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Fremder

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Die Taverne zum Gladiator war zum Bersten voll. Obgleich die Kundschaft, die sich normalerweise hier aufhielt, eher zur oberen Gesellschaftsschicht zählte, trieben sich an diesem Abend die unterschiedlichsten Gestalten herum, darunter manch eine, der man nur ungern in die Quere gekommen wäre.

Thorn betrat den Gastraum, gab sein Schwert bei den Türstehern ab, behielt aber den Waffengürtel um. Die Atmosphäre der gepflegtesten Taverne Valianors sollte nicht durch Unruhe stiftende Zwischenfälle gestört werden. Darum wurde zumindest pro forma verlangt, die Waffen am Eingang zurückzulassen.

Thorn mochte weder die auf Hochglanz getrimmte Einrichtung, noch den Umstand, dass die Gaststätte meist überfüllt war. Er schätzte die Ruhe in den kleineren Spelunken am Stadtrand und am Hafen, wo höchstens eine nicht ernstzunehmende Keilerei zwischen zwei Betrunkenen drohte. Doch zum Hafen war es weit. Grund genug, den Gladiator aufzusuchen, sofern man sich im Stadtzentrum aufhielt.

In der meistbesuchten Taverne der Stadt wurde auf die Etikette Wert gelegt – dementsprechend elitär waren sowohl die Preise als auch die Gesellschaft. Auf jedem Tisch stand eine kleine Öllampe, die den Gästen den Blick auf die opulenten Speisen erleichtern und das allgemeine Wohlbefinden fördern sollte.

Sanftes Licht hüllte Thorn ein, als er sich einen Weg zwischen den Tischen hindurch bahnte und sich für einen Platz an der Außenwand entschied. Er ließ sich nieder und winkte nach dem Wirt, der ihn umgehend begrüßte und seine Bestellung aufnahm.

Die Wärme der Gaststube tat Thorn gut und er genoss es, dass ihn hier niemand behelligte, wenn sich auch der eine oder andere nach ihm umdrehte. Immerhin war sein Name in Valianor nicht unbekannt.

Nachdem er sein Bier bekommen und einen Schluck davon getrunken hatte, entspannte er sich allmählich.

Die Berichterstattung vor dem Senat hatte ihn wütend gemacht und neuerliche Zweifel in ihm geweckt, die ihn den ganzen Nachmittag über beschäftigt hatten. Jetzt wollte er sich darüber keinen Kopf mehr machen. Es war Zeit, die Gedanken baumeln zu lassen.

Gelassen lehnte er sich zurück und ließ seine Augen durch die Taverne wandern. Die meisten Gäste waren unverkennbar Valiani, aber auch ein paar Südländer, vermutlich Aschraner, waren darunter, außerdem zwei Männer, die aussahen, als kämen sie aus Chryseia und schließlich entdeckte Thorn ein Paar, das allem Anschein nach aus seiner Heimat Alba stammte. Die blasse Haut der Frau und der stolze, aufrechte Gang des Mannes ließen es jedenfalls vermuten. Der Mann war wie für einen Albi üblich in einen grob karierten Kilt gekleidet, während die Frau ein langes, schweres moosgrünes Kleid trug, das unter ihrer Brust von einem seidenen Band zusammengehalten wurde.

Thorns Blick wanderte weiter und fiel auf einen Mann an der Theke, der einen eindeutig südländischen Einschlag hatte, dessen Erscheinung aber nicht in das gepflegte Gasthaus passte. Er sabberte leicht, als er seinen Bierkrug abstellte. Noch anstößiger war die Tatsache, dass sein Hinterteil zu groß für seine zu knapp geratene Leinenhose war, wodurch seine bleichen Pobacken unappetitlich über den Bund hinausquollen. Im Verhältnis zu seinen fast weiblichen Hüften hatte er einen zu schmalen Oberkörper, dafür aber einen umso gewaltigeren Bierbauch. Seine dunklen Haare hatte er in feinen Strähnen über seine Glatze gekämmt. Sein gesamtes Erscheinungsbild wirkte grotesk und Thorn fragte sich, wie er an den beiden Türstehern vorbeigekommen war.

Der Fremde leerte in tiefen Zügen seinen Humpen, während er grinsend über die Theke starrte. Thorn beobachtete, wie einige der Gäste ihn abfällig musterten. Doch der Mann schenkte dem keine Beachtung. Stattdessen wandte er sich seinem Nachbarn zu und zeigte ihm sein zahnloses Lächeln, woraufhin dieser schockiert ans andere Ende der Theke flüchtete.

Der Südländer drehte sich dem Schankraum zu und beobachtete das Treiben der sich gedämpft unterhaltenden Gäste. Thorn verfolgte interessiert, wie er den Türstehern dabei einen abwägenden Blick zuwarf und mit Genugtuung feststellte, dass diese gerade damit beschäftigt waren, einen betrunkenen Bettler abzuwimmeln.

„Euren Greifen in allen Ehr’n!“, begann er plötzlich theatralisch und ließ seine Augen über die sich teilweise nach ihm umdrehenden Gäste gleiten.

„Euren Greifen in Ehr’n!“, wiederholte er lallend, „aber was nützt Euch Euer Vogel, obwohl’n recht stattlicher, wie ich mein’ …“

Er brach ab und kicherte, wobei er sich fast an seinem Speichel verschluckte.

„Was nützt Euch der Vogel, wenn Ihr – die Gödder mög’n ’s verhindern – vor ’ner echt’n Bedrohung steht?“

Der Albi und seine Gefährtin senkten peinlich berührt ihre Blicke, während der Rest der Gäste den Südländer beobachtete.

„Ich mein’, kann der Geier auch ’nem schwarzen Magier ’s Früchten, äh, Fürchten lehr’n? Einem Mann, der alles sieht un’ alles weiß?“

Er stieß sich schwankend von der Theke ab und stolperte in den Gastraum, wobei er mit weit aufgerissenen Augen flüsterte: „Der Alte, der Alte vom Berg …

Sein irrer Blick veranlasste nun auch die anderen, sich peinlich berührt abzuwenden. Doch letztendlich siegte die Neugier, weshalb nach kurzer Zeit sämtliche Augen wieder gebannt auf das ungewöhnliche Schauspiel gerichtet waren. Inzwischen hatte sich der Südländer unter die Leute gemischt und sich aufdringlich zwischen das Paar aus Alba gedrängt.

„Was nützt Euch Euer Gryphos“, nuschelte er bedeutungsschwanger, „wenn der Alte – ich mein’ Al’Jeb …“

Er würgte, brachte den Namen nicht über die Lippen und verstummte.

In der Taverne herrschte plötzlich Totenstille. Alle Augenpaare ruhten auf dem Mann, der sich nun vom Tisch der Albi entfernte und wankend durch den Gastraum schritt.

Mit unheilvoller Stimme setzte er schließlich seinen Monolog fort: „Er streckt seine Finger nach’m Imperium aus! Und er … Er, der die Macht hat, sich der dunkelst’n aller Kreaturen su bedien’, bekommt immer, was er will! Mag ihm auch nur halb Aschran gehör’n, im Grunde liegt ihm ganz Amalea su Füßen.“

Grunzend knallte er seine Handfläche auf Thorns Tischplatte, woraufhin Thorn ein Stück zurückrückte. Es sah ganz danach aus, als würde sich der Mann gleich übergeben.

Doch er schwankte nur, hielt sich erfolgreich an der Tischkante fest und fuhr lallend fort: „Seine Finger hat er überall, meine Herr’n! Und seh’n tut er weider als das Auge Eurer Gödder – bis hinauf zu den verdammten Spitzohr’n in Albion, wenn nich’ noch weider!“

Er machte eine kurze Pause, um Luft zu holen, doch bevor er seinen Mund noch einmal aufmachen konnte, schossen die zwei hünenhaften Türsteher, die den Bettler mittlerweile losgeworden waren, auf ihn zu, packten ihn und zerrten ihn zur Tür.

„Denkt an meine Worte!“, schrie er, „denkt an Farach, den Händler, der mit sein’ eig’nen Augen geseh’n hat, wie der Alte mit seinen Feinden abrechnet … Er is’n Hexer, n’ Dämon!“

Und dann übergab er sich tatsächlich, noch bevor die Türsteher ihn aus der Taverne schmeißen konnten.

Der Wirt, der das Szenario stöhnend aus den Augenwinkeln beobachtet hatte, wies sofort zwei Sklavinnen an, das Erbrochene wegzuwischen. Anschließend stauchte er die beiden Türsteher zusammen, die den unwillkommenen Gast mittlerweile vor die Tür gesetzt hatten, und nickte entschuldigend in die Runde.

Thorns Blick wanderte von dem Wirt zu den Gästen. Manche von ihnen schüttelten die Köpfe, die meisten aber begannen aufgeregt zu flüstern. Er selbst fühlte sich unangenehm berührt. Er hatte das untrügliche Gefühl, dass hinter dem vordergründig peinlichen Auftritt des Südländers nicht bloß wirres Gerede steckte.

Irgendetwas in seinem Inneren sagte ihm, dass an dieser Geschichte etwas dran war. Testaceus’ Worte kamen ihm in den Sinn: Im Süden sind dunkle Mächte am Werk … Die Gefahr aus Aschran hatte offenbar einen Namen.

Gedankenverloren fuhr sich Thorn durch seine Bartstoppeln. Da fiel sein Blick auf den Tisch im hintersten Winkel der Taverne, wo er eine Gestalt ausmachte, deren Gesicht unter einer Kapuze verborgen war. Sie hatte sich von dem Unruhestifter nicht aus der Ruhe bringen lassen und verfolgte ungerührt das aufgeregte Getuschel der Leute.

Thorn wollte sich schon abwenden, um den Gast nicht unangenehm zu berühren, da gewahrte er eine langsame Bewegung und sah aus dem Augenwinkel, wie der Unbekannte seine Hand von der Tischplatte zog und an seine Hüfte legte. Zweifelsohne lag sie jetzt auf einer Waffe.

Neugierig und beunruhigt zugleich nahm Thorn die Gestalt genauer in Augenschein. Es war ein Mann, das stand außer Frage. Nicht nur seine breiten Schultern, die ganze Körperhaltung deutete darauf hin.

Plötzlich begriff Thorn und drehte sich weg.

Obwohl er das Gesicht des Mannes nicht erkannt hatte, spürte er dessen Blick auf sich. Der Mann beobachtete ihn, genauso wie er ihn beobachtet hatte. Nervös nahm Thorn einen Schluck aus seinem Bierkrug und tat so, als würde er interessiert das Treiben an der Theke studieren, das nun, da der Störenfried vor die Tür gesetzt worden war, wieder zur Normalität überging. Doch das Gefühl, von dem Fremden beobachtet zu werden, ließ nicht nach und bereitete ihm allmählich Unbehagen. Unwillkürlich fühlte er sich an seine Beklemmung auf dem Weg nach Valianor erinnert und unverhofft stellte sich eine plötzliche Gewissheit ein. Er hatte sich nicht getäuscht! Sie waren verfolgt worden! Und der Mann dort hinten hatte eindeutig ein Auge auf ihn.

Wilde Überlegungen schossen Thorn durch den Kopf, während er in seinen Bierkrug stierte, als würde er in den kümmerlichen Resten des Gebräus die Antwort lesen können.

Schließlich nahm er einen tiefen Schluck, stand auf und ging mit seinem Becher auf den Fremden zu. Wortlos zog er den Stuhl nach hinten und setzte sich dem Mann gegenüber.

Der Fremde rührte sich nicht.

Thorn konnte ihn immer noch nicht erkennen, weil die Öllampe auf dem Tisch nicht entzündet war und sein Gesicht so im Schatten der Kapuze verborgen blieb.

„Freut mich, dass Ihr es bis hierher geschafft habt!“, schoss er ins Blaue. „Ihr seid ein recht treuer Gefährte.“

Der Mann hob ein wenig seinen Kopf und antwortete mit einem Flüstern: „Wenn ich mich nicht täusche, hat der Held des Imperiums keine treuen Gefährten mehr.“

Thorns Augenlider zuckten leicht. Der Mann kannte seinen Titel und wusste von seiner Vergangenheit. Und obwohl er fast flüsterte, lag etwas Vertrautes in seiner zurückhaltenden Stimme.

„Wer seid Ihr?“, fragte Thorn kühl, während sein Blick die Schulterbewegung des Mannes registrierte, der sich zwar unauffällig, aber für Thorns scharfe Augen dennoch erkennbar an seinem Waffengürtel zu schaffen machte.

Als er nicht antwortete, griff Thorn nach der Öllampe, um sie anzuzünden, doch der Mann beugte sich ruckartig vor, fasste sein Handgelenk und drückte es auf die Tischplatte.

„Nicht so schnell, Waldläufer!“

Er hatte seine Stimme kaum angehoben.

Die Tür ging auf und ein Prätorianer betrat die Taverne.

„Ave Valian“, begrüßte er laut den Wirt, durchquerte die Gaststube und lehnte sich lässig gegen die Theke.

Der Fremde hielt immer noch Thorns Handgelenk fest, doch sein Blick verfolgte den Prätorianer.

„Ein Gruß, der uns beiden missfällt, nicht wahr?“, sagte er zu Thorn gewandt.

Mit einem knappen Drehen seines Handgelenks entzog sich Thorn dem Griff des Mannes, der es geschehen ließ, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Also gut, wenn Ihr die Spielregeln festlegen wollt, soll mir das recht sein.“

Der Fremde nahm seine Rechte von seinem Waffengurt und legte sie auf den Tisch. „Zwei Fragen, bevor ich mich Euch zu erkennen gebe.“ Sein Flüstern war kaum zu verstehen.

„Stellt Eure Fragen“, antwortete Thorn ruhig.

„Seid Ihr ein Freund des Imperiums oder ein Freund der gerechten Sache?“

Thorn hob verwundert die Augenbrauen. Der Fremde wusste, wovon er sprach.

„Ihr selbst habt eben deutlich gemacht, wessen Freund ich nicht bin“, erwiderte Thorn. „Ich bin keiner, der die valianische Sitte lebt oder schätzt, und keiner, der das Wohl des Imperiums über das der Menschheit stellt. Ihr kennt mich offensichtlich besser, als mir lieb ist. Ich diene zwar dem Senatsvorsitzenden, aber nur, solange ich sein Ansinnen aus eigener Überzeugung vertreten kann.“

Das war eine glatte Lüge. Er zweifelte längst an Testaceus’ Absichten, aber ohne diese Zweifel wirklich begründen zu können.

„Ja, das hatte ich vermutet“, flüsterte der Fremde mit rauer Stimme. „Aber ich musste sichergehen. Man kann nie genug Fragen stellen – das lehrte mich die Erfahrung. Und Ihr habt recht, ich kenne Euch besser, als Ihr es vermutet, besser jedenfalls als Ihr mich.“

Der Mann zögerte.

Thorn wartete geduldig. Noch störte es ihn nicht, dass der Fremde die Kontrolle über den Verlauf des Gesprächs übernommen hatte, solange er nur dahinterkam, wer er war und was er wollte.

„Seid Ihr ein Rächer?“, fragte der Fremde plötzlich.

„Was?“

Thorn war irritiert. Worauf wollte der Mann hinaus?

„Wie haltet Ihr es mit Schuldzuweisungen?“, fuhr der Fremde fort. „Das ist eine Frage ethischer Natur. Wen macht Ihr für Fehlentscheidungen verantwortlich? Die ausführende Kraft oder den Strategen? Den, der die Befehle erteilt, oder denjenigen, der sie ausführt? Könnt Ihr vergeben, wenn jemand Reue zeigt, oder seid Ihr einer, der stets auf Rache sinnt?“

Thorns Verwirrung blieb. Er hatte keine Ahnung, was der Mann von ihm wollte, und obwohl er seine Stimme nicht einordnen konnte, weil sie kaum mehr als ein Flüstern war, hatte er das Gefühl, als würde ihm sein Name auf der Zunge liegen. Doch jetzt, wo er sich auf das Spiel eingelassen hatte, wollte er es auch zu Ende bringen.

Der Fremde wartete geduldig auf eine Antwort.

Schließlich beugte sich Thorn über den Tisch und meinte: „Wenn Ihr mich kennt, wie Ihr sagt, habt Ihr wahrscheinlich auch darauf eine Antwort.“

„Hab’ ich auch“, antwortete der Fremde und Thorn hatte den Eindruck, dass er lächelte. „Aber ich könnte falsch liegen. Ich hatte zu wenig Zeit, um Euch ausreichend zu studieren, auch wenn ich meine Aufgabe sehr gewissenhaft verfolgt habe.“

In diesem Augenblick fiel es Thorn wie Schuppen von den Augen. „Verräter!“, zischte er und sprang wutentbrannt auf die Beine.

Mit der Linken packte er den Fremden am Kragen seines Mantels, während er mit der anderen Hand seinen Dolch zog.

Sämtliche Gäste fuhren erschrocken herum. Der ohnehin schon strapazierte Wirt winkte alarmiert die Türsteher herbei, doch Thorn, der die allgemeine Aufregung registriert hatte, ließ augenblicklich los und setzte sich zurück auf seinen Platz. Er ließ den Dolch unter der Tischplatte verschwinden und gab dem Wirt winkend zu verstehen, dass alles in Ordnung sei. Dann wandte er sich dem Mann zu, der ungerührt sitzen geblieben war.

„Liam“, flüsterte er mit wutverzerrtem Gesicht.

Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 1 und 2

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