Читать книгу Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 1 und 2 - J.H. Praßl - Страница 20

Die Schlacht am Isola - Pass

Оглавление

Als Thorn zu sich kam, lag er in eine Decke gehüllt in seinem Zelt. Abgesehen von seinem weißen Baumwollhemd war er nackt. Das Schwert hatte man ihm abgenommen und, wie er benommen erkannte, neben sein Lager geschmissen. Seine Ausrüstung war noch vollständig: Bogen und Köcher, der Kampfstab, sogar der elfische Dolch, den er von Kitayscha bekommen hatte – alles lag auf einem Leinentuch neben dem Zelteingang.

Thorn richtete sich stöhnend auf und presste im nächsten Augenblick seine Hand gegen die linke Schläfe. Ein hämmernder Schmerz drückte ihm von innen gegen das Auge und drängte ihn, sich wieder niederzulegen. Doch er widerstand dem Drang und atmete tief ein. Übelkeit schwappte in ihm hoch. Ihm war, als hätten sich sein inneres Befinden und die äußeren Bedingungen – die stickige Luft im Zeltinneren und die unsägliche Hitze – gegen ihn verschworen, um seinen ohnehin schon üblen Zustand noch zu verschlimmern.

Thorn hatte noch nie einen vergleichbaren Schmerz erlebt; jede Bewegung, auch wenn sie zunächst das heftige Pochen kurzzeitig dämpfte, war fatal, weil sie noch grauenvollere Schmerzen nach sich zog.

Nicht verkrampfen!, ermahnte er sich. Stillhalten und abwarten!

Schwer atmend wartete er darauf, dass der Schmerz in seinem Kopf nachließ. Was war geschehen?

Er erinnerte sich, dass er die Exekution mitverfolgt hatte und versuchen wollte, Liams Leben zu retten. Wäre nicht das grauenvolle Hämmern in seinem Kopf gewesen, er hätte über seine Naivität gelacht. Hatte er sich tatsächlich eingeredet, Rosmerta aufhalten zu können? Was für ein törichter Gedanke! Was wäre gewesen, wenn er tatsächlich bis zu Liam durchgedrungen wäre? Man hätte ihn umgehend festgenommen und Liam trotzdem hingerichtet!

Irgendjemand hatte ihn niedergeschlagen, bevor er seine lächerliche Idee in die Tat umsetzen konnte. Wahrscheinlich einer der Soldaten. Wer auch immer es gewesen war, eigentlich musste Thorn ihm dankbar sein. Doch er war es nicht.

Was war nur mit ihm geschehen? Was für ein erbärmlicher Mensch war er geworden, dass er für das Leben eines Halunken sein eigenes einfach wegwarf? Offensichtlich war das Bedürfnis nach einem Freund so stark geworden, dass es jeden Funken Verstand in ihm getilgt hatte. Aber er hatte dem ehemaligen Sklaven trotz allem vertraut und er hätte viel dafür gegeben, ihn weiterhin um sich zu haben. Er hatte sich in seiner Gesellschaft weniger allein gefühlt. Zwischen ihnen war eine Solidarität gewachsen, die er schon lange nicht mehr empfunden hatte.

Thorn fühlte sich unendlich müde. Niemand war ihm geblieben, dem er noch trauen konnte. Weder Chara, die sich nicht einschätzen ließ, noch Bargh, der zwar einen gutmütigen, offenherzigen Eindruck machte, aber den er auch nicht wirklich kannte. Und dann war da noch Rosmerta – ihr traute er am allerwenigsten.

Noch während er trotz unsäglicher Schmerzen versuchte, seine Gedanken zu ordnen, registrierte er, dass es ungewöhnlich still war. Er vernahm weder das Klirren von Rüstungen, noch das Hämmern auf Stahl. Da war kein Hufgetrappel, kein Knarzen von Leder, das man hörte, wenn ein Legionär vorbeimarschierte oder wenn ein Sattel eingefettet wurde; selbst die Exerziergeräusche der Soldaten blieben aus. Da waren nur vereinzelte Stimmen und das Heulen des Windes, der an der Zeltwand rüttelte.

Ein leises Zaudern beschlich seine Gedanken und drängte ihn, trotz der Schmerzen aufzustehen. Die Hand gegen seine linke Schläfe gepresst, schlüpfte er umständlich in seine Hose und griff nach seinem Lederharnisch und seinen Waffen.

Als er sich nach den Stiefeln bückte, presste er vor Schmerz seine Augenlider zusammen. Stöhnend schnappte er nach Luft und versuchte, die wiederkehrende Übelkeit zu verdrängen, bevor er in seine Stiefel schlüpfte.

An den Zeltpfosten gelehnt, wartete er mit geschlossenen Augen auf das Abklingen des Schmerzes und als das Hämmern endlich nachließ und die Übelkeit erträglich wurde, richtete er sich auf. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn. Liams Verlust drückte ihm dumpf gegen den Magen und ließ das Gefühl der Einsamkeit erneut aufkeimen.

Er verdrängte es, schlug die Zeltplane zur Seite und ging nach draußen. Auf dem Weg zum Hauptzelt begegneten ihm einige verstreute Soldaten, die damit beschäftigt waren, Verwundete ins Lager zu schaffen und ihre Kameraden zu versorgen. Einer von ihnen berichtete aufgeregt, dass sich mit der aufgehenden Sonne das Sklavenheer am Pass eingefunden und dort Stellung bezogen habe.

Thorn hatte den Anfang der Schlacht also verpasst. Vermutlich hatte Rosmerta genau das beabsichtigt. Sie würde den Ruhm ganz für sich allein haben wollen und da standen ihr seine Absichten im Wege.

Der Wind pfiff um die Zeltwände, als Thorn auf den Platz hinaustrat, wo die Pferde normalerweise angepflockt waren. Im Moment stand nur eines der Tiere dort und wieherte ihm ungeduldig entgegen, während der Wind an seiner Mähne zerrte.

„Sankris, mein Guter“, murmelte Thorn, als er bei ihm war und tätschelte seinen Hals. „Vermisst du die anderen Pferde? Möchtest du mit ihnen in die Schlacht galoppieren?“

Sankris warf den Kopf zurück und schnaubte, als wollte er deutlich machen, dass er nur allzu bereit war, sich ins Schlachtgetümmel zu werfen.

„Ich weiß, ich weiß“, murmelte Thorn und gab Sankris einen Klaps auf sein Hinterteil. „Ich denke aber, wir lassen Rosmerta den Vortritt.“

Während er Sankris Hufe untersuchte, blitzte ein vager Gedanke in ihm auf: Wenn es ein Soldat gewesen war, der ihn tags zuvor niedergeschlagen hatte, warum war er dann im Besitz seiner Waffen und ohne Bewachung in seinem Zelt aufgewacht?

Als die Sonne blutrot über dem Horizont stand und Thorn sich das vom Trainieren schweißnasse Hemd vom Körper riss, trafen die Soldaten im Lager ein.

Thorn ignorierte sie, tauchte seinen Kopf in den Zuber vor seinem Zelt und klatschte die nassen Haare auf seinen heißen Rücken. Das kühle Nass ließ ihn vor Wonne seufzen. Als er sich erneut über den Zuber beugte, registrierte er aus dem Augenwinkel eine Bewegung.

„Ich lebe noch“, vernahm er eine dünne Stimme wenige Schritte hinter sich. Thorn hielt inne, drehte sich aber nicht um.

„Wie schade“, sagte er knapp und tauchte sein Gesicht ins Wasser.

Rosmerta blieb beharrlich: „Hattest du einen erholsamen Tag?“

„Jeder Tag ist erholsam, an dem ich deine Visage nicht sehen muss!“, seufzte Thorn genervt und begann damit, seinen Oberkörper mit einem Lappen abzuschrubben. Danach streifte er sich mit den Fingern die nassen Haare zurück und wandte sich zum Gehen.

„Wir haben heute eine große Schlacht geschlagen“, kam Rosmerta endlich zum Thema. Thorn hatte sich schon gefragt, wie lange sie ihre Ruhmesrede wohl hinauszögern würde.

„Die Sklaven fielen unter meinen Soldaten wie junge Bäumchen unter der Gewalt eines tosenden Orkans.“

Gleichmütig schob Thorn die Zeltplane zur Seite.

„Und was ist mit dir, Thorn? Woran wird man sich wohl erinnern, wenn man deinen Namen hört?“

„Vermutlich an gar nichts“, antwortete er und hob die Hand gegen die letzten Sonnenstrahlen, die ihm ins Gesicht fielen.

„Aber wie dem auch sei, ich gratuliere dir, Heldin! Du hast wieder einmal bewiesen, dass es im Leben nicht darauf ankommt, nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln, sondern darauf, die rechte Gesinnung überzeugend nach außen zu tragen, egal, welch niederen Beweggründe sich auch immer dahinter verbergen. Tatsache ist, dass du eine erbärmliche Strategin bist, von deinen alles andere als selbstlosen Motiven ganz zu schweigen. Doch dieses Manöver beherrschst du perfekt: anderen etwas vorzugaukeln – darin bist du echt gut!“

Rosmerta nickte zustimmend. Thorns Worte schienen sie eher stolz zu machen als zu kränken.

„So ist es, Waldläufer, und der morgige Tag wird mir genau den Status verschaffen, der mich heute schon auf dich herabblicken lässt.“

Als er nicht antwortete, drehte sie ab und stolperte fast in Chara hinein, die plötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht war.

„Ah, meine Leibwache!“, rief Rosmerta in gespielter Verwunderung. „Willst du dem Landstreicher einen Besuch abstatten? Ich kann mich nicht erinnern, dir den Befehl dazu erteilt zu haben. Aber wenn du schon mal hier bist, berichte ihm doch von den heutigen Ereignissen. Und zwar in allen Details.“

Chara umrundete sie wortlos und schlüpfte an Thorn vorbei ins Zelt, während Rosmerta ihm einen letzten vernichtenden Blick zuwarf und dann davoneilte.

Als Thorn im Zelt war, pfiff er genervt durch seine Schneidezähne und schnappte sich sein Schwert. Wortlos hockte er sich auf sein Deckenlager, zog einen Schleifstein aus seinem Lederbeutel und führte ihn mit sanftem Druck an der schmalen Klinge entlang.

„Wollt Ihr wirklich wissen, was sich abgespielt hat?“, fragte Chara, während sie am Tisch Platz nahm und sich unaufgefordert Wein eingoss. „Ich habe wirklich auf jede Kleinigkeit geachtet und brenne darauf, Euch alle noch so unbedeutenden Vorkommnisse in allen Einzelheiten zu schildern.“

Thorn antwortete, ohne von seiner Arbeit aufzusehen.

„Ihr habt eindeutige Befehle, Chara!“

„Mag sein, aber ich denke nicht, dass Ihr Rosmerta meine Befehlsverweigerung auf die Nase bindet. Also wenn es Euch nicht interessiert, verschwinde ich wieder.“

Thorn blickte auf und musterte sie skeptisch.

„Eine Söldnerin tut, wofür sie bezahlt wird. Seid Ihr eine Söldnerin oder nicht? Haltet Ihr Euch eigentlich an irgendwelche Prinzipien oder tut Ihr grundsätzlich nur das, was Euch gerade in den Sinn kommt?“

„Ich bin Rosmertas Leibwächterin, nicht ihr Laufbursche, und ja, es gibt Prinzipien, an die ich mich halte. Allerdings nicht viele und ich tue mein Bestes, sie gering zu halten.“

Sie blies sich eine ihrer widerspenstigen Haarsträhnen aus dem Gesicht.

„Wollen wir uns jetzt über Prinzipien unterhalten oder soll ich Euch von der Schlacht erzählen?“

Thorn schüttelte den Kopf. Draußen ging die Sonne unter und es wurde dunkel im Zelt. Während Chara eine der dicken Kerzen anzündete, die auf dem Tisch standen, musterte Thorn sie skeptisch. Der Schein der züngelnden Flammen erhellte das Gesicht unter den schwarzen, wirren Haaren und er bemerkte die seltsame Schönheit, die Charas Erscheinung einzigartig machte. Jeder andere im Lager war durch Sonne und Wind wettergegerbt, doch auf der makellosen Haut ihres Gesichts fehlte jegliche Farbe.

„Na gut. Erzählt es mir“, sagte er schließlich. „Aber verschont mich mit Einzelheiten über Rosmertas ruhmvollen Einsatz.“

Chara leerte den Becher in einem Zug, lehnte sich zurück und legte ihre Beine auf den Tisch.

„Wenn Ihr es als ruhmvoll bezeichnen wollt, von hinten Kommandos zu brüllen, dann erspare ich Euch diesen Teil.“

„Ich bitte darum.“

„Die Schlacht erwies sich tatsächlich als Triumph für Rosmerta, auch wenn sie nicht ganz so verlief, wie sie es gerne dargestellt haben will. Zumindest mag Euch das eine oder andere nachdenklich stimmen.“

Sie faltete die Hände hinter dem Kopf und funkelte ihn mit ihren schwarzen Augen an.

„Nachdem einer unserer Späher vor Sonnenaufgang berichtete, dass die Sklavenarmee von ihrem Lager aufgebrochen war, führte Rosmerta ihr Heer zum Pass. Zeitgleich mit den Sklaven bezogen wir knapp unterhalb des Passrückens Stellung, während sich die Sklaven in drei Blöcken über die gesamte Passbreite in einiger Entfernung unseres Walls am Fuß des Passes formierten. Ihr habt ja die Verteidigungsanlage gesehen, die die valianische Armee errichtet hat.“

„Die Plattformen der Magier, der Graben, die Palisade“, zählte er gelangweilt auf. „Die üblichen Maßnahmen eben, abgesehen von den Magier-Plattformen. Die sind neu.“

Chara nickte.

„Die Sklavenarmee bezog also außer Schussweite Stellung. Und dann geschah erst mal gar nichts. Wir haben eine halbe Ewigkeit gewartet, bis sich schließlich drei Reiter aus der Masse lösten und, die weiße Fahne schwenkend, auf uns zuritten.“

Thorn unterbrach seine Wetzarbeit und sah auf.

„Bargh und ich begleiteten Rosmerta.“

„Und?“, fragte Thorn mit ungeduldiger Stimme.

Chara nahm ihre Füße vom Tisch und beugte sich ein Stück vor.

„Cartius war nicht unter den Dreien. Nicht er führte die Verhandlungen, sondern ein Mann mit Namen Holsa Alrik.“

„Einer seiner Vertrauten“, murmelte Thorn gedankenvoll.

„Dieser Alrik forderte jedenfalls unseren Rückzug, woraufhin Rosmerta ihrerseits die Kapitulation der Sklaven verlangte. Wie Ihr Euch denken könnt, ging keiner von beiden auf die Forderung des anderen ein, was uns ein weiteres nutzloses In-der-Gegend-Herumstehen einbrachte, bis sich das feindliche Heer dann endlich auf die Palisade zubewegte.“

„Welche Formation?“, unterbrach Thorn sie.

„Die erste Reihe waren Lanzenträger, die langsam und in einigem Abstand von einer zweiten Reihe gefolgt, vorrückten. Die dritte Reihe bestand aus Bogenschützen. Wir beobachteten, wie sie die erste Hälfte des Weges ohne jede Eile zurücklegten. Erst danach verfielen sie in einen Laufschritt.“

Thorn hatte sein Schwert zur Seite gelegt und schenkte ihr nun seine ungeteilte Aufmerksamkeit.

„Wie haben unsere Leute reagiert?“

„Soweit ich das erkennen konnte, zielte Rosmertas Taktik primär auf die Effizienz der Magier ab. Jedenfalls hatten sie den Löwenanteil zu leisten. Sie beschossen den Feind unentwegt mit ihren Feuerbällen. Schon zu Beginn ihrer Offensive fielen die ersten beiden Reihen. Andererseits wussten sich die Sklaven durchaus zu helfen; offensichtlich waren sie in Sachen Magie nicht ganz unvorbereitet, denn ihre Bogenschützen wehrten den Angriff schließlich ab, indem sie …“

„Ihre Pfeile durch die Feuerbälle jagten und sie zur Explosion brachten, bevor sie ihr Ziel erreichten“, unterbrach sie Thorn. „Ich hab Derartiges schon gehört, kann mir allerdings keinen Reim darauf machen.“

„Na ja, auch Magie basiert auf den Naturgesetzen“, antwortete Chara. „Das Innere der Kugel besteht aus glühender Materie, die so heiß ist, dass sie explodiert, sobald ein Fremdkörper von geringerer Temperatur in sie eindringt. Wie dem auch sei, nachdem die Sklaven mit den Feuergeschossen umzugehen wussten, änderten die Magier ihre Taktik und begannen Blitze auf sie zu schleudern. Dieser Art des Angriffs konnten die Sklaven weniger entgegensetzen. Zwar schützten sie sich so gut es ging mit ihren fast mannsgroßen Schilden und schafften es auf diese Weise sogar bis zum Graben, letztlich wurden sie aber von unseren Bogenschützen in Schach gehalten und schließlich hingemetzelt. Außerdem besaßen Cartius’ Männer kein schweres Geschütz. Viel konnten sie uns also nicht anhaben.“

„Und ihre Verluste?“

Chara goss sich Wein nach und leerte den Becher erneut in einem Zug.

„Ich schätze, an die zehntausend Mann“, sagte sie, knallte den Becher auf den Tisch und stand auf. „So viel dazu.“ Sie ließ ihre Hände in den Manteltaschen verschwinden und war drauf und dran zu gehen.

„Was hättet Ihr an Rosmertas Stelle getan“, versuchte Thorn hastig, sie am Verschwinden zu hindern, „hättet Ihr Liam umbringen lassen?“

Die Frage war völlig aus der Luft gegriffen und im Augenblick alles andere als relevant, doch Thorn musste die Gelegenheit unbedingt nutzen, um mehr über Chara zu erfahren.

Sie sah ihn verblüfft an.

„Was hat das mit Cartius zu tun?“

„Gar nichts. Ich dachte nur …“

„Ich würde mir lieber Gedanken machen, ob dies Euer Krieg ist oder der eines anderen.“

„Tatsächlich?“, fragte Thorn und schielte abwartend zu ihr hoch. Doch Chara fügte nichts weiter hinzu. Da entschied Thorn, alle Vorsicht über Bord zu werfen.

„Warum erteilt Ihr mir Ratschläge? Sucht Ihr meine Freundschaft?“

Jetzt zuckte ein schiefes Grinsen um Charas Mundwinkel.

„Freundschaft ist ein Luxus, den ich mir nicht leisten kann. Und Ihr auch nicht – zumindest sollten Euch dies die vergangenen Geschehnisse gelehrt haben.“

Thorn spürte einen kleinen Stich der Enttäuschung. Er stieß das Schwert zurück in die Scheide und verfiel in Schweigen. Das war’s. Mehr wusste er nicht zu sagen. Erschöpft lehnte er seinen Kopf gegen den Pfosten und schloss die Augen. Er war müde. Er wollte schlafen und sich keine Gedanken mehr über Vertrauen, Verrat, über Cartius oder die Schlacht am Pass machen.

„Ihr habt ein Talent dafür, Euch in komplizierte Situationen zu verstricken, Thorn Gandir“, sagte Chara plötzlich. „Ich denke, ich bin da Euer geringstes Problem.“

Er schlug die Augen auf. Etwas in Charas Stimme war anders als sonst. Sie hatte ihre Schärfe, ihren Sarkasmus verloren. Fast wirkte sie sanft. Würde sie sich jetzt endlich öffnen?

„Es ist nicht so, dass ich Euch nicht leiden kann“, fuhr sie fort, während sie sich langsam dem Ausgang zuwandte. „Auch wenn Ihr das denkt. Es ist auch nicht so, dass ich allem gleichgültig gegenüberstehe. Ich weiß, ich mache diesen Eindruck. Ich bin auf Eurer Seite, Thorn. Trotzdem kann ich Euch keine Freundschaft anbieten. Nicht, solange ich in Rosmertas Diensten stehe.“

Als sie gehen wollte, sprang er auf, packte sie am Arm und drehte sie zu sich herum.

Doch das stellte sich als Fehler heraus. Chara funkelte ihn so wütend an, dass er hastig seine Hand zurückzog.

„Lassen wir die Förmlichkeiten, Chara. Ich bin Thorn. Nenn mich bei meinem Namen.“

Sie stand eine Weile still, in der sie nachzudenken schien. „Wie du willst“, antwortete sie schließlich knapp und verließ dann endgültig das Zelt.

Als Thorn am nächsten Morgen aus dem Lager ritt und Sankris über das ansteigende Gelände zur Passkuppe lenkte, fiel sein Blick auf die Soldaten des Kommandoblocks, der am Passrücken Position bezogen hatte.

Die Sonne hatte den Horizont noch nicht überschritten. Noch herrschte fahles Dämmerlicht.

Die Sklaven hatten sich bereits in der Nacht in Position gebracht. Als ein Späher kurz nach Mitternacht ins Lager gestürmt war und sämtliche Soldaten wachgebrüllt hatte, hatte Thorn sich schlaftrunken aufgerappelt und nur halb motiviert zum Kampf gerüstet.

Doch dann waren ihm Charas Worte durch den Kopf gegangen: Cartius war nicht unter den Dreien. Er war es nicht, der die Verhandlungen mit uns führte.

Danach war er hellwach gewesen. Die Worte ließen ihn nicht los und die Unruhe in ihm steigerte sich mit jedem Mal, da der Satz durch seinen Kopf geisterte; so lange, bis er auf seinem Pferd saß und Richtung Schlachtfeld ritt.

Mit einem unangenehm bedrohlichen Gefühl trieb Thorn Sankris zu einem harten Galopp an und hielt auf den Passrücken zu.

Als er die Kuppe erreicht hatte, erkannte er die für das valianische Heer vorteilhaften Bedingungen des Ortes. Zu seiner Linken auf der anderen Seite des Kommandoblocks stieg das Gelände, das letztendlich in rauen Fels überging, steil an und bildete einen offensichtlich unpassierbaren Einschluss des Kampfbereichs.

Der Pass wirkte wie ein gewaltiges, ausgetrocknetes Flussbett, das sich in den Berg schnitt – eine Rinne von etwa eineinhalb VALM Breite.

Unterhalb des Passrückens erstreckte sich das gesamte Aufgebot der valianischen Einsatzkräfte und wartete in tödlicher Stille auf den Angriff der Sklavenarmee.

Ein Meer von Soldaten breitete sich wie ein silberner Teppich zwischen den Magier-Plattformen bis zur Palisade aus. Die einzigen Farbkleckse in der homogenen Masse aus silbern schimmernden Helmen waren die grünen Wappen auf den Brustpanzern und Helmen.

Thorns Blick wanderte zu den Plattformen, die zwischen den Blöcken aus Soldaten in den Himmel ragten. Dort oben hatte sich beinahe die vollständige Magiergilde eingefunden und bildete einen harten Kontrast zu den eintönigen Rüstungen der Soldaten. Keiner der Magier harmonierte farblich mit dem anderen. Thorn musste trotz der bedrohlichen Lage beim Anblick des bunten Haufens lächeln. Allerdings wusste er nur zu gut, dass man sich von der chaotischen Erscheinung der Magier nicht täuschen lassen durfte. Sie waren wahrscheinlich die gefährlichste Waffe, die Valianor in dieser Schlacht zu bieten hatte.

Der Morgendunst, der über den Bergkämmen hing, begann sich langsam aufzulösen. Trotzdem würde es noch eine geraume Zeit dauern, bis die Sonne aufging. Die Dämmerung gefiel Thorn so wenig wie die Tatsache, dass Cartius sich bis jetzt noch nicht gezeigt hatte.

Die Sklaven hatten sich außer Schussweite unterhalb der Verteidigungsanlage aufgereiht und rührten sich nicht. Obwohl er ihre Gesichter nicht sehen konnte, spürte er regelrecht die Entschlossenheit, mit der sie der valianischen Armee entgegentraten. Diese Männer würden niemals kapitulieren. Sie würden niemals das Einzige aufgeben, für das es sich lohnte, bis in den Tod zu kämpfen: ihre Freiheit. Ein Recht, das sie sich erst kürzlich hart erkämpft hatten. Es jetzt wieder zu verlieren, empfand selbst Thorn als eine zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit.

Beim Anblick der ehemaligen Sklaven zog sich Thorns Magen unangenehm zusammen. Wie aus dem Nichts ergriff ihn ein Gefühl der Scham. Wie kam es, dass er auf jener Seite des Walls Stellung bezog, auf der er sich so fehl am Platz fühlte? Warum stellte er sich einem Heer entgegen, dessen Kampfmotive er mit allen Sinnen nachempfinden konnte, mehr noch, die seinen eigenen nicht unähnlich waren? Doch in diesem Krieg war er weder ein Freiheitskämpfer noch ein Held des Imperiums und er kämpfte auch nicht wie damals in Alba für die Freiheit der Elfen. Er kämpfte ausschließlich, um Kitayschas Tod zu rächen und Rosmerta ihren Sieg streitig zu machen.

Thorn trabte das letzte Stück auf die goldene Standarte zu, wo er Rosmerta vermutete, die höchstwahrscheinlich mit blasierter Miene darauf wartete, dass sich das feindliche Heer in Bewegung setzte. Der Kommandoblock war von den restlichen Truppen durch eine Distanz von etwa einem Viertel VALM getrennt.

Als Thorn Rosmertas Schimmel im Zentrum des Blocks ausmachte, sah er, dass sie von Chara und Bargh begleitet wurde. Beide hatten auf ein Reittier verzichtet. Sie standen reglos neben Rosmertas Stute, wobei einer von ihnen, ganz offensichtlich Bargh, ein gewaltiges Schlachtbeil in den Händen hielt.

Während Thorn sich seinen Weg durch die Leibgardisten bahnte, drehte sich der eine oder andere nach ihm um und griff zögernd, aber in Alarmbereitschaft zum Schwert. Doch Thorn setzte ungerührt seinen Weg fort.

Er lenkte Sankris neben Rosmertas Schimmel und verdrängte dabei Chara, die ohne Widerrede ihren Platz räumte und sich hinter ihre Kommandantin stellte.

Rosmerta hob die linke Hand zum Zeichen für die Gardisten, dass sie ihre Schwerter zurückstecken konnten. Ansonsten würdigte sie Thorn keines Blickes, während Thorn nicht ohne Ärger feststellte, dass sie eine recht beeindruckende Kommandantin abgab.

Der metallene Brustpanzer hob ihren Busen leicht an und formte ein äußerst reizvolles Dekolleté. Eine weiße, durchscheinende Bluse verhüllte ihre sonnengebräunte Brust, worüber er fast enttäuscht war. Ihre langen, kastanienbraunen Haare fielen in einem streng gewundenen Zopf auf ihren Rücken. Die Zügel fest im Griff, den Kopf erhoben und die Wirbelsäule durchgedrückt, stand sie einem männlichen Befehlshaber an Würde und Stattlichkeit in nichts nach. In der rechten Hand hielt sie ihren silbernen Helm. Die Ärmel ihrer Bluse blähten sich im Wind. Ihre Miene war wie versteinert, was ihre Schönheit sofort wieder verblassen ließ.

„Alles angetreten, wie ich sehe“, begann Thorn.

Rosmerta antwortete nicht. Thorn verdrehte die Augen und zog eine Grimasse.

„Was ist?“, fragte sie überheblich lächelnd. „Bereitet dir die kommende Schlacht etwa Unbehagen?“

Thorn band sich die Haare im Nacken zusammen und überging ihre Frage einfach.

„Worauf warten wir eigentlich?“

„Auf eine Regung vonseiten des Feindes.“

Nachsichtig setzte sie hinzu: „Wir sind hier, um der Sklavenbrut den Weg abzuschneiden, nicht um mal eben über unsere Verteidigungsanlage hinwegzusegeln und wie eine irre Meute über sie herzufallen. Kurz nach Mitternacht trafen die Späher mit der Nachricht im Lager ein, dass die Sklavenarmee Richtung Pass marschiert. Seither warten wir darauf, dass die Hunde endlich angreifen, aber bisher hat sich nichts getan. Ich schätze, sie wollen ihre endgültige Niederlage so lange wie möglich hinauszögern.“

Thorns Augen wanderten über die sechs Kohorten der valianischen Streitmacht hinweg, die sich in dreißig Blöcken zu je zweihundert Soldaten formiert hatten.

„Sag mal, wenn du dich dazu durchgerungen hast zu kämpfen, wieso kommst du dann erst jetzt?“, fragte Rosmerta spitz.

„Ich brauchte den Schlaf, um die dunklen Ringe unter meinen Augen wegzubekommen.“

Rosmerta schüttelte missbilligend den Kopf. „Du hast einen seltsamen Sinn für Humor. Ich rate dir, die Sache ernster zu nehmen. Wenn du Testaceus in die Hände spielst, hast selbst du noch die Aussicht auf ein halbwegs sinnvolles Dasein.“

Thorn musste plötzlich an Charas Worte über einschlägige Wege denken. Hier saß er nun auf seinem Ross, wartete darauf, dem Senat einen Dienst zu erweisen, indem er Cartius’ Armee daran hinderte, das Imperium zu durchqueren, und würde womöglich aufgrund dessen endgültig dem valianischen Reich anheimfallen.

Unvermittelt drehte er sich nach Chara um. Sie stand mit vor der Brust gekreuzten Armen hinter Rosmertas Schimmel. Als sie seinen Blick auf sich spürte, hob sie ihren Kopf. Ihre Augen ruhten eine Weile auf seinem Gesicht, bevor sie sich Bargh zuwandte und ihm irgendetwas zumurmelte, woraufhin dieser mit finsterem Blick sein Kriegsbeil absetzte und sich mit den Unterarmen darauf abstützte.

„Jedenfalls müssten sie jeden Moment losschlagen und wie du siehst, sind wir bestens auf sie vorbereitet“, sagte Rosmerta.

„Hm?“

Thorn war nicht bei der Sache. Sein Blick haftete immer noch an Chara. Sie trug ihren schwarzen Mantel, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, und schien keine Eile zu haben, sich auf den Kampf vorzubereiten. Für eine Leibwächterin war sie für seinen Geschmack etwas zu passiv.

„Ja. Bestens“, antwortete er gedankenverloren und zwang sich, seine Aufmerksamkeit wieder auf Rosmerta zu lenken. „Wo ist eigentlich Zenturio Gambini?“

„Dort, wo er hingehört. Ich habe ihn nach vorn geschickt. Von dort aus kann er die Truppen am besten koordinieren und den Feind in Schach halten.“

„Und der Gildenmeister?“

„Albontius feilt sich gerade die Zehennägel.“

„Und auf welcher Plattform tut er das?“, fragte Thorn gelangweilt.

„Auf der mittleren. Er ist der Gildenmeister, nicht irgendein Anfänger!“

Rosmertas spöttische Ader hatte schon längst ihre Wirkung auf ihn verloren. Mittlerweile perlten ihre Provokationen von ihm ab wie Regentropfen von einem Öltuch.

„Ach, und was ich noch sagen wollte …“

Thorn kratzte sich gleichmütig die Bartstoppeln.

„Du vergisst hoffentlich nicht, was ich dir am Tag von Liams Hinrichtung gesagt habe – ich habe es nämlich ernst gemeint.“

Rosmerta runzelte fragend die Stirn.

„Ich verstehe einfach nicht, wieso du dir die Gelegenheit hast entgehen lassen, mich unschädlich zu machen!“, fuhr Thorn entschlossen fort. „Ich habe erst kürzlich gegen einen deiner Befehle verstoßen, doch du hast nichts dagegen getan! Wieso hast du mich nicht dafür bestraft? Wieso hast du nicht die Gelegenheit genutzt und mir zumindest meine Waffen abgenommen? Immerhin habe ich damit gedroht, dich zu töten!“

Rosmertas Augen irrlichterten in sichtbarer Verwirrung über sein Gesicht.

„Gegen welche Befehle hast du verstoßen? Eine Drohung ist keine Befehlsverweigerung. Warum sollte ich dich entwaffnen, nur wegen dieser kindischen Aufschneiderei? Glaubst du im Ernst, du stellst für mich irgendeine Gefahr dar? Hinter mir stehen die bestausgebildeten Soldaten des Imperiums!“

Thorn zögerte. Hatte Rosmerta etwa nichts von seinem Versuch, Liams Leben zu retten, mitbekommen? Einer ihrer Legionäre hatte ihn doch niedergeschlagen.

„Die Leibwächter, die dich so pflichtbewusst umringen, werden nicht immer an deiner Seite stehen“, sagte er leise. „Meine Drohung ist keine Befehlsverweigerung, aber sie ist Grund genug …“

Thorn fuhr herum, als er unmittelbar hinter sich ein Räuspern vernahm. Chara! Sie warf ihm unter ihrer Kapuze einen eindringlichen Blick zu und legte, unmerklich den Kopf schüttelnd, ihren Zeigefinger auf ihre blassen Lippen. In Thorn begann es zu brodeln. Was zum Henker wusste die Söldnerin? Warum hieß sie ihn, den Mund zu halten?

„Wir beide sprechen uns später“, zischte er und drehte sich erneut Rosmerta zu.

Kalte Wut hämmerte gegen seine Schläfen, Wut, hervorgerufen durch die immerwährende Vorherrschaft seines gottverdammten Misstrauens.

Ein Windstoß pfiff durch die Soldatenreihen und blies ihm eine Strähne über die Augen.

Er wischte sie mit einer gereizten Bewegung aus seinem Gesicht.

„Du solltest dir nichts vormachen, Rosmerta. Ich habe zwar nicht geplant, dir in einer Schlacht wie dieser in den Rücken zu fallen. Heute kämpfen wir auf derselben Seite und stellen uns einem gemeinsamen Feind. Dennoch gedenke ich, mich für Liam zu rächen. Ich kann also nicht dafür garantieren, dass ich eine günstige Gelegenheit an mir vorüberziehen lasse.“

„Was …“, stammelte Rosmerta fassungslos.

„Ich bin noch nicht fertig.“

Thorn setzte sich in seinem Sattel zurecht und starrte regungslos über die Köpfe der Soldaten hinweg.

„Möglich, dass ich es irgendwann einmal vergesse. Ich will’s für dich hoffen, aber wetten würde ich nicht darauf. Sicher ist nur, dass ich für keinen Menschen so viel Verachtung hege wie für dich. Selbst mein Zorn auf Cartius verblasst im Vergleich dazu. Er mag Kitayscha auf dem Gewissen haben, aber dass er ein Mann ohne Prinzipien, Ehre oder Mitgefühl ist, möchte ich bezweifeln. Ich habe alles verloren und deshalb habe ich auch keine Angst mehr. Du bist mir …“

Er stockte. Blanker Hass sprang ihn an und er musste sich beherrschen, um seine Stimme im Zaum zu halten.

Er fühlte Charas Blick im Rücken. Doch noch bevor er sich um die Söldnerin kümmern oder seinen Satz zu Ende bringen konnte, erscholl das Trompetensignal, das den Angriff des Feindes ankündigte.

Thorn blickte über die valianische Armee hinweg zur anderen Seite der Verteidigungsanlage und hob die Hand gegen das schräg einfallende Sonnenlicht, das in diesem Moment durch den Nebel brach. Halb geblendet sah er, wie sich das mächtige Sklavenheer vor dem Hintergrund der aufgehenden Sonne langsam in Bewegung setzte.

Rosmerta setzte ihren Helm auf und zischte: „Wir beide sind noch nicht fertig!“

Dann drängte sie ihr Pferd zwischen den Soldaten hindurch, um sich an die Spitze des Kommandoblocks zu setzen und das Schlachtfeld zu überschauen.

Bargh, der den Streit tunlichst ignoriert hatte, folgte ihr entschlossenen Blicks.

Die Kämpfer der ersten Reihen schoben sich wie ein undurchdringlicher Panzer vor. Ihre Schilde klappten in einem Ruck nach vorne und schirmten die Körper der Lanzenträger ab. Unaufhaltsam rollte die riesige Welle an Freiheitskämpfern auf die Palisade zu.

Thorn spähte mit zusammengekniffenen Augen zur Front der valianischen Armee, wo er Gambini auf seiner kastanienbraunen Stute vor den zwischen Palisade und Plattformen postierten Männern auf und ab reiten sah, während jenseits des Walls die Sklaven mit ausgerichteten Speeren auf sie zuhielten. Ihre schweren, gleichmäßigen Schritte hallten von den Bergwänden wider, bis sich ein anderes Geräusch langsam durchsetzte und den Lärm der Sklavenarmee übertönte.

Thorn hob seinen Kopf und beobachtete die Magier auf den Plattformen. Ein dumpfer, monotoner Singsang drang von den Holzgerüsten über den Pass und schwoll allmählich an. Die magischen Worte waren ihm unverständlich. Dennoch erzeugten sie ein sonderbares, beinahe betörendes Gefühl in ihm. Wie ein unsichtbarer Schutzwall legten sie sich um sein Bewusstsein und plötzlich wurde ihm leichter zumute. Er fühlte sich gestärkt, ja, fast unbesiegbar.

Gebannt verfolgte Thorn, wie die Magier ihre Arme in den Himmel streckten und ihre Köpfe in den Nacken warfen. Die Luft um sie herum schien sich plötzlich zu verdichten, bis sie mit einem Mal zu knistern begann, als hätte man sie angezündet, und die Vögel, die sich noch vereinzelt in den kargen Sträuchern auf den Berghängen aufgehalten hatten, stoben panisch in alle Richtungen davon.

Einer plötzlichen Ahnung folgend, drehte Thorn sich um.

Chara stand immer noch hinter ihm und beobachtete ihn aus ihren dunklen Augen.

„Du bist ein Narr, Thorn Gandir“, sagte sie leise, als er sie anblickte. „Wieso erzählst du Rosmerta von deinen Plänen? Was denkst du, erreichst du damit?“

„Darf ich dich fragen, was du hier tust?“, schnauzte er sie an. „Warum, verdammt noch mal, stehst du noch hier und nicht dort, wo du hingehörst? An die Seite deiner Befehlshaberin!“

„Noch ist sie nicht in Gefahr. Aber keine Sorge, ich werde an ihrer Seite stehen, wenn es soweit ist. Erklär mir doch bitte trotzdem, warum du deinem Feind offen drohst? Ziehst du nicht in Erwägung, dass Rosmerta nur darauf wartet, dich zu vernichten? Selbst dein vermeintlicher Schutzpatron Testaceus könnte das nicht verhindern! Vielleicht wäre es sogar zu seinem Besten.“

Weiße Blitze zuckten plötzlich über die valianische Armee hinweg und krachten in die Front der Angreifer. Ein sanfter Brandgeruch breitete sich über dem Pass aus. Offensichtlich hatten die Magier ihre Taktik vom Vortag beibehalten, obgleich es ihnen schwer fallen musste, gegen die Sonne blickend präzise zu zielen.

An Chara schien dies alles wirkungslos vorüberzuziehen, denn sie wandte sich um und starrte auf den felsigen Anstieg, der den Pass im Norden begrenzte. Thorn folgte ihrem Blick.

Weit hinter den Bergen verlief parallel zum Isola-Pass ein schmaler Gebirgspfad, der von hier aus nicht sichtbar war. Thorn wusste von seiner Existenz und er wusste auch, dass er gerade mal breit genug war, um zwei Männern nebeneinander Platz zu bieten.

Und doch, irgendetwas warnte ihn beim Anblick des Bergkamms.

„Warum hast du sie nicht einfach getötet, anstatt sie davor zu warnen?“

Thorn versuchte, Charas Worte zu ignorieren, die wie lästige Mücken seine Gedanken umschwirrten und ihn daran hinderten, einen von ihnen zu Ende zu denken. Er wusste nicht, ob er wütend sein sollte, weil sie ihn davon abhielt, diesem bedrohlichen Gefühl auf den Grund zu gehen, oder weil sie ihm seine Schwächen vorhielt. Doch bevor er seine Gedanken ordnen konnte, ertönte ein leises Sirren in der Luft.

Und dann hob sich plötzlich der Schleier, der sich über seinen Verstand gelegt hatte, und die Angst kroch ihm kalt den Nacken hoch.

* * *

Testaceus ruhte mit dem Gesicht zur Tür auf einer Liege des Tricliniums und ging in Gedanken die Ereignisse der letzten Tage durch.

Die Euphorie, die aufgrund von Cartius’ stetem Vorrücken unter den Sklaven in Valianor aufgekommen war, hatte zu mehreren Anschlägen auf diverse reiche Bürger und andere angesehene Persönlichkeiten geführt, wobei zwölf Menschen ums Leben gekommen waren. Die Sache hatte sich erledigt, sobald die Prätorianergarde verstärkt in den Straßen patrouillierte. Innerhalb von zwei Tagen waren die aufrührerischen Sklaven festgenommen, gekreuzigt und der Friede in den Straßen Valianors wiederhergestellt. Testaceus hatte sich selbst kaum bemühen müssen, was ihm nur recht gewesen war, zumal er sich um Wichtigeres kümmern musste, unter anderem um die Verwirklichung seines Plans.

In seiner Hand hielt er einen länglichen Gegenstand, der mit roten und schwarzen Edelsteinen besetzt war und golden schimmerte. Auf einem der fünf gezackten Metallblätter am Kopf des veredelten Streitkolbens befand sich ein Symbol – ein Schwert, das mit der Spitze nach unten zeigte. Nur die Klinge des Schwertes war silbern, der Rest des Symbols war, wie der Stab selbst, aus purem Gold. Ohne den Gegenstand anzusehen, wog er ihn in seiner Hand und legte ihn wieder neben die schwarze Kiste, aus der er ihn entnommen hatte. Dann stand er auf und ging zum Fenster.

Der Morgen versprach einen wolkenlosen Tag und die Nacht würde noch auf sich warten lassen – eine Nacht, die Rosmerta und dem valianischen Heer wahrscheinlich bange Augenblicke bringen würde. Aber dies beunruhigte ihn nicht weiter. Die Schlacht am Isola-Pass war unbedeutend. Die eigentliche Schlacht würde erst in ein paar Tagen vor den Toren Valianors ausgetragen werden und dann würde sich zeigen, ob Lestrang mit seiner Vision recht behalten sollte.

Testaceus faltete seine Hände und blickte zurück zu dem goldenen Gegenstand, dessen Edelsteine verführerisch glitzerten. Das Zepter der Macht, Valians Zepter

Es würde dafür sorgen, dass er, Testaceus, seinen Plan vollenden konnte.

Thorn Gandir hatte das Zepter in seinem Auftrag nach Valianor gebracht, ohne zu ahnen, welche Bedeutung es in sich barg. Nun würde das Zepter in der Hand von Antonius Virgil Testaceus die Stadt zu neuem Ruhm führen …

Doch wenn das Herz noch schlägt, dann wird sich das Blatt wenden. Denn das Herz schlägt zweierlei: Der Schlag, der liebt, wird aus Liebe zum Leben zum Mörder. Und jener, der herrscht, wird aus Liebe zur Macht zum Sieger. Beide zerschlagen das Schwert.

Und beide sind ihrem Blut treu, doch einer von beiden bricht mit dem maßgebenden Verstand.

Dies waren Lestrangs Worte gewesen. In den nächsten Tagen würde es sich entscheiden und er, Testaceus, würde mit dem Ergebnis zufrieden sein – nicht glücklich, aber zufrieden. Doch nicht das Glück war es, das es zu erstreben galt, sondern die Zufriedenheit und es war nun einmal eine Laune des Lebens, dass es sich nie aller Wünsche annahm.

Einer seiner beiden Vertrauten würde ihn enttäuschen und Testaceus hatte keinen Zweifel daran, wer. Die Frage war lediglich, wann es soweit sein würde. Aber da der Sieg greifbar nahe war, würde er dieser kleinen Abweichung seiner Pläne nicht allzu viel Beachtung schenken. Wichtig war, dass die Helden des Imperiums die Bedrohung nach Valianor führten. Denn eine Bedrohung wurde nur dann als solche wahrgenommen, wenn sie direkt vor der Haustür ihre demoralisierende Macht entfaltete. Ja, wenn sogar Helden an ihr scheiterten, war diese Macht absolut. Und genauso wollte Testaceus sie haben. Der Fall Cartius’ würde Geschichte schreiben. Und Thorn und Rosmerta würden dafür sorgen.

Denn das Herz schlug noch und würde auch morgen noch schlagen, dessen war er sich sicher.

* * *

Die Felsen und Sträucher im Norden des Passes schienen sich plötzlich in Bewegung zu setzen. Gestalten schälten sich unweit von Thorn aus dem ansteigenden Gelände. Mehrere Dutzend Pfeile prasselten auf den Kommandoblock nieder und blieben vibrierend in den Körpern der Legionäre stecken. Kommando- und Schmerzensschreie jagten sich. Thorn sah gerade noch, wie sich die Angreifer direkt auf ihn zubewegten, dann presste er Sankris die Fersen in die Seiten und drängte ihn durch den löchrigen Ring aus Leibgardisten auf Rosmerta zu.

„Hierher!“, schrie er wie von Sinnen. „Das ist ein Hinterhalt! Sie kommen übers Gebirge!“

Beim nächsten Pfeilhagel riss Thorn Sankris zur Seite und atmete erleichtert aus. Kein Pfeil hatte ihn getroffen. Doch dann erspähte er aus dem Augenwinkel, wie unmittelbar hinter ihm jemand zu Boden ging und eine schlimme Ahnung ließ ihn den Kopf herumreißen. Chara!

Mit hämmerndem Herzen rutschte er von Sankris’ Rücken und fiel neben ihr auf die Knie. Sie trug immer noch ihre Kapuze, doch Thorn erkannte entsetzt, dass zwei Pfeile in ihrer Brust steckten.

„Nicht doch!“, presste er hervor.

Cartius’ Falle schnappte zu und er konnte nicht das Geringste dagegen tun!

„Keine Sorge, Gandir“, murmelte Chara und Thorn spürte, wie er sich entspannte. „Alles halb so schlimm. Keine tödlichen Treffer.“

„Ich werde dich ins Lazarett bringen. Ich …“ Er wollte sie schon hochheben, doch Chara drückte seine Hand fort.

„Verschwinde und tu, weswegen du hier bist. Ich komm’ schon zurecht.“

Einen Moment lang konnte er sich nicht rühren. Bleierne Ohnmacht hatte sich über seine Glieder gelegt und drohte, seinen Verstand außer Kraft zu setzen.

Doch dann nickte er, atmete tief durch und griff nach Sankris’ Zügeln. Er beobachtete, wie sich Chara auf die Beine kämpfte. Danach warf er ihr einen letzten Blick zu und marschierte, Sankris hinter sich herzerrend, zwischen den Soldaten durch den aufgeriebenen Kommandoblock, wobei er immer wieder auf dem Boden liegenden Leichen ausweichen musste.

Nachdem er in der Menge verschwunden war, wandte Chara sich ab und ging über die Kuppe zum Lager hinab. Auf dem Weg brach sie die in ihrer Brust steckenden Pfeile ab. Sie zuckte weder zusammen, noch zeigte sich an ihrer Haltung und Bewegung auch nur der Hauch eines empfundenen Schmerzes.

Unterdessen überschlugen sich Thorns Gedanken. Warum hatte er nicht einmal in Erwägung gezogen, dass Cartius eine andere Strategie verfolgte als die, die man von ihm erwartete? Cartius war nicht dumm. Thorn selbst hatte Rosmerta gewarnt, als sie auf der Flucht gewesen waren: Die haben Späher, meine Liebe, gut ausgebildete Späher. Brunius Doridorus Cartius ist nicht irgendein heruntergekommener Sklave! Er war der Zenturio der 21. Legion und für seine wohlüberlegten Kampfstrategien bekannt.

„Ich bin ein verdammter Idiot!“, fluchte Thorn leise.

Rosmertas Schimmel trabte unruhig durch die Reihen der Soldaten und blieb tänzelnd neben Sankris stehen, während seine Reiterin wie wild ins Schlachtgetümmel brüllte, um die Soldaten zur Umorientierung zu bewegen.

Bargh stand breitbeinig daneben, seine Axt fest in beiden Händen, und wartete grimmig darauf, endlich zuschlagen zu können. Wenn Thorn es nicht besser gewusst hätte, er wäre beim Anblick seines furchterregenden Ausdrucks unweigerlich zurückgewichen.

Plötzlich ließ der Vallander sein Schlachtbeil sinken und packte Rosmertas Schenkel.

„Ihr steigt besser vom Pferd, Kommandantin! Sonst erkennen die schon von Weitem, auf wen sie zielen müssen.“

Sein stählerner Blick heftete sich auf ihre Augen, doch Rosmerta starrte ihn nur völlig verständnislos an und schien ihn gar nicht wahrzunehmen.

Soll sie doch bleiben, wo sie ist!, dachte Thorn.

Wenn man sie vom Pferd prügelte, würde ihm das vieles ersparen. Doch Bargh ließ nicht locker. Er schob Thorn sanft zur Seite, packte Rosmertas Arme und hob sie wie eine Feder vom Pferd. Sie ließ es ohne Widerrede geschehen.

Die ersten Angreifer prallten auf die noch verbliebenen Gardisten. Die Soldaten drängten sich um ihre Kommandantin und setzten sich mit ganzer Kraft zur Wehr, doch es waren bei Weitem zu wenige, um dem aggressiven Angriff der Sklaven standhalten zu können. Nahezu ungebremst durchbrachen die Sklaven die Reihen, Schwertklingen blitzten auf und schnitten sich durch Rüstung und Fleisch. Das Klatschen der gegen die Schilde prallenden Gedärme vermischte sich gespenstisch mit dem Geräusch von splitternden Knochen und während ein Gardist nach dem anderen fiel, färbte sich der Boden zu ihren Füßen blutrot.

Thorn ließ Sankris’ Zügel los und drängte die anderen soweit wie möglich ins Zentrum des Kommandoblocks. Sein Blick wanderte immer wieder zu den hölzernen Plattformen weiter unten.

Auf der den Pass zu seiner Linken begrenzenden Anhöhe nahm Thorn eine Bewegung wahr. Entsetzt verfolgte er, wie sich langsam ein weiterer gegnerischer Trupp aus dem Berg herauszuschälen begann und in halsbrecherischem Tempo auf den Ausläufer der Magier-Plattformen zustürmte. Am anderen Ende des Schutzwalls offenbarte sich ihm exakt das gleiche Bild. Die Magierplattformen wurden von beiden Seiten aus angegriffen.

All seine Hoffnung lag nun in den Händen der Magier, die im Augenblick ihre Zauber auf die Hauptbedrohung lenkten – auf jene Angreifer, die von den Berghängen aus die äußersten Plattformen angriffen. Aber Thorn wusste nur zu gut, dass sie einen Großteil ihrer Kraft bereits tags zuvor aufgebraucht hatten. Sie konnten die Angreifer höchstens hinhalten, um ihren eigenen Leuten Zeit zu verschaffen, aber nicht mehr lange. Ihre Energie würde sich bald erschöpfen und dann brauchten sie Zeit und Ruhe, um wieder zu Kräften zu kommen. Cartius hatte seine Sache gut gemacht.

Unmittelbar neben seinem Kopf sauste das Schwert eines Sklaven vorbei, der es geschafft hatte, durch den Verteidigungsring zu brechen. Doch bevor er jemandem Schaden zufügen konnte, hatte Bargh ihm den Schädel gespalten. Im Gesicht des Vallanders klebte das Blut des Angreifers und untermalte auf grausame Weise den unheilvollen Ausdruck seiner Augen. Sein sonst so freundlicher Blick und sein lustiges Augenzwinkern waren wie weggewischt. Bargh lechzte regelrecht nach dem Blut des Feindes.

Rosmerta hatte sich unterdessen wieder gefangen und schrie wie von Sinnen Befehle durch die Gegend. Viele der Leibgardisten waren bereits gefallen, noch bevor sie die Gefahr überhaupt erkannt hatten. Ein kleiner Teil der restlichen Armee hatte sich von den Blöcken gelöst und eilte nun im Laufschritt herauf zum Pass, um den Kommandoblock zu sichern, während der Großteil der Armee verzweifelt versuchte, sich umzuorientieren und die Sklaven rechts und links der Verteidigungsanlage in Schach zu halten. Da sich diese ihrem Sieg nun um einiges näher sahen, gingen sie mit wesentlich stärkerem Engagement zur Sache und brachten den imperialen Widerstand an beiden Enden des Walls in große Bedrängnis.

Thorn wirbelte herum, duckte sich unter dem Schwert eines Sklaven weg und stieß diesem sein eigenes in die Seite. Schwerfällig sackte der Mann in sich zusammen. Während Thorn wieder hochkam, schnitt er einem anderen Sklaven die Beine unter dem Körper weg und wehrte einen Schlag von hinten ab, indem er sein Schwert im letzten Augenblick hochriss. Stahl klirrte, als die Schwerter aufeinanderprallten. Thorn zog seine Waffe so schnell unter dem Druck der anderen Klinge weg, dass sein Angreifer das Gleichgewicht verlor und zu taumeln begann. Thorns nächster Schlag trennte dessen Schwertarm ab.

Unter qualvollen Schreien presste der Verwundete seine Hand auf den blutigen Stumpf, brach nieder und stierte wie paralysiert auf seine grauenvolle Wunde. Thorn ließ ihn in seiner Blutlache knien und hielt nach Rosmerta Ausschau, die, umringt von Bargh und dem Rest der Leibwache, langsam abgedrängt wurde.

Rosmertas Kreischen drang an sein Ohr, als er gerade einem weiteren von Cartius’ Männern das Schwert in die Rippen stieß.

„Wo zur Hölle bleibt die Verstärkung?!“

Wenig später waren die valianischen Soldaten, die von beiden Passseiten aus zum Kommandoblock hochgestürmt waren, bei ihnen. Sie kamen im allerletzten Moment. Inzwischen hatten die Sklaven die beiden Zenturien der Leibgarde bis auf fünf Männer vollständig aufgerieben.

Thorn setzte seinen Weg durch die schwitzenden Legionäre fort, die alles daransetzten, ihre Angreifer in Schach zu halten.

Plötzlich hörte er Rosmertas erstickten Schrei, gefolgt von dem dröhnenden Fluchen des Barbaren.

Der Schrei ging in ein winselndes Kreischen über, das Thorn das Blut in den Adern gefrieren ließ. Es war wie der Schrei eines wild gewordenen Tiers, das in der Falle saß und angesichts seiner Niederlage und des nahenden Todes vor Wut und Angst tobte.

In dem ringsherum herrschenden Chaos nahm Thorn vage wahr, wie sich die valianische Armee allmählich zu ordnen begann und einen Großteil ihrer Schlagkraft auf die Hauptbedrohung lenkte, die sich immer noch auf die äußeren Magier-Plattformen richtete.

„Sie nehmen die rechte und linke Flanke!“, brüllte Zenturio Gambini und Thorn registrierte, wie sich das Hauptkontingent der Sklavenarmee vor dem Schutzwall teilte.

Der Zenturio forderte die Magier auf, die Blöcke an den Flanken zu sichern, und befahl den Schwertkämpfern des mittleren Kampfblocks zu verhindern, dass die feindliche Armee in einen Dreizack-Angriff überging. Offenbar waren Cartius’ Männer jenseits der Palisade drauf und dran, einen Keil zu bilden, um die valianische Armee aufzuspalten.

„Haltet die Palisade!“, drang Gambinis Stimme über den Lärm der Schlacht hinweg. „Die Palisade darf nicht fallen! Habt ihr verstanden?! Haltet sie!“

Thorn dankte den Göttern, dass es ihm erspart blieb, die Truppen zu kommandieren. Er würde um nichts in der Welt mit Gambini tauschen wollen, schon deshalb, weil es nahezu unmöglich war, sich bei dem Lärm das gewünschte Gehör zu verschaffen. Aber die valianischen Streitkräfte funktionierten auch ohne Befehle wie ein perfekt trainierter Schwertarm. Sowohl die Soldaten als auch die Magier reagierten automatisch auf die Strategie der feindlichen Armee und begannen bereits, ihre Kräfte zu sammeln und gegen die jeweils akute Gefahr zu richten.

Eine plötzliche, sengende Hitze erfüllte die Luft, die von den äußeren Plattformen ausging und sich rasch über den Hang ausbreitete. Mit gegen das Sonnenlicht zusammengekniffenen Augen sah Thorn, wie gewaltige Feuerbälle über den Plattformen tanzten und durch die Luft zischten. Gleißende Kugeln von etwa einem Schritt Durchmesser, geschaffen und genährt durch die Magie der Männer und Frauen auf den äußeren Plattformen, schossen brennend auf die Sklaven zu, während die Magier all ihre Kräfte bündelten, um ihren Flug zu kontrollieren. Eine unerträgliche Hitzewelle breitete sich über den Kriegern aus. Thorn vergaß einen Moment lang, die Sklaven im Auge zu behalten, und starrte ehrfürchtig auf die entfesselte Macht der Zerstörung. Doch während die Magier noch ihr tödliches Feuer auf die Sklaven lenkten, sirrten Hunderte Pfeile von den Felsen zur Rechten und Linken des Passes auf sie nieder. Einige Feuerbälle explodierten, noch bevor sie ihr Ziel erreichten und Thorn sah, wie gut ein Drittel der Magier zusammensackte oder in stummer Todesqual von den Plattformen stürzte.

Im selben Moment gingen die noch intakten Feuerkugeln auf ihre Opfer nieder und ließen die Schmerzensschreie der Sklaven als grauenvolles Echo von den Bergwänden widerhallen. Rauch stieg zwischen den heranstürmenden Freiheitskämpfern auf und schraubte sich in schwarzen Säulen in den azurblauen Morgenhimmel. Thorn versuchte, die Bilder der verkohlten und verstümmelten Leichen abzuschmettern und durch den Rauch und das Sonnenlicht etwas zu erkennen. Seinem Eindruck nach hatten die Magier den Ansturm der Sklaven zwar gebremst, aber nicht aufgehalten.

Ein Soldat der zur Hilfe geeilten Nachhut trat ihm schmerzhaft auf den Fuß, als dieser rücklings dem rasselnden Morgenstern eines Sklaven ausweichen wollte. Noch ehe sich Thorn aus der Gefahrenzone manövrieren konnte, klatschte eine blutige Masse gegen seine Wange und rann warm seinen Hals hinab. Hektisch wischte sich Thorn mit dem Ärmel übers Gesicht. Bilder aus der vernichtenden Schlacht im Emlin-Tal drängten sich vor sein inneres Auge. Er umfasste mit hartem Griff sein Schwert. Und plötzlich überwältigte ihn eine unbändige Wut und versengte jeden vernünftigen Gedanken.

Thorn wehrte sich nicht dagegen. Er ließ sich von dem Gefühl und dem brennenden Verlangen nach Rache überwältigen. Mit hasserfülltem Schrei stürzte er sich auf den Angreifer und trieb ihm sein Schwert unterhalb der Schulterblätter mit einer derartigen Kraft in den Leib, dass es auf der anderen Seite wieder austrat. Danach riss er die Waffe zurück und beobachtete mit kaltem Blick, wie der Mann vor ihm auf die Knie sank und mit dem Kopf hart auf einen Stein aufschlug.

Dann, endlich, entdeckte er Rosmerta und Bargh. Der Barbar trug die Kommandantin wie einen Mehlsack über seiner Schulter, während er mit seiner Rechten auf die Sklaven eindrosch. Wie ein Berserker kämpfte er gegen jeden Angreifer, der ihnen zu nahe kam, und schlug mit seiner Axt gewaltige Löcher in die Front des Feindes. Immer häufiger gelang es Einzelnen, sich bis zu Bargh durchzuschlagen, nur um unmittelbar später blutüberströmt vor seinen Füßen zu liegen.

Thorn wollte seinen Weg fortsetzen, doch da beschleunigte sich sein Herzschlag plötzlich merklich. Er spürte, wie seine Beine weich wurden und sein Atem flacher. Taumelnd blieb er stehen und noch bevor ihm bewusst wurde, was passiert war, ließ er sein Schwert fallen und riss seine Hand hoch. Sie blieb an einem Pfeilschaft hängen, der unmittelbar unter seinem Ohr steckte. Thorn stöhnte auf und biss die Zähne zusammen. Im Strudel seiner gehetzten Gedanken drang die Stimme des Barbaren wie ein unheilvolles Fanal zu ihm durch.

Eine Welle aus Angst schlug über ihm zusammen. Thorn wusste, dass der Vallander in schlimmer Bedrängnis war, doch er sah ihn nicht. Stattdessen fühlte er, wie die Kraft seinen Körper allmählich verließ und seine Knie immer weicher wurden.

Zitternd versuchte er, Barghs Namen zu rufen, aber seine Stimme verpuffte zu einem heiseren Flüstern.

Wieder drangen Barghs verzweifelte Schreie an sein Ohr. Thorn versuchte, der Stimme zu folgen und stolperte über einen blutüberströmten Körper.

„Haltet durch, Kommandantin, bitte!“, hörte er Bargh flehen.

Dann vernahm er das Splittern von Knochen.

„Rosmerta, bitte, sterbt jetzt bloß nicht!“

Thorn rang nach Luft, als sich die Klinge eines Schwertes in seine Seite bohrte. Der Stoß war so gewaltig, dass er spüren konnte, wie die Spitze auf seine unterste Rippe stieß. Ein dumpfer Schmerz kroch von seinen Nieren in Arme und Beine. Jede Ader in seinem Körper begann in plötzlicher Alarmbereitschaft heftig zu pulsieren. Zitternd ließ er seinen Kopf auf die Brust sinken und starrte wie gelähmt auf die breite Klinge in seiner Seite. Es war ein so abartiges Bild, dass er glaubte zu träumen. Dann quälte ihn ein plötzlicher Hustenkrampf und riss ihn gewaltsam in die Realität zurück. In flachen Zügen atmend, wankte er einen Schritt rückwärts, doch eine Woge glühender Schmerzen schüttelte ihn so heftig, dass er sich verzweifelt an der Schwertklinge in seinem Körper festklammerte. Alles um ihn herum hatte sich verlangsamt. Thorn verstand nicht, warum sein Angreifer die Waffe nicht zurückzog, warum nichts geschah. Er fühlte nur den Schmerz, die Angst und das Ausbluten seines Körpers. Er spürte, wie sich der kalte Stahl in seine Handinnenfläche schnitt und sah das Blut von seinen Fingern tropfen. Speichel troff von seiner Lippe auf seine Hand. Würgend spuckte er aus, während er krampfhaft versuchte, sich auf den Beinen zu halten und seinen Geist vor dem grauenvollen Anblick unterhalb seiner Brust zu verschließen.

Dann ging ein Ruck durch seinen Körper. Einen zähen Moment lang trafen seine Augen auf die Augen seines Angreifers, der die blutige Klinge zurückgerissen hatte. Thorn fand keine Befriedigung in ihnen. Auch keinen Hass oder Genugtuung. Schweigend wandte sich der Sklave ab und verschwand in der Menge.

Thorn spürte nichts mehr. Seine Beine gaben nach und er stürzte mit dem Gesicht nach unten auf die Erde. Die Schreie des Barbaren drangen nur noch leise und verhalten zu ihm durch.

„Bargh!“, würgte er mit letzter Kraft hervor.

Und dann ertönte ein Surren in seinen Ohren, das immer lauter wurde. Es war vorbei.

Cartius hat seine Sache gut gemacht!

Es war der letzte Gedanke, bevor ihn die Dunkelheit umfing.

Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 1 und 2

Подняться наверх