augenbraue.

„Und wie viele Soldaten hat der Senat zum Isola-Pass geschickt?“, wollte Thorn wissen.

Bargh, der schon seinen vierten Becher geleert hatte, mischte sich neugierig ein: „Genau, wie viele hast du, Verzeihung, habt Ihr denn nu’ geschickt?“

Thorn unterdrückte ein Grinsen und nahm hastig einen Schluck, während Testaceus ihm lächelnd zuzwinkerte. Er ignorierte die Geste.

„Sechs Kohorten der 23. Legion unter Zenturio Gambini“, antwortete Testaceus schließlich. „Darunter eine Kohorte Bogenschützen. Und die 2.400 Magier, wobei der Hohe Rat der Gilde fast vollzählig angetreten ist und mit ihnen der Gildenmeister Albontius.“

Wieder hob sich eine von Charas spitzen Augenbrauen. Ganz offensichtlich war der Leibwächterin klar, dass die Beteiligung eines Gildenmeisters an einem politischen Krieg der Valiani eine noch nie dagewesene Ausnahme darstellte.

Bargh, der anscheinend jedes Detail des Gesprächs mitbekommen wollte, beugte sich jetzt so weit über den Tisch, dass er Chara den Blick auf den Senatsvorsitzenden nahm.

Sie rührte sich keinen Deut.

„Ich möchte dir ja nicht die Laune verderben, aber hättest du etwas dagegen, dich nicht noch breiter zu machen, als du ohnehin schon bist?“, bemerkte sie trocken.

Thorn fiel auf, dass sie eine ungewöhnliche Stimme hatte – heiser und ziemlich tief für eine Frau.

Bargh fiel schwerfällig auf seinen Stuhl zurück und tätschelte zähnebleckend Charas Arm.

„Wisst ihr“, wandte er sich breit lächelnd an die anderen, „meine Begleiterin hier hat was gegen Leute, die sich gelegentlich amüsieren wollen. Aber ich bin mir sicher, sie wird auch noch auf ihre Kosten kommen.“

„Das will ich doch hoffen“, murmelte Thorn und prostete Bargh zu. Er spürte Charas Blick auf sich, lenkte sein Augenmerk aber nichtsdestotrotz auf Testaceus.

„Wie Liam sagte, besteht das Sklavenheer aus etwa 300.000 Mann. Dreihunderttausend! Warum schickt der Senat nicht ein größeres Aufgebot? Denkst du etwa, diese sechs Kohorten einschließlich Bogenschützen reichen, auch wenn sie von den Magiern unterstützt werden?“

Testaceus funkelte Thorn zornig an.

„Ich habe dir bereits erklärt“, antwortete er gedämpft, „dass wir nicht noch mehr Soldaten aufbringen können. Ich sagte es dir bewusst unter vier Augen, wenn du dich erinnerst. Unsere Strategie ist an der geringen Zahl der Soldaten ausgerichtet. Davon abgesehen hat sich erneut ein altes Problem aufgetan. Du erinnerst dich sicher an Admiral Herkul Polonius Schroeder …“

Thorn horchte auf. „Dieser Wahnsinnige von einem Piraten, der dachte, er könne mit nur einem Schiff die Befreiung deines entführten Neffen vereiteln?“

„Es wäre ihm ohne Weiteres gelungen, hätte nicht ein Teil meiner Flotte eingegriffen und euch den Rücken gedeckt“, gab Testaceus zu bedenken. „Und ja, genau der. Er setzt derzeit den valianischen Handelsschiffen böse zu. Seine Piratenflotte kreuzt wieder vor Valianor. Der Senat muss sich jedenfalls dieser Sache annehmen. Du siehst also, wir haben keine Möglichkeit, ein größeres Heer gegen Cartius aufmarschieren zu lassen. Außerdem vertraue ich auf Rosmertas Fähigkeiten“, setzte Testaceus ihren Namen provokativ ins Zentrum der Diskussion und Thorn musste an sich halten, um keine ironische Bemerkung zu machen. Gleichzeitig versuchte er das Stechen in seiner Brust zu unterdrücken, das bei der Erwähnung seines damaligen Auftrags eingesetzt hatte. Mit der Befreiung des Neffen hatte seine Beziehung mit Kit zu bröckeln begonnen.

„Nun, Thorn, sind jetzt alle Unklarheiten beseitigt?“

„Natürlich.“

Thorn konnte die Ironie nicht länger aus seiner Stimme halten. Testaceus hatte das heikle Thema beendet, noch bevor er weiter nachbohren konnte. Keine weiteren Informationen – alles wie gehabt.

„Ich werde Chara und Bargh also zu Rosmerta bringen, um am Isola-Pass … was genau zu tun?“

Testaceus antworte nicht gleich und Thorn hatte den Eindruck, er wog seine Antwort genauestens und in stiller Vorsicht ab.

Wieder spürte er Charas Blick auf sich und erneut stellte er fest, dass ihn diese Tatsache verunsicherte.

„Es ist deine Entscheidung, ob du dich an der Schlacht gegen den Sklavenführer beteiligst oder nicht, Thorn“, sagte Testaceus schließlich. „Vielleicht betrachtest du dies als eine Gelegenheit, dich für Kitayschas Tod zu rächen … vielleicht auch nicht.“

Das Schulterzucken, das er ans Ende seiner Worte setzte, war wie ein Affront gegen alles, was für Thorn noch Bedeutung hatte. Testaceus hatte seine Worte äußerst wirksam eingesetzt. Ehre, wem Ehre gebührt! Genau damit, das wusste Testaceus, konnte er ihn ködern.

Thorn stand auf.

„Dann hat sich hier für mich alles geklärt. Du entschuldigst mich, Antonius?“

„Natürlich.“

„Wir brechen bei Morgengrauen auf“, wandte er sich Bargh und Chara zu.

Beide nickten schweigend und Thorn beeilte sich, aus dem Besprechungsraum zu kommen.

Als er die Tür hinter sich zugezogen hatte, kamen ihm erneut Charas Augen in den Sinn. Wie würde es sich wohl anfühlen, diese Frau ständig um sich zu haben? Genau das würde in den kommenden Tagen nämlich der Fall sein.

Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 1 und 2

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