Читать книгу Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 1 und 2 - J.H. Praßl - Страница 19

Rosmertas Rache

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Schon bei ihrem Aufbruch zeigte sich, dass Bargh und Chara unterschiedlicher nicht sein konnten. Während Bargh das Gespräch mit Thorn und Liam suchte und sie bereits nach einem kurzen Ritt von der höflichen zur freundschaftlichen Anrede übergegangen waren, blieb Chara reserviert und zog es vor, hinter den anderen zu reiten. Das ließ zumindest den Schluss zu, dass sie die Gegebenheiten gern im Blick hatte.

Ansonsten konnte sich Thorn kein genaues Bild von der Söldnerin machen. Sie war zweifelsohne eine Einzelgängerin so wie er, wenn auch mit dem Unterschied, dass er eine gute Gesellschaft der Einsamkeit vorzog. Chara hingegen schien keinerlei Bedürfnis zu haben, sich den anderen anzunähern, eine weitere Eigenschaft, die ihn verunsicherte. Thorn war sehr daran gelegen, zu wissen, wen genau er um sich hatte. Bei Chara würde es schwierig werden, an dieses Wissen heranzukommen.

Liam wiederum hatte sich von Charas Zurückhaltung nicht verunsichern lassen und einen Annäherungsversuch unternommen, bei dem er ganz klar auf Granit gebissen hatte. Die Frau mit dem finsteren Blick hatte ihn ziemlich grob in die Schranken verwiesen, als er sie scherzhaft zu sich heranziehen wollte. Damit waren die Fronten vorerst geklärt.

Während des ersten Tages ihres Rittes zum Pass hatte die Sonne unbarmherzig vom Himmel gebrannt und ihnen den Schweiß auf die Stirn getrieben. Ob der für den Bärenmond unüblich hohen Temperaturen war der Boden staubig und die vereinzelt wachsenden Sträucher hatten aufgrund des ausbleibenden Regens noch nicht begonnen auszutreiben. Thorn hatte sich noch immer nicht an das heiß-trockene Klima seiner neuen Heimat gewöhnt und träumte sich allenthalben in die schattigen Wälder des südlichen Albas zurück. Jaslana pflegte immer zu sagen: Der Verstand ist ein Schattenkind. Die Hitze lässt den klaren Gedanken vertrocknen, bis das unkontrollierbare Verlangen der Seele Feuer fängt und alle Vernunft verzehrt.

Elfen waren Geschöpfe des Waldes. Sie mieden heiße Regionen und bevorzugten ein gemäßigtes Klima. Kit war diesbezüglich anders gewesen als ihre Artgenossen. Sie hatte sich gut an die Hitze der Sommermonde im Valianischen Imperium angepasst und beklagte sich nie. Vielleicht weil sie nichts davon hielt, wenn sich die Leute beklagten.

Es war schon dunkel, als sie an einem kleinen Bach das Lager für die Nacht aufschlugen. Mehrere Weiden säumten das flache Ufer. Die Erde war nahe dem Wasser feucht und dicht mit jungem Gras bewachsen. Der schmale grüne Streifen hatte von Weitem wie ein Stück Heimat in der Fremde gewirkt und Thorn magisch angezogen.

Sie schlugen ihr Zelt neben einem glatten Felsen auf, der stellenweise mit Moos und Farnen bewachsen war, wobei sich Bargh und Liam als recht brauchbar erwiesen, während Chara untätig herumstand und schweigend die Gegend begutachtete.

Nachdem Liam Zweige und Laub gesammelt und mit Feuerstein und Zunder ein kleines Feuer entzündet hatte, kümmerte sich Thorn darum, aus den mitgebrachten Vorräten eine Art Eintopf zu kreieren. Seine Kochkünste erzeugten allerdings nur bei Bargh ein genussvolles Stöhnen. Chara und Liam, die den Eintopf zwar runterschlangen – der eine aus Höflichkeit, die andere vermutlich aus Gründen der Selbsterhaltung –, verzogen angesäuert ihre Gesichter.

„Der Gaumen eines Barbaren ist wie das Hirn eines Trolls – nuancenlos“, murmelte Chara, während sie ihre leer gegessene Holzschüssel zur Seite stellte. „Es würde mich wundern, wenn er einen Eintopf von einer Fischsuppe unterscheiden könnte.“

Liam grinste. Die unangenehme Spannung, die vorher noch zwischen ihnen geherrscht hatte, löste sich auf. Charas scherzhafte Bemerkung war eindeutig ein Versöhnungsangebot und Liam nahm es vorbehaltlos an.

Nachdem Thorn seine Schüssel abgewaschen und verstaut hatte, lehnte er sich entspannt gegen den Stamm einer nahe am Feuer stehenden Weide und begann, mit seinem Messer ein Stück Holz zu bearbeiten. Bargh löffelte immer noch andächtig den Eintopf und Liam starrte verträumt in die Flammen.

Chara hatte sich etwas abseits von ihnen auf der anderen Seite des Feuers mit überkreuzten Beinen auf den Boden gehockt und schrieb irgendetwas in ein kleines schwarzes Buch.

Ab und an stierte sie geistesabwesend in die züngelnden Flammen. Sie hatte ihre Kapuze weit ins Gesicht gezogen und sich so tief in ihren Mantel eingehüllt, dass nur noch ihre blassen Hände aus den Ärmeln lugten. Thorn hätte gerne über ihre Aufzeichnungen Bescheid gewusst. Chara sah nicht gerade wie jemand aus, der einen Hang zur Poesie hatte. Führte sie Tagebuch, protokollierte sie jeden ihrer Schritte, versuchte sie sich an einem Entwurf für eine Saga?

„Na, was ist, Thorn Gandir? Fragt Ihr Euch, was ich in mein kleines schwarzes Buch schreibe?“, riss ihn Chara aus seinen Gedanken, ohne von ihren Aufzeichnungen aufzusehen.

Eine ihrer widerspenstigen Haarsträhnen rutschte unter der Kapuze hervor und fiel über ihre blasse Stirn. Sie schob sie geistesabwesend zurück.

Thorn fühlte sich ertappt, hatte sich aber schnell wieder im Griff.

„Lieber möchte ich wissen, was Ihr im Gladiator wolltet … an dem Abend, als ich und Liam …“

„Was hattet Ihr dort verloren?“, gab Chara zurück.

Thorn kniff die Augen zusammen.

„Ihr wollt es mir nicht sagen, stimmt’s?“

Was will ich Euch nicht sagen? Etwa, dass ich Lust hatte, ein Bier zu trinken?“

Thorn seufzte.

„Ihr seid nicht grundlos so verschwiegen, Chara.“

„Wer ist schon grundlos verschwiegen? Niemand breitet gerne sein Innenleben zur Unterhaltung anderer aus. Und diejenigen, die es doch tun, haben meistens keine Ahnung, wovon sie eigentlich sprechen oder hören sich einfach gerne selbst reden.“

„Da habt Ihr recht.“

Chara erhob sich und ging langsam um das Feuer herum auf ihn zu.

„Es ist aber nicht Eure Schweigsamkeit, mit der ich ein Problem habe, sondern die Unbestimmtheit Eurer Rede“, sagte Thorn und konzentrierte sich wieder auf seine Schnitzarbeit.

Chara lächelte knapp und glitt neben ihm zu Boden.

„Das könnte ich als Beleidigung auffassen“, sagte sie.

Thorn blickte auf.

„Nun denn, Held und Sonne Valianors. Wie steht es mit Euch? Ist es nicht so, dass Ihr selbst als eher schweigsam geltet?“

„Sagt wer?“, fragte Thorn und schnitzte weiter an seinem Stück Holz.

„Man hört so dies und das – die Leute sprechen über Euch.“

„Tun sie das? Und Ihr scheint ein offenes Ohr für solchen Tratsch zu haben, oder?“

„Ganz recht. Man kann nie genug wissen, bevor man in die Schlacht zieht.“

Thorn blickte erneut auf. Charas ausdrucksloses, blasses Gesicht erinnerte ihn an einen weißen Marmorblock, der darauf wartete, mit Meißel und Hammer zum Leben erweckt zu werden. „Ihr wollt gegen mich in die Schlacht ziehen?“, fragte er mit genüsslicher Häme.

„Nicht doch, aber wir werden beide kämpfen – Seite an Seite, versteht sich.“

Sein Lächeln verschwand. Er empfand das Funkeln in ihren schwarzen Augen keineswegs als kollegial; vielmehr fühlte er sich provoziert.

Chara lenkte ihren Blick auf das Feuer und der Funke in ihren Augen erlosch. Etwas in ihrer Stimme ließ ihn aufhorchen, als sie sagte: „Ich würde Euch gern eine Frage stellen, auch wenn sie Euch als indiskret erscheinen mag. Habt Ihr etwas dagegen?“

Thorn sah ihr direkt in die Augen.

„Wenn sie mir nicht gefällt, muss ich sie ja nicht beantworten.“

Warum ließ er sich auf ihre Spielchen ein? Eigentlich hatte er keine ihrer Fragen beantworten wollen.

„Sie wird Euch nicht gefallen.“

War das ein Angebot? Er könnte es annehmen und einen Rückzieher machen.

Thorn zögerte.

„Nur zu. Fragt mich.“

Chara blickte ihn aus ihren tiefschwarzen Augen an.

„Ich weiß vom Tod der Elfenkriegerin“, sagte sie.

„Und?“, fragte er hart. Er hätte es wissen müssen.

„Ich frage mich, warum Ihr immer noch hier seid und immer noch Euer Leben für den Senatsvorsitzenden riskiert. Hat Euch dieser Verlust etwa nicht gereicht? Wisst Ihr überhaupt noch, für wen oder was Ihr kämpft?“

Eine drohende Kluft tat sich vor Thorns Augen auf. Chara hatte ihn an einen Ort gestoßen, der gefährlich nahe am Abgrund lag, denn er barg die alles entscheidende Frage. Fakt war, dass er Testaceus’ Motive für diesen Krieg längst anzweifelte. Fakt war, dass er nicht mehr für Testaceus kämpfte, sondern für sich selbst. Aber das konnte er ihr unmöglich anvertrauen. Konnte er es überhaupt rechtfertigen?

„Was bezweckt Ihr mit dieser Frage, Chara?“

Sie hob entschuldigend ihre Hände und hielt seinem stechenden Blick stand. Doch Thorn spürte, dass sie ihn durchschaut hatte, egal, ob er sich ihr anvertraute oder nicht. Stand es ihm so deutlich ins Gesicht geschrieben, dass er vom hehren Ideal zum niederen Instinkt gewechselt war und er nur noch nach Rache gelüstete?

„Eurem Charakter auf den Grund gehen – Euch einschätzen“, beantwortete sie nach einer Weile seine Frage.

„Ich habe meine Gründe dafür, dem Senatsvorsitzenden behilflich zu sein. Ich nehme an, die habt Ihr auch!“, stieß er verärgert hervor, ohne ihre Antwort überhaupt zur Kenntnis zu nehmen.

„Sicher.“

Thorn wandte sich ab. Selbst er spürte die Kälte, die plötzlich von ihm ausging und die Chara gewiss ebenso fühlte.

Sie lehnte sich an den Baumstamm und starrte in den Nachthimmel. Ihre Stimme wurde leiser.

„Was denkt Ihr? Kann es ehrenhaft sein, für eine Sache zu kämpfen, ohne mit Sicherheit sagen zu können, ob die Sache selbst ehrenhaft ist?“

Thorn schwieg und drehte das Holzstück, an dem er geschnitzt hatte, hin und her.

„Das Valianische Imperium steht für Recht und Ordnung. Es kann also nicht falsch sein, für den Senat zu kämpfen.“

Zumindest davon war er noch überzeugt. Und darin lag auch die Ehrenhaftigkeit seines Tuns: Er stand und kämpfte auf der Seite der Ordnung.

„Nicht zu wissen, welcher Weg der richtige ist, ist kein Grund, stillzustehen und nichts zu tun“, fügte er hinzu.

„Das scheint mir aber die bessere Lösung zu sein“, antwortete Chara und hob eine ihrer spitzen Augenbrauen. „Zumindest, wenn man kein klares Ziel vor Augen hat. Besser anhalten, nachdenken und gegebenenfalls eine andere Richtung einschlagen, als am Ende festzustellen, dass man den falschen Weg gegangen ist. Die Konsequenzen wären fatal. Was ich Euch sagen will: Trefft keine Entscheidungen, solange Ihr Euch nicht sicher seid, dass Ihr Euch einfach und schnell umentscheiden könnt.“

Thorns Mund fühlte sich trocken an. Seine Stimmung war auf dem Tiefstand. Wütend funkelte er Chara an, doch ihm fiel keine Widerrede ein. Chara maß sich eindeutig zu viel an und er hatte, die Götter wussten es, keinerlei Grund, sich ihr gegenüber für seine Entscheidungen zu rechtfertigen. Sie kannte ihn kaum!

Aufgebracht warf er das Holzstück, das inzwischen die Form eines geduckten Bären angenommen hatte, ins Feuer und stand auf.

„Ihr fragt eindeutig zu viel“, sagte er tonlos.

„Ich versuche hier nur, ein Gespräch zu führen. Ist das nicht so üblich, wenn man sich gerade kennenlernt?“

„Schon, aber … Ihr redet, als wolltet Ihr einen Keil zwischen mich und Testaceus treiben …“

Chara schüttelte lächelnd den Kopf.

„Kommt wieder runter, Thorn! Ihr fühlt Euch durch einfache Fragen bedroht. Betrachtet dieses Gespräch doch einfach als das, was es ist – ein erstes Abtasten.“

Einen kurzen Moment hatte er den Eindruck, als würde sie sich auf die Zunge beißen, doch dann erhob sie sich, marschierte zu ihrem Platz zurück, zog ihr schwarzes Buch heraus und griff nach ihrer Feder, um ihre Eintragungen fortzusetzen.

„Wenn es euch recht ist, übernehme ich die erste Wache“, bemerkte Bargh gerade, der endlich fertig gegessen hatte. Ein leises Schnarchen signalisierte, dass Liam dafür nicht mehr in Frage kam.

„Tu, was du nicht lassen kannst“, erwiderte Chara, ohne von ihren Notizen aufzusehen.

Der Anblick, der sich ihnen am nächsten Tag bot, als sie den unwirtlichen Gebirgspfad hinter sich gelassen und den Pass erreicht hatten, war beeindruckend und beängstigend zugleich. Nach der Wachkontrolle waren sie am Lager vorbeigeritten, um die Verteidigungsanlagen auf der anderen Passseite zu inspizieren.

Auf der östlichen Seite der Kuppe ragten dreißig gewaltige hölzerne Plattformen empor, die auf mindestens sechzehn Fuß hohen Stelzen befestigt waren und eine sich über die gesamte Passbreite hinziehende bedrohlich wirkende Barriere darstellten.

Hinter den Plattformen erkannten sie einen Wall mit Palisaden vor einem Graben. Überall wimmelten Soldaten in fieberhafter Vorbereitung auf die Schlacht wie Ameisen herum. Auf der westlichen Seite der Kuppe erstreckte sich das von einer kleinen Palisade geschützte Meer von Zelten – das Lager der valianischen Truppen.

Auf der Innenseite der Palisade patrouillierten pausenlos Wachen über den aufgeschütteten Wall. Es schien alles noch in Vorbereitung zu sein. Cartius ließ ganz offensichtlich auf sich warten.

Liam, der sein Pferd neben Thorn und Chara gelenkt hatte, kniff nervös die Augen zusammen.

„Was ist?“, fragte ihn Thorn.

„Keine Ahnung, Mann. Nichts.“

Er kratzte sich am Hinterkopf und starrte auf das Treiben am Pass.

„Ich habe nur …“

„Was?“, setzte Thorn nach.

„Keine Ahnung. Vergiss es.“

Thorn sah stumm zu Liam. Es fiel ihm schwer, die Unruhe des ehemaligen Sklaven zu ignorieren. Und als dieser ihn ansah und sich sein Mund zu einem verkniffenen Grinsen verzog, wurde auch Thorn nervös.

„Hast du’s dir anders überlegt?“, fragte er.

„Nein.“

„Wenn’s nach mir ginge, könntest du auch abhauen. Du bist mir keine Rechenschaft schuldig. Unsere Sache ist geklärt. Ob du dich Testaceus verpflichtet fühlst, musst du selbst entscheiden. Jedenfalls würde ich nicht versuchen, dich aufzuhalten.“

Liam nickte.

„Das weiß ich. Ich sagte doch, vergiss es. Es ist nichts.“

Er fuhr sich durch sein dichtes, rotblondes Haar, während seine Augen die Gegend am Pass absuchten. Dann heftete er seinen Blick auf Thorn.

„Nichts ist von Dauer“, sagte er müde lächelnd, „und nichts nur für den Augenblick. Meine Entscheidung steht fest, was auch immer kommen mag.“

Für einen kurzen Moment spürte Thorn die Bande, die zwischen ihm und dem Mann, der ihn verraten hatte, entstanden waren.

Dann trabte sein Hengst Sankris gemächlich los, als hätte er ihn dazu aufgefordert, und tänzelte elegant vom Passrücken hinunter auf das Lager zu. Noch einmal drehte sich Thorn um und sah, wie Liam entschlossen sein Pferd antrieb und ihm folgte, ebenso wie Bargh, der seine neugierigen Blicke kaum von den Plattformen lösen konnte.

Chara, die sich seit dem Morgen in Schweigen gehüllt hatte, schloss zu Thorn auf und meinte kaum hörbar: „Der Weg ohne Gabelung also.“

Thorn warf ihr einen Blick zu, doch da trieb sie ihr Pferd bereits an und galoppierte den Hang hinab.

Der Wind trug lautes Stimmengewirr, das Klirren von Rüstungen und dumpfe Hammerschläge zu ihnen, als sie sich dem Zentrum des Lagers näherten.

Thorn galoppierte direkt auf die beiden Wachposten vor dem Kommandozelt zu und hielt sein Pferd abrupt an.

„Ave!“, begrüßte Thorn die Soldaten knapp. „Thorn Gandir. Ich will zu Eurer Kommandantin.“

Die beiden Wachposten erkannten ihn sofort und salutierten stramm.

„Und wer sind die?“, fragte der Massigere von ihnen mit Blick auf Chara, Bargh und Liam schroff.

„Reicht es Euch nicht, dass sie mit mir gekommen sind, Soldat?!“

Der Gesichtsausdruck des Mannes blieb hart, obgleich Thorn sah, wie er einen zögernden Blick mit seinem kleineren Kollegen wechselte, bevor er antwortete.

„Ich habe den ausdrücklichen Befehl, jeden zu überprüfen, den ich nicht eindeutig zuordnen kann. Ihr könnt passieren. Die anderen kommen hier nicht durch!“

Thorn funkelte den Wachposten wütend an. Wortlos sprang er aus dem Sattel und marschierte an den beiden Männern vorbei, die hinter ihm ihre Pila kreuzten.

Chara stieg ebenfalls ab. Sie grinste die beiden freundlich an, die sich sichtbar damit abmühten, ihren unverfrorenen Blicken zu entgehen und in ihre übliche Starre zu verfallen. Und zu ihrem Verdruss dachte Chara nicht daran zurückzutreten, um ihnen ihr Bemühen zu erleichtern.

Rosmerta war tief über eine Karte gebeugt, als Thorn ihr Zelt betrat. Beim Geräusch der zurückschwenkenden Plane wirbelte sie erschrocken herum und starrte Thorn verblüfft an. Doch dann setzte sie ihr berühmtes Niemand-bringt-mich-aus-der-Fassung-Lächeln auf.

„Na, sieh mal einer an!“, posaunte sie und verschränkte ihre Arme vor der Brust. „Dass du dich herablässt! Ich dachte, du verabscheust jede Form der Kriegstreiberei und alle, die damit zu tun haben!“

Thorn ließ sich träge auf einen der drei Stühle fallen und wuchtete seine Füße auf den Tisch.

„Ich dachte, ich sehe mal nach, was du so treibst und ob du deine Sache auch gut machst.“

Ein ironisches Lächeln kräuselte seine Lippen, was Rosmerta missfallend zur Kenntnis nahm. Sie umkreiste übertrieben langsam den Tisch und nahm hoheitsvoll ihm gegenüber Platz.

„Wie schön. Du siehst, dass ich keine Probleme damit habe, die Soldaten gefügig zu machen“, antwortete sie.

Sein Lächeln wurde breiter.

„Ich hatte auch nicht erwartet, dass du Probleme damit haben würdest, irgendwelche Männer gefügig zu machen. Meine Bedenken gingen eher in die Richtung, ob du denn auch willens bist, an der Spitze dieser Männer zu kämpfen, oder ob du es vorziehst, von der letzten Reihe aus Kommandos zu brüllen, während dir einer deiner Verehrer Luft zufächelt.“

Rosmerta erwiderte sein Lächeln, ohne sich ihren Ärger anmerken zu lassen. Sie hatte dazugelernt und wusste, dass sie keine Chance hatte, Thorn ein gutes Wort abzuringen.

Thorns Augen wanderten durch das Zelt, das die Handschrift einer Frau nicht verleugnen konnte, die wie Rosmerta Wert auf ihr Ansehen legte und den Komfort schätzte. Ihr Bett war übersät mit seidenen Kissen und Decken, auf einem kleinen Tisch im Eck standen ein Spiegel und eine Schatulle, die bis zum Rand mit Halsketten, Ringen und anderen bunten, funkelnden Schmuckstücken gefüllt war.

Die Zeltplane wurde zur Seite geschlagen und ein Wachposten trat ein. Er riss seinen Kopf zu Rosmerta herum und salutierte.

„Kommandantin, soeben ist ein Späher eingetroffen!“

„Dann schickt ihn gefälligst rein!“, antwortete Rosmerta schroff.

Mit einem Faustschlag auf sein Herz verließ der Soldat das Zelt.

Kurz darauf erschien ein schlanker Mann in grünem Umhang.

„Kommandantin! Die Sklavenarmee lagert unterhalb des Passes. Sie sind vor Kurzem dort eingetroffen.“

„Wie groß ist das Lager?“, verlangte Rosmerta zu wissen.

„Es ist ein Lager von gewaltigen Ausmaßen, Kommandantin. Wir vermuten, es wurde für etwa dreihunderttausend Mann errichtet!“

„Dreihunderttausend Sklaven also“, murmelte sie gedankenverloren und nahm ihr Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger. „Das sind eine ganze Menge … Ihr könnt gehen!“

Als der Späher das Zelt verlassen hatte, warf sie Thorn einen scharfen Blick zu.

„Wenn du an meinen Fähigkeiten zweifelst, dann bleib doch hier und überzeug dich selbst!“

„Ich habe tatsächlich überlegt, mir die Sache anzusehen, zumal ich darauf hoffe, Cartius selbst in die Finger zu bekommen.“

„Schön für dich.“

„Fein.“

„Ist das alles?“

„Nein.“

„Was noch?“

Thorn ließ seine Füße von der Tischplatte gleiten, stand auf und ging auf den Tisch zu, auf dem die Karte ausgebreitet lag. Stirnrunzelnd beugte er sich darüber.

„Draußen warten drei Leute darauf, dass deine gefügigen Soldaten beiseitetreten und sie einlassen. Wärst du so gut, das zu regeln?“

„Welche Leute?“

Thorn warf ihr ein gequältes Lächeln zu.

„Meinst du, ich schleppe hier irgendjemanden an, der dir gefährlich werden könnte?“

„Da dir nichts an meinem Wohlergehen liegt, traue ich es dir durchaus zu!“

Dennoch erhob sie sich langsam, ging zum Zelteingang und wies einen der Soldaten an, Thorns Begleiter einzulassen.

Als sie zurückkam, studierte Thorn immer noch intensiv die Karte.

„Es handelt sich um zwei Leibwächter, die Testaceus dir schickt“, sagte er und sah auf. „Einer davon wird dir gefallen. Er ist ein Mann ganz nach deinem Geschmack. Dann habe ich dir noch jemanden mitgebracht. Ich hoffe, er wird dir nützlich sein.“

Sie hielt neugierig inne. Das war ein gutes Zeichen. Wahrscheinlich würde sie ganz wild auf Liams Informationen sein.

„Also wirst du bleiben und mit mir gegen Cartius kämpfen?“

„Ja, das werde ich“, antwortete Thorn und lenkte seinen Blick auf die Karte zurück, die ihn magnetisch anzog.

„Hier“, Rosmerta zeigte auf den Gebirgspass, der ins Nadrus-Tal führte. „Das ist für ein Heer solchen Ausmaßes der einzige Weg nach Valianor. Cartius wird die Sklaven …“

„Ehemaligen Sklaven“, korrigierte sie Thorn.

„Wie auch immer, er wird sie jedenfalls hier heraufführen. Der Pass ist schmal, was für uns bedeutet, dass wir uns nur einem Teil seines gesamten Aufgebots stellen müssen.“

„Ich weiß. Trotzdem …“

Thorn dachte nach. Es beunruhigte ihn jedes Mal, wenn irgendjemand seiner Sache so sicher war wie Rosmerta.

„Du hast bestimmt recht“, sagte er kopfschüttelnd und richtete sich auf.

Von draußen waren Schritte zu hören. Thorn stiefelte zum Eingang, schob die Zeltplane zur Seite und blickte direkt in Charas Gesicht.

„Darf ich?“, fragte sie und schob sich an Thorn vorbei ins Zelt.

Bargh nickte Thorn freundlich zu und folgte ihr. Liam band gerade die Pferde an einen Pfosten, als Thorn aus dem Zelt trat.

„Und? Hast du sie vorgewarnt?“, fragte Liam.

„Nein. Sollte ich?“

„Lass mal. Vielleicht ist es besser, wenn ich ihr gleich leibhaftig gegenübertrete.“

Er klopfte Thorn auf die Schulter und wollte schon an ihm vorbei, als Thorn ihn am Arm festhielt.

„Warte.“

Thorn zögerte und starrte auf den Boden. Dann sah er Liam fest in die Augen.

„Es ist verdammt wichtig, dass du dich gut verkaufst. Sie muss davon überzeugt sein, dass sie Kapital aus dir schlagen kann. Meinst du, du bekommst das hin?“

„Hey, ich bin so biegsam wie ein Schilfrohr im Wind. Sonst hätte ich es nicht geschafft, zweimal Verrat zu begehen.“

Thorn nickte nachdenklich. Als er vor Liam das Zelt betrat, stand Chara gerade schweigend neben Bargh und musterte Rosmerta aus dunklen, kritischen Augen.

„Ihr seid also meine neuen Leibwächter“, kommentierte Rosmerta den Auftritt der beiden. Thorn registrierte, wie ihr Blick verstohlen über Barghs muskulösen Körper glitt.

„Ihr könnt Euch in eines der Zelte neben dem meinen zurückziehen. Ich werde den Soldaten Bescheid geben, dass sie es für Euch räumen sollen. Ihr dürft gehen.“

Mit einem lässigen Schlenker ihrer Hand wies sie Chara und Bargh den Weg nach draußen.

„So, und wo ist Nummer drei deiner kleinen Eskorte?“, fragte sie Thorn, wobei sie sich bemühte, gelangweilt zu klingen.

Liam trat an Thorns Seite und salutierte.

„Ave Rosmerta, Oberbefehlshaberin der valianischen Streitkräfte! Liam O’Neill.“

Rosmerta riss ungläubig die Augen auf. Instinktiv glitt ihre Hand zum Dolch an ihrem Gürtel, während sie mit unverhohlener Abscheu Liam fixierte. Die darauffolgende Stille knisterte förmlich vor Spannung.

„Er hat wichtige Informationen über Cartius“, beeilte sich Thorn zu sagen. „Ich an deiner Stelle würde ihn anhören!“

Misstrauisch lenkte Rosmerta ihren Blick auf Thorn und diesem wurde unangenehm bewusst, dass sie im Begriff war, hinter seine Fassade zu blicken. Irgendetwas nahm sie wahr, das ihre Laune beträchtlich hob und das gefiel ihm ganz und gar nicht.

„Liam O’Neill, ich hätte nicht gedacht, dass ich dich noch einmal zu Gesicht bekomme“, höhnte sie, als sie sich erneut Liam zuwandte, der ihrem taxierenden Blick tapfer standhielt.

Thorn hoffte inständig, dass ihr Spott nur eine ihrer üblichen Inszenierungen war, um Liam ein Gefühl der Schwäche zu vermitteln und nicht etwa die Freude darüber, dass sie nun nach Lust und Laune über ihn verfügen konnte.

„Was soll ich jetzt mit dir machen? Hm, Liam? Sag’s mir. Soll ich so tun, als ob nichts gewesen wäre? Oder bin ich als Befehlshaberin des unter valianischer Justiz stehenden Heeres nicht dazu verpflichtet, dich für deine Verbrechen büßen zu lassen?“

Sie tippte mit dem Zeigefinger gegen ihre Oberlippe und tat, als müsste sie angestrengt nachdenken, während Liam schweigend auf ihr Urteil wartete.

Thorn hatte das Gefühl, als entglitten ihm die Zügel. Der Anblick des ehemaligen Sklaven, der hilflos vor Rosmerta stand und ihrem Spieltrieb mit Haut und Haaren ausgeliefert war, machte ihm bewusst, dass er das Leben seines Freundes gerade in die Hände seiner ärgsten Feindin gelegt hatte. Zumindest, wenn man bedachte, wie Rosmerta auf seine Zurückweisungen reagiert hatte. Was konnte er tun, um Liam zu helfen?

„Ich bitte dich, hör dir seine Geschichte an!“, sagte er so gelassen wie möglich. „Seine Informationen sind es wahrhaft wert, ihn in Freiheit zu belassen!“

Wieder lag dieser triumphierende Ausdruck auf ihrem Gesicht und plötzlich wurde Thorn klar, dass er Rosmerta noch nie, niemals, um etwas gebeten hatte. Es war das erste Mal, dass sie die Kontrolle über ihn hatte. Die Frage war nur, ob sie es auch wusste.

„Ihn in Freiheit lassen? Damit er loslaufen und seinen Sklavenfreunden Bescheid sagen kann? Das scheint mir ein recht riskantes Unterfangen zu sein.“

„Dann warte, bis wir Cartius haben!“, schlug Thorn etwas zu hastig vor.

Rosmerta wiegte ihren Oberkörper hin und her, während sie Liam nicht aus den Augen ließ und ihren Zeigefinger nachdenklich über ihre Lippen führte. Schließlich überkreuzte sie ihre Arme vor der Brust und richtete sich auf.

„Na gut, Liam, dann erzähl mal, was du weißt! Anschließend werden wir ja sehen, ob sich deine Informationen als brauchbar erweisen.“

Thorn warf Liam einen eindringlichen Blick zu. Das ist deine Chance, aber sei auf der Hut!

Liam blickte unschlüssig zum Tisch in der Ecke des Zeltes.

„Nur zu! Du bist mein Gast“, reagierte Rosmerta mit einladender Geste. „Setz dich doch!“

Liam nahm zögernd Platz. Nichts war mehr von seinem frechen, spielerisch charmanten Zug zu erkennen. Stattdessen blickte Thorn in das Gesicht eines Mannes, dessen Leben auf Messers Schneide stand.

„Cartius plante diesen Aufstand schon längere Zeit“, begann Liam, ohne seine Augen von Rosmerta abzuwenden, die lächelnd an ihm vorbei um den Kartentisch schritt, während Thorn neben ihm Platz nahm.

„Er sah in den zahllosen Sklaven in den Minen des Emlin-Tals vermutlich ein riesiges Reservoir potenzieller Rebellen, das es ihm ermöglichen konnte, seinen Plan umzusetzen.

Die meisten der verurteilten Sklaven arbeiten dort ihre Schuld unter misslichsten Umständen ab. Die Hälfte der gesamten Erzversorgung des Valianischen Imperiums geht auf ihre Rechnung. Etwa dreihunderttausend Sklaven sind erforderlich, um den Erzabbau zu bewältigen. Cartius hat sich unter ihnen einen Namen gemacht, weil er sich für die Männer einsetzte und sich gegen die Grausamkeit der Aufseher auflehnte. Die Sklaven entwickelten nach und nach Sympathie für den ehemaligen Zenturio. Seine Führungsqualitäten und seine enorme Zähigkeit gegenüber der harten Minenarbeit beeindruckten vor allem diejenigen, die nur darauf warteten, dass ihnen eine starke Hand den Weg aus dieser Hölle weist.

Schließlich hatte er auch jene Sklaven überzeugt, die bereits ein gewisses Ansehen unter ihresgleichen genossen, und dann war es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie seinem Plan einer Revolte zustimmten. Nicht nur, dass er sie von seiner Unschuld hinsichtlich der ihm zur Last gelegten Verbrechen überzeugen konnte, er öffnete ihnen auch die Augen für die Notwendigkeit eines Aufstands.“

Thorn konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Liam Cartius trotz allem bewunderte. Und obwohl er diesem Aufstand den schlimmsten Verlust seines Lebens verdankte, erwachte auch in ihm eine Spur des Respekts für jenen Mann, der alles daran setzte, seine Ehre wiederherzustellen und für die Freiheit der Sklaven bis in den Tod zu kämpfen; auch unter dem Gesichtspunkt, dass Cartius’ Aufstand mittlerweile eher einem Rachefeldzug als einem Freiheitskampf glich.

„Bereits am ersten Tag errangen die Sklaven unter Cartius’ Führung die Macht über sämtliche Minen, indem sie alle Aufseher und Posten überwältigten. Cartius selbst tötete unzählige von ihnen. Einen Tag später nahmen sie das Tal in Beschlag und am dritten Tag griffen sie das erste Mal die Garnison der 14. Legion an …“

„Und zwei Monde später griffen sie das letzte Mal an und töteten jeden, der ihnen unter das Schwert kam“, beendete Rosmerta seinen Satz.

Liam nickte stumm.

„Auch die Elfenkriegerin“, fügte sie mit einem kalten, berechnenden Blick auf Thorn hinzu, der seine Augen schloss und mit seiner Beherrschung rang.

Am liebsten wäre er aufgesprungen und hätte sie geschlagen. Nicht den Mann, der mitgeholfen hatte, Kitayscha zu töten, sondern die Frau, die nur Genugtuung empfand, wenn sie über den Tod der Elfenkriegerin sprach.

Liam sah Thorn direkt in die Augen. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck der Reue und des Mitgefühls.

„Cartius’ Armee besteht aus dreihunderttausend Mann“, setzte er seinen Bericht mit ruhiger Stimme fort. „Innerhalb kürzester Zeit hatte er sie zu einer schlagkräftigen Streitmacht geformt. Sie sind bestens gewappnet, stehen den valianischen Legionären in kaum etwas nach und was ausschlaggebend ist: Sie sind ihm bis in den Tod ergeben. Sie werden versuchen, bis Valianor zu kommen und die Stadt einzunehmen. Sie werden vor nichts haltmachen und dank Cartius’ strategischen Geschicks die Schlacht zu seinen Gunsten entscheiden. Ich rate Euch daher, ihn nicht zu unterschätzen! Abgesehen davon wird er von einem harten Kern aus sieben Anhängern beschützt, denen er blind vertraut.“

„Wie lauten ihre Namen?“, wollte Rosmerta wissen.

Liam schwieg einen Moment, doch als sie nicht lockerließ, gab er sich geschlagen.

„Holsa Alrik, ein Wermag, Jussef El’Janin, ein Aschraner, und Hagegard Torafson, ein Vallander wie Bargh. Die anderen, Lisandrus Kelon, Ahon Emkidu, Krius Andares und Worgon Warik habe ich immer nur von Weitem gesehen. Woher sie kommen, weiß ich nicht. Doch wo sie sind, da findet Ihr auch Cartius.“

„Ich möchte eine genaue Beschreibung jedes Einzelnen!“, verlangte Rosmerta.

Mit einem leisen Seufzen begann Liam damit, Cartius’ Vertraute zu beschreiben.

Als er fertig war, lehnte er sich schweigend in seinem Stuhl zurück. Nun lagen die Dinge nicht mehr in seiner Hand.

„Und weiter?“, fragte Rosmerta in gespielter Verwunderung. „Das war doch nicht alles, oder?“

„Mehr weiß ich nicht“, seufzte Liam und stand auf, während Rosmerta langsam auf ihn zuging.

„Nun, dann sag mir eines, Liam. Warum in aller Welt sollten diese Informationen wohl nützlich für mich sein?“

Thorn sprang auf, als hätte ihm jemand ins Gesicht geschlagen. Erneut blitzte Triumph in Rosmertas Blick auf und Thorn fühlte, wie sich ihr Blick in seinen Kopf bohrte. Er hatte sich verraten. Es war ausgeschlossen, dass sie seine Anteilnahme an Liams Schicksal nicht registriert hatte. Nun hielt sie nichts mehr davon ab, ihren Trumpf auszuspielen.

„Wir können ihn hierbehalten, bis wir Cartius gefasst haben“, warf er beschwörend ein, „aber ungeachtet dessen bist du es Liam schuldig, ihn gehen zu lassen. Er hat dir alles gesagt, was er weiß.“

Ein sardonisches Lächeln kräuselte Rosmertas Lippen. Sanft streichelte sie über den Knauf ihres Dolches.

„Hm, das bin ich wohl und ich könnte ihn gehen lassen …“

Sie sah Thorn tief und lange in die Augen und da wusste er, dass er verloren hatte.

„Aber ich denke, nein.“

Liams Augen weiteten sich. Er sah zur Zeltplane, als würde er mit dem Gedanken spielen, abzuhauen. Seine Schultern zuckten. Mit Griff zu seinem Schwert trat er einen Schritt zurück.

„Wachen!“, bellte Rosmerta, ihren Dolch ziehend.

Sofort betraten zwei Soldaten das Zelt und versperrten den Eingang.

„Nehmt diesen Mann fest, bringt ihn nach draußen und kettet ihn an einen der Pfosten, aber so, dass er sich nicht rauswinden kann!“

Liam war so überrumpelt, dass er sich nicht wehrte, als ihn die Soldaten packten und zum Eingang schleiften.

Thorn wirbelte zu Rosmerta herum.

„Warum tust du das?“, knurrte er hasserfüllt. Seine Stimme zitterte vor Zorn und durch seine Adern pumpte das Blut in heißen Wellen. „Nein, vergiss es, ich weiß warum!“

Bevor sie etwas sagen konnte, drehte er sich um und rannte aus dem Zelt.

Rosmerta blickte auf die Plane, die mit einem schleifenden Geräusch an ihren Platz zurückschwang. Ein sanftes Lächeln wanderte über ihre Lippen, während sie ihren Dolch zurück in die Scheide steckte.

„Nun denn, mein lieber Thorn – das Schicksal hat entschieden. Während ich seine Treppen emporsteige, weise ich dir den Weg nach unten. Ist das Leben nicht grausam unberechenbar? Oder hattest du etwa erwartet, dass es dir alle nehmen wird, die du liebst?“

„Liam!“, schrie Thorn, doch der reagierte nicht und ließ sich widerstandslos abführen. „Halt, wartet!“

Die Soldaten marschierten ohne Zögern weiter.

„Das ist ein Befehl!“

Thorn lief ihnen nach, bis er auf gleicher Höhe war.

„Liam!“, keuchte er und stolperte vor dem ehemaligen Sklaven und den Wachen her, die sichtlich damit haderten, Thorns Befehl zu ignorieren. „Ich werde sie umstimmen! Ich kann sie zur Vernunft bringen! Hörst du mich?“

Liam nickte schwach, doch er wich Thorns Blick aus.

„Glaub mir, ich hol’ dich hier raus!“

„Es war meine Entscheidung, Thorn“, flüsterte Liam. „Meine allein. Es gab immer nur zwei Möglichkeiten: Entweder hätte sie mich begnadigt, dann hätte ich Schande über mich gebracht, weil ich einerseits einen Mann verraten hätte, von dessen Rechtschaffenheit ich überzeugt bin, andererseits aber einen Krieg verhindert, den ich als falsch erachte. Oder ich bezahle für meinen Verrat an dir und Cartius und sterbe. Rosmerta hat diesen Weg gewählt und vielleicht ist es gut so. Nichts ist von Dauer und nichts nur für den Augenblick.“

Thorn blieb abrupt stehen und blickte Liam hinterher. Eine plötzliche Leere machte sich in ihm breit und drohte, sein Herz zu verschlingen. Kurz entschlossen drehte er sich um und stiefelte zu Rosmertas Zelt zurück.

Kalte Wut fraß sich in seine Lungen, während er mit hasserfülltem Blick die Plane zur Seite riss und direkt auf sie zuhielt. Rosmerta wich nicht vor ihm zurück, sondern hob stolz ihren Kopf.

„Ja?“, fragte sie mit eisiger Stimme. „Kann ich noch etwas für dich tun?“

„Allerdings. Lass ihn gehen! Das ist mein Ernst!“

„Sonst?“

Sie schien nicht im Geringsten verunsichert.

„Sonst …“

Er atmete tief durch und rang um seine Fassung. Es hatte keinen Sinn, sie noch weiter zu provozieren. Seine einzige Chance, Rosmerta umzustimmen, bestand darin, ihr das Gefühl zu vermitteln, auf sie angewiesen zu sein und ihr wohlwollend gegenüberzustehen. Das wusste er, aber nun, da sie ihr wahres Gesicht gezeigt hatte, konnte er seinen überschäumenden Hass kaum noch dämpfen. Das Pochen der Adern an seinen Schläfen war beinahe schmerzhaft und Thorn fühlte, wie das in Wallung geratene Blut unkontrolliert durch seine Venen schoss.

„Sonst nichts. Ich verlange sonst nichts von dir. Ich bitte dich nur, es dir noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen“, presste er hervor.

„Seit wann interessiert es mich, wonach du verlangst?“, fragte sie mit spitzer Stimme.

„Rosmerta, bitte. Er bereut, was er getan hat. Was hast du davon, wenn du ihn umbringen lässt?“

Ich verhandle nicht mit Verrätern!

Testaceus’ Worte kamen aus ihrem Mund und fraßen sich wie Säure durch sein Gehirn. Dies war ihre letzte Entscheidung und er konnte nicht das Geringste daran ändern.

Rosmertas Stimme wurde weich.

„Ach, und sag mal, bettelst du etwa?“

„Du verdammte Heuchlerin!“, zischte er. Nichts konnte dieses Gefühl absoluter Verachtung jetzt noch unterjochen. „Macht es dir Spaß, mit dem Leben anderer Leute zu spielen?! Als ob du nicht ohne Bedenken mit einem Verräter zusammenarbeiten würdest, solange er den Zweck erfüllt, der dir gerade am nützlichsten erscheint!“

Sein Schwertarm zuckte, doch das schien sie nicht zu beunruhigen.

„Du bist das Allerletzte, Rosmerta!“

„Bin ich das?“

Rosmerta tat schockiert. Dann senkte sie ihre Stimme zu einem sanften Säuseln.

„Hm, stimmt, noch vor einiger Zeit hast du mich behandelt, als wäre ich genau das. Dreck unter deinen Stiefeln.

Sie schüttelte ihren langen Zopf zurück und trat einen Schritt auf ihn zu. Über ihr Gesicht legte sich ein Schatten des Zorns. Mit ihren langen Fingernägeln tippte sie gegen seine Brust und flüsterte drohend: „Glaub ja nicht, ich würde dir noch in irgendeiner Weise entgegenkommen! Glaub ja nicht, deine Meinung wäre mir irgendetwas wert oder ich würde dir auch nur den kleinsten Gefallen tun. Du und ich, wir haben uns nichts mehr zu sagen. Wir beide sind uns von nun an feind. Und deinen Kumpel Liam kannst du abschreiben! Er wird sterben, genau wie die Elfenkriegerin!“

Die Drohung traf auf offene Ohren. Thorn packte Rosmerta an ihrer weißen Palla und zog sie hoch, bis ihr Gesicht genau vor dem seinen war und ihre Füße hilflos in der Luft zappelten.

„Recht so, meine Liebe, recht so. In Zukunft würde ich deine Leibwache verdoppeln und verdreifachen, denn ich bin ganz bestimmt irgendwo in deiner Nähe und du weißt nie, ob ich mich gerade im Griff habe oder nicht. Und wenn ich zuschlage, dann …“

„Wachen!“, brüllte Rosmerta und trat mit ihren Füßen gegen sein Schienbein, während sie versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien.

Die beiden Posten, die Liam abgeführt hatten, stürmten ins Zelt, packten Thorn bei den Armen und schleiften ihn rückwärts von ihr weg.

Rosmerta richtete sich mit gleichgültiger Miene auf und streifte ihre Palla glatt.

„Thorn Gandir möchte mich verlassen. Führt ihn bitte zu seinem Zelt!“

Sie wollten ihn nach draußen zerren, aber Thorn entzog sich geschickt ihren Griffen. Mit einem letzten Blick schleuderte er Rosmerta all seine Verachtung entgegen. Dann drehte er sich um und verließ das Zelt.

„Thorn!“

Chara … Mühsam richtete er sich auf seinem Lager auf. Er hatte die Söldnerin nicht kommen hören.

„Es ist soweit.“

Thorn schüttelte den Kopf und ließ sich zurück auf die Decken fallen.

„Ich seh’ mir das nicht an. Aber danke, dass Ihr mir Bescheid gesagt habt.“

Chara nickte und verschwand ebenso lautlos, wie sie gekommen war.

Draußen klirrten die Rüstungen der Soldaten, die Liam zum Exerzierplatz führten, wo er hingerichtet werden sollte.

Rosmertas Befehle schallten herüber.

Thorn griff nach seinem Schwert, stand auf und ging zum Zelteingang. Er trug lediglich sein helles Hemd und eine braune Hose aus weichem Leder. Leise schob er die Plane zur Seite und schlich nach draußen. Es war bereits Nacht. Nur die Fackeln der Soldaten erhellten den Platz und warfen tanzende Schatten an die Zeltwände. Thorn atmete tief ein und schlich um das Zelt herum.

Er meinte, Bargh zu erkennen, der mit gesenktem Kopf an Rosmertas Seite marschierte. Offensichtlich zeigte seine Drohung Wirkung, wenn Rosmerta es sogar bei einer Hinrichtung für ratsam hielt, eine Leibwache mitzunehmen. Kluges Mädchen! Es war ihm bitterernst gewesen. Er konnte für nichts mehr garantieren. Sein Hass auf Rosmerta war so groß, dass er ihr am liebsten hier und jetzt einen Pfeil in die Brust gejagt hätte. Still wartete er, bis der kleine Zug aus seinem Blickfeld verschwunden war, dann folgte er geräuschlos.

Die Soldaten steuerten direkt auf das Zentrum des Platzes zu, wo man einen Pfahl aufgestellt hatte. Zwei von ihnen drückten Liam gegen den Pfosten, sodass ihm Rosmerta ungehindert gegenübertreten konnte. Angespannt beobachtete Thorn an eine Zeltwand gepresst das Schauspiel. Seine Augen suchten nach einer Lücke in den Reihen der Soldaten, die über den ganzen Platz verteilt standen und mit teilnahmslosen Blicken das Treiben verfolgten. Ein betäubendes Gefühl der Ohnmacht überkam ihn, während er seine Augen auf Liam heftete.

Sein Herz hämmerte wild gegen seinen Brustkorb. Ihm blieb nur wenig Zeit und er hatte keine Ahnung, wie er es anstellen sollte, Liam aus seiner misslichen Lage zu befreien. Gab es irgendeine Möglichkeit, die Reihen zu durchbrechen?

„Ich muss verrückt sein“, flüsterte er, während seine Augen in alle Richtungen zuckten. „Völlig durchgedreht! Warum, verdammt noch mal, bin ich nicht in Alba geblieben?“

Thorn rammte die Spitze seines Schwertes in den Boden und band sich die Haare im Nacken zusammen.

Er musste Rosmerta aufhalten! Irgendetwas musste er tun! Es musste einfach eine Möglichkeit geben, Liam zu retten!

Wie denn?, fragte eine verzweifelte Stimme in seinem Kopf. Du kannst gar nichts tun!

„Liam O’Neill“, hallte Rosmertas Stimme über den Platz. „Ihr seid schuldig des Verrats am Senat und Eurem Land!“

Eine Lücke, verdammt!

„Kraft des mir verliehenen Amtes als Oberbefehlshaberin der valianischen Streitkräfte und mit der Vollmacht des Senats, ausgestellt vom Senatsvorsitzenden Antonius Virgil Testaceus, verurteile ich Euch zum Tod durch Erdrosseln.“

Das war das Urteil. Er musste etwas tun und zwar jetzt.

Thorns Augen blieben an Bargh hängen, der unruhig hin und her wippte und offenbar nicht bei der Sache war. Vielleicht konnte er den Barbaren überwältigen und sich zu Liam durchkämpfen.

„Da ich selbst unter Eurem Verrat gelitten habe, bin ich bereit, selbst für Eure Hinrichtung Sorge zu tragen“, fuhr Rosmerta mit kalter Stimme fort. Dann legte sie Liam ihre Hände an die Kehle.

Thorn registrierte, wie sich die Soldaten befremdete, zum Teil entsetzte Blicke zuwarfen. Rosmertas Methode der Hinrichtung war völlig abwegig, fast niederträchtig und gerade das war es, was Rosmerta ein Hochgefühl verschaffte. Sie benutzte nicht einmal ein Seil, um Liam zu strangulieren. Sie tat es mit bloßen Händen.

Thorns Muskeln spannten sich an. Er festigte seinen Griff um das Schwert. Doch noch bevor er irgendetwas tun konnte, spürte er einen harten Schlag gegen seine Schläfe. Ein stechender Schmerz schoss durch seinen Kopf und das Bild der Hinrichtung verschwamm vor seinen Augen. Er sah nur noch vage, wie Rosmertas Hände sich mit festem Griff um Liams Hals schlossen und dessen Augen sich vor Angst weiteten. Dann fiel ihm sein Schwert aus der Hand und er sank auf die staubige Erde. Wie aus weiter Ferne vernahm er ein leises Röcheln. Es war das Letzte, das er von Liam hörte. Unmittelbar hinter ihm kratzte der Saum eines Mantels über den Boden. Dann verstummte alles und Thorn wurde schwarz vor Augen.

Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 1 und 2

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