Читать книгу Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 1 und 2 - J.H. Praßl - Страница 21
Erwachen
ОглавлениеRosmertas verschleierter Blick wanderte über den festen Verband um ihren Bauch bis zu ihren nackten Beinen, die lustlos von der Bettmatratze baumelten. Die Nacht war über den Isola-Pass hereingebrochen und draußen herrschte eine beängstigende Ruhe. Zum ersten Mal seit Langem war Rosmerta nicht zum Sprechen zumute. Im Grunde war ihr nach gar nichts zumute und sie hätte am liebsten ihre Augen geschlossen, sich auf das Kissen in ihrem Rücken fallen lassen und vergessen – vergessen, dass sie die fähigsten Soldaten des Imperiums bei ihrem ersten Einsatz als Kommandantin in eine Niederlage geführt hatte. Mit der verbliebenen armseligen Resttruppe würde sie diese Schlacht nicht mehr gewinnen können.
Und Cartius, wo auch immer er war, amüsierte sich wahrscheinlich blendend darüber, dass der Senat eine Frau zur Befehlshaberin seiner Truppen auserkoren hatte. Er saß ganz bestimmt mit seinen Kumpanen bei einem Fass Wein und schilderte in den schillerndsten Farben, wie er, ehemaliger Zenturio und Stolz des valianischen Militärs, eben diesem einen gewaltigen Strich durch die Rechnung gemacht hatte und das nur deshalb, weil sie alle zu dämlich gewesen waren, seine ach so geniale Strategie zu durchschauen. Einen Trupp seiner fähigsten Leute über die Berghänge zu schicken, auf diesem Weg den Kommandoblock aufzureiben und die Flanken der Verteidigungsanlagen anzugreifen, war in der Tat ein Geniestreich. In dem entstandenen Chaos und mit der Sonne im Rücken konnte er dann mit seiner Hauptstreitmacht ungehindert die Palisade stürmen lassen. Rosmerta wusste, dass sie sich vor dem Senat würde verantworten müssen, falls sie dieses Desaster überleben sollte, und das würde eine höchst demütigende Angelegenheit werden.
Die tiefe Wunde über ihrem Bauch schmerzte noch, hatte sich aber geschlossen. Die Heiler hatten großartige Arbeit geleistet. Trotzdem fühlte sie sich ausgelaugt und durstig und ihre Heilung war nur ein schwacher Trost. Nichts konnte die Schmach der Niederlage erträglicher machen. Nicht einmal die Tatsache, dass sie trotz der schweren Verletzung überlebt hatte. Vielleicht wäre der Tod einer derartigen Demütigung sogar vorzuziehen. Rosmerta schlang sich das Laken um die Brust und stand auf. Abwesend starrte sie auf den reich verzierten Holztisch und trat mit ihren nackten Füßen die Fransen des Teppichs platt. Aus ihrer inneren Leere drängte ein vertrautes Gefühl an die Oberfläche, das sie seit ewigen Zeiten nicht mehr empfunden hatte – der stechende Schmerz absoluter Einsamkeit und das quälende Verlangen nach dem Schutz und der Obhut eines Menschen, der sie liebte. Ihre Schultern begannen zu zittern. Mit einem verzweifelten Schluchzen sank sie zu Boden, rollte sich zu einem kleinen Bündel ein und zog das Laken über ihren Kopf. Thorn! Es war alles seine Schuld! Bei all ihren Überlegungen, wie sie sich für seine Beleidigungen rächen konnte, hatte sie den Überblick verloren! Und nun war sie allein und gescheitert.
Wie lange sie weinend auf dem Boden kauerte, wusste sie nicht, aber als sie sich gerade aufrappeln wollte, schob Zenturio Gambini die Zeltplane zur Seite und machte große Augen.
Rosmerta raffte das Laken um ihre Brust und erhob sich, so schnell sie konnte. Ihre Haare klebten an den noch tränennassen Wangen und ihre Augen waren rot und verquollen.
Als der Zenturio salutierte, erhob sie stolz den Kopf.
„Verzeiht die Störung, Kommandantin, aber ich habe Euch etwas mitzuteilen.“
„Warum lungert Ihr dann noch im Eingang herum?!“, fuhr sie ihn wütend an und wandte sich ihrer Kleidertruhe zu.
Mit sicherem Griff zog sie eine weiße Tunika heraus und ließ vor den verlegenen Blicken Gambinis das Laken fallen, bevor sie das weiße Leinen überwarf.
„Worauf wartet Ihr?!“, blaffte sie ihn an, während sie sich die Kordel um die Hüften band und ihn dabei keines Blickes würdigte. „Fangt schon an!“
„Natürlich, Kommandantin … Mein Fehler! Verzeiht.“
Er steuerte auf den Tisch zu, wo er vorerst unsicher stehen blieb.
Rosmerta setzte sich auf einen Stuhl, schenkte sich Wein ein und schwenkte lasziv den Becher, wobei sie Gambini bedeutete, sich zu setzen. Nachdem er ihrer Einladung gefolgt war, sah sie ihn erwartungsvoll an.
„Nun, die Lage ist äußerst verdrießlich“, begann Gambini und griff sich auf einen Fingerzeig Rosmertas hin den anderen Becher.
„Was Ihr nicht sagt!“
Rosmerta fühlte sich peinlich berührt. Sie hatte sich eine unerlaubte Blöße vor diesem Mann gegeben und hätte alles dafür getan, die Sache rückgängig zu machen. Nun konnte sie nur noch versuchen, wenigstens einen Teil ihrer Würde zurückzugewinnen. Einen Augenblick lang vergaß sie die Anwesenheit des Zenturios und schloss die Augen. Der Alkohol rann ihr samtig die Kehle hinab und wärmte sie von innen. Die Tränen hatten die Qual der Einsamkeit, die Angst zu versagen und die Sehnsucht nach Verständnis und Geborgenheit weggespült. Es war das letzte Mal gewesen, dass sie sich von derartigen Gefühlen hatte hinreißen lassen und das allerletzte Mal, dass sie eine solche Schwäche zuließ. Die Leute sollten über sie denken, was immer sie wollten, sie würde sie schon eines Besseren belehren. Sie war mehr wert als die anderen und jeder, der daran zweifelte, würde seine Meinung ändern, sobald er ihr persönlich gegenüberstand – und in letzter Konsequenz vor ihr zu Kreuze kriechen, dessen war sie sich sicher. Sie selbst würde dafür sorgen.
„Kommandantin Rosmerta, Ihr habt gestern eine große Schlacht geschlagen, Ihr habt Eurem Namen alle Ehre …“
„Erspart mir die Speichelleckerei und kommt zur Sache!“, unterbrach sie ihn unwirsch. „Was habt Ihr mir zu sagen?“
Gambini sog die Luft ein und versuchte, seinen Ärger hinunterzuschlucken.
„Wie wir feststellen mussten, hat man uns mit dem Lager, das die Sklaven am Fuß des Passes aufgeschlagen hatten, erfolgreich hinters Licht geführt! Die Größe des Lagers deckt sich bei Weitem nicht mit der Größe der Streitmacht. Das Lager ist auf die Größenordnung einer dreihunderttausend Mann starken Armee zugeschnitten. Tatsächlich ließ Cartius aber höchstens ein Zehntel davon am Isola-Pass gegen uns antreten. Wir haben also höchstens gegen dreißigtausend Mann gekämpft.“
Rosmerta klemmte sich eine Haarsträhne hinters Ohr.
„Und wo befinden sich die restlichen zweihundertsiebzigtausend?“
Gambini rieb sich seufzend die Augen.
„Genau das ist es, was ich Euch gerade mitteilen wollte und was mir heftige Kopfschmerzen bereitet. Gerade haben drei unserer Späher berichtet, dass fast ein Drittel des restlichen Sklavenheers auf dem Weg nach Valianor ist. Sie haben am westlichen Fuß des Passes ihr Lager aufgeschlagen. Das bedeutet, wir sind eingekesselt. Wir können weder Richtung Nadrus-Tal, denn dort stehen immer noch fast zwanzigtausend Sklaven, die uns den Weg abschneiden, noch nach Valianor.“
Rosmerta spuckte den Wein zurück in den Becher und starrte ihn fassungslos an.
„Wie bitte? Soll das heißen, wir sitzen auf diesem gottverdammten Pass fest?“
Gambini nickte.
„Genau das, ja.“
Rosmerta stand, den Becher umklammernd, ruckartig auf, wobei sie etwas Wein auf den prachtvollen Teppich verschüttete und begann, verfolgt von Gambinis sorgenvollen Blicken, rastlos im Zelt herumzuwandern.
„Seid so gut und erklärt mir das. Ich habe nämlich das Gefühl, ich komm’ hier nicht ganz mit. Wie bei allen Dämonen finsterster Gestalt kommt Cartius mit einem Drittel seines dreihunderttausend Mann starken Heers vom Nadrus-Tal in das Gebiet jenseits des Passes, ohne dass wir Wind davon bekommen?!“
Gambini schluckte und starrte düster auf die Tischplatte.
„Sie haben den Weg über die Berge genommen und sind so um uns herummarschiert.“
„Was?! Welchen Weg?!“
„Den alten Bergpfad“, antwortete Gambini so leise, dass Rosmerta ihn gerade noch verstehen konnte.
Sie blickte ihn an, als hätte er den Verstand verloren.
„Diesen Trampelpfad? So ein Schwachsinn, der ist gerade mal breit genug, dass ein oder höchstens zwei Mann darauf gehen können, von Pferden ganz zu schweigen!“
„Richtig, und doch hat er seine Armee dort hinübergeschickt. Dann sind sie eben hintereinander und nicht nebeneinander gegangen – mit leichtem Gepäck, während wir uns zwei Tage lang mit den dreißigtausend Sklaven am Pass bekriegten.“
„Zweihundertsiebzigtausend Männer im Gänsemarsch?!“
„Ganz genau.“
„Das heißt, etwa hundertachtzigtausend Sklaven sind noch unterwegs, während der Rest bereits auf Valianor zu marschiert.“
„So ist es.“
Rosmerta blieb vor dem Tisch stehen und fuhr sich verwirrt durch ihr verfilztes Haar.
„Über die Berge also“, murmelte sie und kaute nervös auf ihrer Unterlippe.
Sie kippte den Wein hinunter, knallte den Becher auf den Tisch und schritt entschlossen zur Karte.
„Kommt her!“, forderte sie Gambini auf, der sich auf der Stelle aus seinem Stuhl erhob.
Mit einem Blick auf die Karte meinte er zögernd: „Ich sehe da nur eine Möglichkeit, Kommandantin.“
„Dann seid so freundlich und teilt sie mir mit!“
Gambini stützte sich mit einer Hand auf den Kartentisch und zeigte mit dem Finger auf einen schmalen Weg, der von der Passkuppe über die Berge Richtung Süden verlief und dann zur Hauptstraße nach Valianor führte.
„Dies ist ein alter Bergweg. Ein Weg, der noch schmaler ist als jener, den Cartius nutzte, aber die einzige Möglichkeit, einen Boten nach Valianor zu entsenden, der dem Senat unsere Lage schildert. In der Zwischenzeit werden wir die Sklaven so lange wie möglich in Schach halten. Unsere Soldaten werden bis zum Tode kämpfen, wenn es sein muss. Vielleicht schickt man uns Verstärkung. Vielleicht halten wir solange durch.“
„Pff! Lächerlich! Es gibt keine Verstärkung! Glaubt Ihr, dass man uns sonst mit den wenigen Soldaten hätte losziehen lassen? Ganz sicher nicht.“ Grübelnd starrte sie auf die Karte.
„Nein, es muss eine andere Möglichkeit geben.“
„Es gibt keine andere Möglichkeit“, sagte Gambini nachdrücklich.
Rosmerta warf ihm einen verächtlichen Blick zu. Sie verspürte nicht die geringste Lust, mit ihren Soldaten ehrenvoll auf dem Schlachtfeld zu sterben. Dies mochte unter Männern so üblich sein, aber für eine Frau ihres Niveaus war es völlig inakzeptabel. Sie hatte andere Pläne und war noch lange nicht bereit, ihr Leben einfach wegzuwerfen. Gedankenschwer starrte sie auf den Bergweg. Es gab bestimmt eine Alternative. Es gab immer eine Alternative! Besonders in solchen Belangen war sie stets findig gewesen, vor allem, wenn es um ihr eigenes Leben ging.
Und dann kam ihr eine Idee. Eine idiotisch einfache Idee!
Ein Lächeln wanderte über ihr Gesicht, als sie ihren Blick von der Karte hob. Nein, es war noch lange nicht an der Zeit, sich über das Sterben Gedanken zu machen! Die Hände hinter dem Rücken gefaltet, drückte sie sich mit den Fußballen vom Boden ab und sah Gambini fest in die Augen.
„Was Cartius keine Probleme macht, bringt auch mich nicht in Verlegenheit.“
„Wie bitte?“, fragte der Zenturio verwirrt und Rosmertas Stimme wurde kalt und scharf: „Ich befehle den sofortigen Aufbruch! Das Lager wird genauso belassen, wie es ist. Mit anderen Worten, die Zelte, die Palisade, die Plattformen und so weiter bleiben, wo sie sind! Keiner der Soldaten soll auf die Idee kommen, seine Rüstung anzulegen, sondern diese stattdessen geräuschsicher verpacken, ebenso seine Waffen.“
Sie wedelte mit der Hand vor Gambinis Gesicht herum, als wollte sie etwas Nervtötendes abschütteln.
„Sie sollen sie in Tücher wickeln oder was weiß ich! Hauptsache, die Metallteile machen beim Marschieren keinen Lärm! Ich erwarte, dass alle abmarschbereit sind, sobald ich meinen eigenen Krempel zusammenhabe. Bis dahin gilt, sich so leise wie möglich zu verhalten!“
Der Zenturio starrte Rosmerta fassungslos an, die sich lässig in ihren Stuhl fallen ließ.
„Wohin sollen wir aufbrechen?“
„Seid Ihr schwer von Begriff?! Ihr habt mir gerade ans Herz gelegt, einen Boten über den alten Bergweg zu schicken. Genau das werden wir tun! Nur, dass ich der Bote bin und mich mein Heer begleiten wird. Warum nur einen Boten schicken, wenn wir alle fliehen können?“
„Aber …“
Rosmerta trommelte gereizt mit ihren Fingernägeln auf die Sessellehne.
„Ihr befolgt jetzt auf der Stelle meinen Befehl, habt Ihr verstanden!“, fauchte sie.
Gambini steuerte auf den Zelteingang zu, blieb dann aber stehen.
„Und was passiert mit den Verletzten?“, fragte er, ohne sich umzudrehen.
„Na, was schon! Die, die laufen können und noch kampffähig sind, kommen mit. Die anderen werden zurückgelassen! Ich hoffe, die Magier haben ihr Bestes getan, um die meisten wiederherzustellen! Und Gambini …“
„Kommandantin?“
„Schickt mir Albontius!“
„Zu Befehl, Kommandantin!“
Als Gambini das Zelt verlassen hatte, lehnte sie sich entspannt zurück und ließ den Kopf auf die Stuhllehne sinken. Vielleicht ergab sich durch die Flucht sogar eine Möglichkeit, die Sache wieder ins Reine zu bringen. Eine neue Schlacht gegen diesen heruntergekommenen Bastard von einem Sklavenführer – das wäre die Chance, das Blatt zu wenden!
Rosmerta stand ruckartig auf und schüttelte ihr langes Haar nach hinten. In der Mitte des Zeltes blieb sie breitbeinig stehen und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. Sie würde den Senat schon so weit bringen, ihr diese Chance nicht zu verwehren. Wenn sie es wollte, konnte sie jedem einen Gefallen abringen. Ein Lächeln kräuselte ihre Lippen.
„Albontius, Albontius“, murmelte sie in Erwartung des Gildenmeisters. „Da bin ich ja mal gespannt, was deine Heiler bei einem Toten noch zu richten vermochten. Ich fürchte, nicht das Geringste. Mein armer Gefährte! Deine Drohung ist auch ohne mein Zutun hinfällig …“
„Wie?“, wandte sich Thorn an Albontius und richtete sich unter dem tadelnden Blick der Heilerin, die seine Wunden versorgte, auf.
Albontius stand an Charas Lager und begutachtete mit kritischem Auge den Verband, den man ihr um die Brust gelegt hatte.
„Nun ja, Meister Gandir! Ich denke …“
Er warf Thorn einen unsicheren Blick zu, während er mit dem Zeigefinger hektisch gegen seine Unterlippe tippte.
„… Ihr habt keine Ahnung, wie Magie funktioniert!“, brachte er seinen Satz schließlich triumphierend zu Ende. Auf seinem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus.
„Wisst Ihr, wir Magier sind aus Fleisch und Blut und auch wenn Magie eine mächtige Waffe ist, so ist der, der sie beherrscht, dennoch ein Mensch wie jeder andere.“
Thorn tastete geistesabwesend nach der Einstichwunde unterhalb seiner Rippen. Seine Hand fühlte lediglich eine geschwollene Stelle intakter Haut, wo vorher ein tiefes, blutendes Loch gewesen war, und alles, was an seine entsetzliche Verletzung erinnerte, war eine gewisse Benommenheit und die Schmerzen, mit denen er noch zu kämpfen hatte.
„Schon gut, ich kann alleine aufstehen“, ertönte Charas gereizte Stimme aus der anderen Hälfte des Zeltes.
Mittlerweile meinte Thorn, den Grund für Charas seltsames Verhalten während seines Streits mit Rosmerta zu kennen. Es gab nur eine Erklärung dafür, warum Rosmerta nichts von seinem Rettungsversuch Liam betreffend wusste, Chara hingegen schon. Jedenfalls würde er die Sache noch mit der Söldnerin klären müssen.
„Geht es dir gut?“, fragte er sie vorsichtig.
Chara schüttelte Albontius’ Hand ab und wankte noch etwas unsicher zu dem Stapel mit Waffen und Rüstungen.
„Es ginge mir besser, wenn nicht ständig jemand an mir herumfingern würde“, murrte sie, während sie den ledernen Brustpanzer über ihr Hemd schnallte.
„Wieder ganz die Alte“, grinste Thorn, wurde dann aber ernst und lenkte sein Augenmerk auf Albontius zurück. „Ich nehme an, die Magier sind deshalb angreifbar, weil sich auch ihre Kraft irgendwann erschöpft, was im Augenblick ja leider der Fall ist. Ihr braucht Zeit, um wieder zu Kräften zu kommen, richtig?“
Albontius nickte.
„Die Magie kann sich erschöpfen“, murmelte der Gildenmeister geistesabwesend und senkte seinen Blick zu Boden, wobei ihm sein verfilztes graues Haar ins Gesicht fiel.
„Genau das meinte ich“, versuchte ihn Thorn aus seinen Gedanken zu reißen.
Albontius presste nachdenklich die Lippen aufeinander.
„Es ist meine Schuld, dass sich die Sache verwirrt. Schließlich war Eure Frage recht präzise formuliert. Ihr wolltet wissen, wann wir wieder bei Kräften sein werden, richtig?“
Thorn sah ihn fragend an. Er hatte vergessen, was er eigentlich wissen wollte.
„Wir sind bei Kräften, sind wir, ja, ja …“, fuhr Albontius selbstsicher fort, wobei er sich geräuschvoll räusperte.
„Das Dumme ist nur, dass wir deshalb noch lange nicht imstande sind, unsere Magie einzusetzen.“
Thorn beugte sich nach vorne und sah den Magier irritiert an.
„Das heißt …“
„Verzeiht, Meister Gandir!“
Albontius wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht, als wolle er eine Fliege verscheuchen und strahlte Thorn mit einem entschuldigenden Lächeln an.
„Seht Ihr, ein Magier ist wie ein Gefäß. Eines, das zumindest im Idealfall bis zum Rand mit der Kraft der Magie gefüllt ist. Das Gefäß wird sich nicht leeren, solange der Magier seine körperlichen Kräfte bewahrt. Magische Kraft und physische Konstitution sind untrennbar miteinander verbunden. Erschöpft sich die Kraft, erschöpft sich die Magie – mit anderen Worten, das Gefäß leert sich. Könnt Ihr mir folgen?“
Thorn wollte gerade anmerken, dass er es so genau gar nicht zu wissen brauchte, doch Albontius fuhr gnadenlos fort und Thorn warf Chara einen hilflosen Blick zu.
Chara zuckte die Schultern und schnappte sich ihr kleines schwarzes Buch.
„Also, wie Ihr ganz sicher wisst, Meister Gandir, besitzt jedes Lebewesen ein, nun, wie soll ich sagen?“
Er kratzte sich an der Wange und schob die Unterlippe vor.
„Ein Fundament … Nein, das ist ein unpassender Ausdruck …“
Summend marschierte er im Zelt auf und ab, während Thorn ihm entgeistert hinterherblickte.
Schließlich hob Albontius triumphierend den Finger.
„Einen Kern – das ist es, was ich sagen wollte! Nun, der Kern ist das, was ein bestimmtes Lebewesen zu eben genau diesem Lebewesen macht, das es tatsächlich ist. Deshalb muss er in jedem Fall erhalten bleiben, damit das Lebewesen selbst erhalten bleibt. Ähnlich verhält es sich mit der Magie. Seht Ihr, wenn der Kern der Magie zerstört wird, wird die Magie als Ganzes zerstört und kann sich nicht regenerieren …“
„Und Ihr habt Euch heute derart verausgabt, dass Ihr kaum noch bei Kräften seid, und darum ist Eure Magie auch nicht einsatzfähig“, fasste Chara abwesend zusammen. „Bedeutet, wenn die Magier jetzt in einer Schlacht ihre Zauber wirken würden, würde ihr magischer Kern Schaden nehmen und wäre damit unwiderruflich zerstört.“
Sie ließ sich mit ihrem Notizbuch auf ihr Lager fallen und begann zu schreiben.
„Nein, meine Liebe, nein!“, hauchte Albontius und schlug sich entrüstet auf die Brust. „Ihr scheint meinen Worten nicht folgen zu können! Der magische Kern kann nicht beschädigt werden, beziehungsweise schon … nein … oder …“
Er fuhr sich irritiert durch sein struppiges Haar und warf Chara einen hilflosen Blick zu.
„Ich habe den Faden verloren …“, murmelte er bedrückt. Er begann, verwirrt im Zelt auf und ab zu gehen und verfiel in dumpfes Brüten.
„Was war das denn?“, fragte Bargh, der schon des Längeren im Zelteingang gestanden und das Gespräch mitverfolgt hatte.
Seine Axt auf der Schulter, marschierte er zu Thorn, bückte sich zu ihm und murmelte hinter vorgehaltener Hand: „Also, wenn alle Magier so sin’, frag’ ich mich, ob ich auch nur einen von ihnen um mich haben will, wenn’s drauf ankommt. Das is’ ja gemeingefährlich!“
Er legte die Axt liebevoll neben die anderen Waffen und warf Albontius, der wieder leise vor sich hin summte, einen beunruhigten Blick zu.
Plötzlich wurde die Zeltplane beiseite geschlagen und Gambini trat ein.
„Die Kommandantin möchte Euch sprechen, Meister!“, wandte er sich an Albontius und hielt die Plane für ihn zur Seite.
Albontius wirbelte herum und fixierte den Soldaten mit stechendem Blick. Alle Verwirrung war aus seinem Gesicht gewichen. Stattdessen hatte sich eine bedrohliche Falte über seiner Nase gebildet.
„Möchte sie das!“, meinte er mit einer Stimme, die klang, als würde man eine Messerklinge über die Kante eines Blatt Pergaments gleiten lassen.
Gambini überhörte den scharfen Unterton und wandte sich den anderen zu.
„Und ihr macht euch marschbereit! Wir brechen in Kürze nach Valianor auf!“
Bargh verschluckte sich fast an seiner Spucke. „Wu’dn?!“, würgte er hervor, was Thorn als ein verzweifeltes Warum denn? interpretierte.
Gambini, der Barghs Einwurf ignorierte, zog die Zeltplane noch weiter zur Seite und nickte Albontius zu.
Bevor er und der Magier das Zelt verließen, drehte sich Albontius noch einmal um.
„Haltet euch möglichst ruhig, meine Lieben, und achtet darauf, dass ihr genug trinkt! Und keine Sorge! In den nächsten Tagen werdet ihr ganz bestimmt wieder einsatzfähig sein!“
„Aber noch lange nicht bei Laune“, murmelte Chara und führte ihre Feder in großzügiger Schrift über das Pergament, während Thorn sich damit abmühte, eilig in seine Lederhose zu schlüpfen.
„Der Befehl lautet: Rückzug bis nach Valianor?“, fragte Bargh fassungslos. „Versteht ihr das? Wir können sie doch schlagen, wenn wir uns ranhalten. Ich bin sicher, wir können. Ihr nich’ auch?“
Als weder Chara noch Thorn antworteten, stopfte er missmutig seinen Kram in den Rucksack.
„Verstehst du das?“, fragte er Thorn.
„Wenn ich ehrlich bin, ja. Es wird langsam ganz schön eng hier. Du hast Albontius doch gehört! Die Magiergilde kannst du fürs Erste vergessen! Mehr als die Hälfte der Magier sind heute gefallen.“
Thorn schlug die Zeltplane zurück und hastete unter Schmerzen Albontius hinterher.
„Wie geht es denn unserem Waldläufer?“, fragte Rosmerta mit einem sardonischen Lächeln, als Albontius das Zelt betrat.
„Dem geht’s bestens!“, antwortete Thorn, der sich unmittelbar hinter dem Gildenmeister ins Zelt drückte.
Rosmerta riss ungläubig die Augen auf, was Albontius ein leises Lächeln entlockte. Der Gildenmeister trat einen Schritt zur Seite, damit Rosmerta Thorn in seiner vollen Größe bewundern konnte.
„Wie Ihr seht, ist mit Meister Gandir alles in bester Ordnung“, antwortete er sanft.
Rosmerta versuchte, ihre Überraschung zu vertuschen, indem sie sich schwungvoll aus ihrem Sessel erhob und sich mit geschäftiger Miene auf Thorn zubewegte.
„Schön!“, sagte sie mit dünner Stimme.
„Wohl kaum“, antwortete Thorn und musterte sie mit kaltem Blick.
Rosmerta überging seine Bemerkung.
„Dann kannst du dir gleich einen Schwung Soldaten schnappen, um uns auf der Flucht Rückendeckung zu geben!“
„Wie praktisch!“, antwortete Thorn. „Ich nehme an, du reitest an der Spitze des Heeres?“
„Gewiss.“
Thorn warf Albontius einen Blick zu. Der Magier verfolgte lächelnd das Geschehen und kämmte sich mit seinen Fingern das verfilzte Haar.
„Also gut“, sagte Thorn schließlich und drehte sich wieder zu Rosmerta um. „Wenn …“
„Du darfst wegtreten!“, schnitt sie ihm den Satz ab.
Thorn stierte sie hasserfüllt an, doch er sah keinen Sinn darin, noch weiter mit ihr zu verhandeln und verließ mit einem Seitenblick auf Albontius kommentarlos das Zelt.
Der Weg über den Gebirgspfad stellte sich als wesentlich mühsamer und gefährlicher heraus, als Rosmerta angenommen hatte. Anfangs kamen sie noch recht rasch voran, zumal je zwei nebeneinander gehen konnten und sich die Tücken des unwirtlichen Gebiets mit seinen gefährlichen Tiefen und zeitweiligen Geröllabgängen noch in Grenzen hielten. Doch dann wurde es stetig risikoreicher.
Immer wieder trafen sie auf plötzlich abfallendes Gelände und so schmale Passagen, dass der Berg unmittelbar neben ihren Füßen steil abfiel. Viele der Soldaten waren verletzt, der Rest war erschöpft, todmüde und von stetig sinkender Moral.
Die valianischen Legionäre konnten sich nur schwer mit der Tatsache ihrer Flucht abfinden, was Rosmerta schlicht ignorierte. Sie wusste um den Missmut, den ihre Entscheidung unter den Soldaten ausgelöst hatte, doch keiner von ihnen hätte sie dazu bewegen können, anders zu entscheiden. Es widersprach einfach jedweder Vernunft, die Männer inklusive ihr selbst ohne Aussicht auf einen Sieg in einer Schlacht wie dieser zu opfern. Die Verluste wären ebenso inakzeptabel wie der Anspruch, dass eine Frau von ihrem Rang ihr Leben für nichts als die Ehre hingeben sollte.
Zumindest zehn ihrer Männer ließen auch so ihr Leben. Vier von ihnen erlagen auf der anstrengenden Reise ihren Verletzungen. Vier rutschten in einem unbedachten Moment ab, stolperten oder übersahen einen Abgrund und stürzten in die Tiefe. Der Rest fiel Steinschlägen zum Opfer.
Der einzige Lichtblick war, dass während ihres gesamten Fußmarsches keiner von Cartius’ Männern gesichtet wurde.
Thorn und Rosmerta kamen sich zu keinem Zeitpunkt in die Quere, weil beide penibelst darauf bedacht waren, ihre Positionen zu halten, der eine am Ende des Heeres, die andere an der Spitze.
Das Heer marschierte zwei Tage und Nächte durch und erreichte am Morgen des dritten Tages völlig abgekämpft die Hauptstadt des Valianischen Imperiums.
Erst dann kam die eigentliche Herausforderung auf Rosmerta zu: Sie musste dem Senat gegenübertreten und sich sowohl für ihre peinliche Niederlage als auch für ihre Entscheidung zur Flucht rechtfertigen. Gleich nach dem Eintreffen ihres noch verbliebenen Heeres in der Hauptstadt folgte eine äußerst qualvolle und für Rosmertas Geschmack viel zu lang andauernde Unterredung. Doch trotz ihrer klammen Vorahnung war das Resultat unerwartet erfreulich, wenn auch mit dem bitteren Beigeschmack, dass ihr nur ein Tag Ruhepause zugesprochen wurde, bevor man sie erneut in die Pflicht nahm.
Testaceus war, all ihren Vermutungen zum Trotz, über ihren Einsatz am Isola-Pass zufrieden gewesen. Er hatte ihr einen herzlichen und standesgemäßen Empfang bereitet, sie mit unangenehmen Fragen über den Ablauf und die Gründe für ihr weiteres Vorgehen gequält und am Ende den Senat dazu gebracht, sie damit zu beauftragen, einen nicht unwesentlichen Teil der Armee in der nächsten Schlacht gegen Cartius zu befehligen, was äußerst überraschend für Rosmerta war. Noch mehr hatte es sie verwundert, dass der Senat es irgendwie geschafft hatte, die Stadt rechtzeitig gegen das anrückende Sklavenheer zu sichern. So kam es, dass sich ein weit über die Stärke der Prätorianergarde Valianors hinausgehendes Heer, bestehend aus rasch aufgestellter Miliz und ebenso rasch zusammengezogenen regulären Legionen, gesammelt hatte.
Rosmerta interessierte weder, warum man nicht von vornherein ein größeres Aufgebot gegen Cartius in den Kampf geschickt hatte, noch, ob es einen Grund dafür gab, dass ihre Niederlage mit einem Schulterzucken abgetan wurde, als wäre diese nichts als ein kleiner Rückschlag, den man locker wegstecken konnte. Für sie war nur eine Sache relevant: Man hatte ihr eine zweite Chance gewährt. Das einzige, das diese erfreuliche Wende etwas trübte, war, dass Thorn keinerlei Absicht zeigte, sich aus der folgenden Schlacht herauszuhalten.