Читать книгу Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 1 und 2 - J.H. Praßl - Страница 25

Umbruch

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Nach dem Auftauchen der Priesterinnen in Testaceus’ Villa überschlugen sich die Ereignisse.

Zwei Tage später, als Testaceus seinen Neffen zum Hafen begleitete, wurden beide trotz ihrer Eskorte auf dem Forum Mini Pisci überfallen. Testaceus’ Leibwächter setzten alles daran, ihn und seinen Neffen zu schützen und doch wurde der sechzehnjährige Junge brutal niedergestochen und seine Leiche verschleppt. Tags darauf lag der Kopf des Jungen fein säuberlich verpackt auf Testaceus’ Schreibtisch.

Die Tür zum Besprechungsraum stand offen. Testaceus hatte seine Hände im Schoß gefaltet und saß am Kopf der Tafel. Vor ihm lag eine Schriftrolle, deren Siegel gebrochen war. An seiner Seite stand ein Fremder in einer schlichten weißen Toga, deren Saum mit kleinen roten Symbolen in Form gekreuzter Kriegshämmer bestickt war.

Als Thorn vor Rosmerta, Chara und Bargh den Raum betrat, wandte sich ihm der Fremde zu. Thorn wäre beim Anblick seines Gesichtes beinahe zusammengezuckt. Der Mann war abgrundtief hässlich.

„Ave!“, begrüßte Testaceus sie knapp und forderte sie auf, sich zu setzen, während seine Augen von einem zum anderen wanderten. „Es gibt einiges, das ich mit euch besprechen muss.“

Er deutete träge auf den Krug am Tisch.

„Bedient euch und schenkt mir dann eure ungeteilte Aufmerksamkeit!“

Thorn und Rosmerta setzten sich und griffen nach dem Wein. Chara setzte sich neben Bargh und ließ ihren Becher unberührt, während sie den Fremden unverhohlen taxierte.

„Dies ist Telos Malakin, Oberpriester des Agramon, aus Chryseia“, begann Testaceus.

„Mit Priestern hatten wir in letzter Zeit schlechte Erfahrungen“, bemerkte Chara.

Der Priester lächelte nur. Es war ein freundliches Lächeln, eines, das Thorn warm ums Herz werden ließ, trotz seines abschreckenden Erscheinungsbildes. Der Mann war dünn. Sein Gesicht wirkte durch eine wahrnehmbare Asymmetrie der Wangenknochen entstellt und ausgezehrt. Die blassgrauen Augen saßen in tiefen, dunklen Höhlen. Trotzdem hatte sein Blick etwas Beruhigendes. Es waren ehrliche Augen.

„Ich habe Euch nicht nach Eurer Meinung gefragt!“, antwortete Testaceus auf Charas Bemerkung. „Ihr seid nicht eingeladen worden, Chara Viola Lukullus. Ihr seid lediglich als Rosmertas Leibwache hier, also verhaltet Euch entsprechend!“

„Schon gut“, beschwichtigte der Priester und bedachte Chara erneut mit einem Lächeln, auf das sie mit einem provokanten Grinsen reagierte, was er entweder nicht wahrnahm oder bewusst übersah. „Ich nehme es jedenfalls niemandem übel, wenn er Fremden gegenüber misstrauisch ist. Ihr habt eine gesunde Einstellung, Chara. Selbst Agramon würde blindes Vertrauen als Schwäche betrachten.“

Es war offensichtlich, dass es Chara völlig egal war, was Agramon wie betrachtete.

„Sehr weise, Euer Gott“, antwortete sie nichtsdestotrotz. „Verzeiht mir mein loses Mundwerk, Senatsvorsitzender. Es ist mir nicht gegeben, meine Worte mit Bedacht zu wählen. Das ist eher Rosmertas Talent.“

Rosmerta warf Chara einen giftigen Blick zu, sagte aber nichts. Testaceus sah auf die Schriftrolle, die er vorher verächtlich auf den Tisch geworfen hatte und die nun wie ein Mahnmal, das er nicht ignorieren konnte, vor ihm lag. Vor seinem inneren Auge blitzte ein Bild auf:

Aus dem halb geöffneten Deckel einer schäbigen Holzkiste starrten ihm die toten Augen seines Neffen entgegen. Jeder Glanz war aus ihnen gewichen und das jugendliche Feuer, das Testaceus an dem Jungen so geliebt hatte, war erloschen.

Der Tod seines Neffen, der zugleich sein Adoptivsohn war, war ein fürchterlicher Schlag für ihn, nicht nur, weil er sein einziger Verwandter war; der Junge hatte ihm sehr nahe gestanden – zu nahe für einen Mann, der sich von Gefühlen nicht beeinflussen lassen durfte.

Das Attentat hatte Testaceus völlig unvorbereitet getroffen. Wie aus heiterem Himmel waren die Händler, die gerade noch um Preise gefeilscht hatten, Amok gelaufen. Gut getarnt hatten sich die Angreifer aus der Menschenmenge geschält und blitzschnell zugestoßen. Schwerter waren aufeinandergeprallt, Bolzen hagelten von den umliegenden Dächern und noch bevor Testaceus die brenzlige Situation bewusst geworden war, war ein Drittel seiner Eskorte gefallen. Nachdem die Angreifer den Jungen ermordet hatten, kämpften sie sich weiter bis zu Testaceus durch. Als einer von ihnen, ein gänzlich in Schwarz gehüllter Mann, ihn mit einem Dolchstich ins Reich der Toten befördern wollte, rettete ihn Nerus Boratus Lexorius, einer der letzten lebenden Leibwächter. Danach hatten sich die Angreifer zurückgezogen.

Die in der Schriftrolle ausgesprochene Warnung war zusammen mit dem abgetrennten Kopf seines Neffen ein Menetekel der feindlichen Durchschlagskraft und hatte Testaceus’ Befürchtung aufs Grausamste bestätigt. Nun gab es also klare Beweise dafür, wer der wahre Feind des Imperiums war. Und die Beweislast wog schwer.

Testaceus atmete tief durch.

„Warum Telos hier ist, erkläre ich euch später. Zuerst wenden wir uns den aktuelleren Ereignissen zu.“

Ohne eine Erklärung schob er Thorn und Rosmerta die Schriftrolle hin, die Rosmerta sofort an sich riss. Doch als sie sah, dass sie in einer ihr fremden Sprache verfasst war, reichte sie sie mit einem fragenden Blick an Thorn weiter.

„Eigentlich hatte ich nicht vor, euch schon jetzt über gewisse Dinge in Kenntnis zu setzen, aber es lässt sich nicht länger hinauszögern. Wir haben eine Bedrohung abgewendet, eine andere nimmt nun leider konkrete Formen an und ich kann sie nicht länger ignorieren. Es gibt, abgesehen von den Ianna-Priesterinnen, noch andere Interessenten an Valians Zepter und diese schrecken nicht davor zurück, alle Register zu ziehen, um an die Insignie zu kommen.“

Thorn horchte auf. Würde er endlich mehr erfahren oder würde Testaceus sie wie üblich lediglich über die nächsten Schritte in Kenntnis setzen?

Er wollte allmählich wissen, was hier gespielt wurde. Welche Pläne verfolgte Testaceus? Auf welcher Seite stand er und auf welcher standen seine Feinde? Und was hatte es mit diesem Zepter auf sich, für das er und Kitayscha einst ihr Leben riskiert hatten?

„Diese Botschaft wurde auf Aschranisch verfasst“, fuhr Testaceus sachlich fort.

Thorn atmete hörbar ein. Einmal zu oft hatte er aus Testaceus’ Mund und im Kontext valianischer Konflikte das Wort Aschran gehört. Testaceus’ Erwähnung einer Bedrohung aus dem Süden war ihm zum Zeitpunkt seiner Rückkehr aus dem Emlin-Tal belanglos vorgekommen. Er hatte bezweifelt, dass besagte Bedrohung irgendwann für ihn und sein Leben von Interesse sein würde. Doch in diesem Moment änderte sich seine Einstellung. Thorn spürte, wie das zaghafte Verlangen, mehr über diese Bedrohung zu erfahren, an die Tür seines Bewusstseins klopfte.

„Dabei handelt es sich weniger um eine Botschaft als um eine Drohung“, präzisierte Testaceus nüchtern. „Eine Drohung, die dezidiert meiner Person gilt. Eine Drohung, die von einem, nun, wie soll ich sagen …?“

Testaceus machte eine Pause und strich sich mit seinem Daumen nachdenklich über die Unterlippe.

„Einem Widersacher des Valianischen Imperiums stammt.“

Wem?“, platzte Thorn heraus, der seine Neugier nicht länger zügeln konnte.

Testaceus’ Blick zuckte zu ihm.

„Sein Name würde dir nicht das Geringste sagen, Thorn … Allerdings habe ich erwartet, dass du es ganz genau wissen willst.“

„So ist es“, antwortete Thorn mit schleichend drohendem Unterton.

Chara hob eine ihrer spitzen Augenbrauen.

„Seinen Namen!“, verlangte Thorn harsch und Charas Augenbraue wanderte noch ein Stück höher.

„Al’Jebal. Aber der Name wird dir nicht weiterhelfen.“

Ein plötzlicher Sturm der Gedanken brach in Thorn los. Hatte er diesen Namen schon gehört? Nein, ausgeschlossen. Der Name sagte ihm nichts und trotzdem: Sein Klang kam ihm irgendwie vertraut vor. Irgendwo in den hintersten Winkeln seines Geistes fand der Name einen angestammten Platz. Krampfhaft versuchte er sich an etwas zu erinnern, das er in Zusammenhang mit diesem Namen bereits gehört hatte, aber je mehr er es versuchte, desto leerer schien sein Kopf zu werden, bis er das Gefühl hatte, dass sein Verstand nichts weiter war als ein noch gänzlich unbeschriebenes Blatt.

„Wie auch immer!“, fuhr Testaceus fort. „Dieser Mann, der im Süden Aschrans mit seinen Heerscharen von Orks und seinen verruchten Assassinen für Angst und Schrecken sorgt, trachtet mir nach dem Leben. Das meines Neffen und des Oberkommandanten meiner Leibgarde geht bereits auf seine Rechnung.“

„Wer übernimmt eigentlich dessen Posten?“, unterbrach ihn Rosmerta neugierig.

„Lexorius“, antwortete Testaceus, wobei er gereizt mit den Fingern auf die Tischplatte trommelte und jeden Einzelnen am Tisch herausfordernd musterte.

„Sonst noch Fragen?“

In Thorn stauten sich in der Tat eine ganze Menge Fragen und es war ihm egal, ob er Testaceus damit zur Weißglut brachte. Also setzte er noch eins drauf.

„Nerus Boratus Lexorius? Der ehemalige Seezenturio, der uns vor den Piraten gerettet hat? Ich meine, nachdem Kitayscha und ich und unsere damaligen Mithelfer deinen Neffen aus den Händen der Al’Shejs befreit hatten und kurz davor waren, von diesem Piratenadmiral gefasst zu werden?“

Testaceus gab sich seufzend geschlagen.

„Von Herkul Polonius Schroeder, ja. Im Übrigen gehören er und seine Flotte zu Al’Jebals Leuten“, versuchte er zum Thema zurückzukommen.

„Seine Schiffe kreuzen in diesem Augenblick unter dem Kommando Schroeders und dessen Flaggschiff, der …“

Seeteufel“, murmelte Thorn gedankenschwer.

„Richtig“, bestätigte Testaceus ungeduldig. „Seine Flotte kreuzt immer noch in den Gewässern vor Valianor, ein Problem mehr, dessen ich mich annehmen muss.“

„Wie kommt ein Seezenturio eigentlich dazu, Oberkommandant deiner Leibwache zu werden?“

Testaceus hatte sich anscheinend damit abgefunden, dass die Besprechung diesmal länger dauern würde und beantwortete geduldig Rosmertas Frage.

„Ich habe Lexorius, nachdem es ihm gelungen war, euch zu retten und Al’Jebals Flaggschiff in die Flucht zu schlagen, was bislang noch keinem valianischen Seezenturio mit nur vier Schiffen gelang, in meine Leibgarde aufgenommen. Nach seinem heldenhaften Einsatz während des gestrigen Attentats habe ich ihn zum Oberkommandanten befördert.“

„Vier Schiffe der valianischen Flotte gegen ein Schiff Al’Jebals – das war doch keine Leistung!“, stichelte Rosmerta. „Was soll denn daran so heldenhaft sein?“

Testaceus schüttelte nachsichtig den Kopf.

„Wir reden hier nicht von irgendeinem Piraten! Es handelt sich um Schroeder, einen der skrupellosesten seiner Art, und um ein Schiff der Güldenmaidklasse.“

Das sind Schiffe, Kameraden!“, mischte sich endlich auch Bargh ein, der dem Gespräch bislang nur mit halber Aufmerksamkeit gelauscht hatte. „Dagegen sehen selbst unsere Drachen in Valland blass aus!“

„Schiffe der Güldenmaidklasse sind die schnellsten und gefährlichsten Schiffe diesseits der Meere“, fuhr Testaceus unübersehbar gereizt fort. „Sie können nur mit den Kampfseglern der anbarischen Flotte verglichen werden. Die Seeteufel ist das schnellste, größte und sicherste Schiff innerhalb der Flotte Al’Jebals und Schroeder ist der gefürchtetste Pirat, der im Namen dieses Chaosabkömmlings seine niederen Dienste verrichtet. Der Alte schickte also seinen besten Mann, um die Befreiung meines Neffen zu vereiteln. Ich denke, ich muss nicht erklären, warum ihm der Tod meines Erben so am Herzen liegt.“

Testaceus warf Thorn einen prüfenden Blick zu. Thorn aber nahm ihn gar nicht wahr. Plötzlich war die Leere in seinem Kopf verschwunden. Sein Verstand begann wieder zu arbeiten und nach und nach lösten sich die Verstrickungen in seinen Gedanken und ein Bild trat vor sein inneres Auge:

Und er, der die Macht hat, sich der dunkelsten aller Kreaturen zu bedienen … Mag ihm auch nur halb Aschran gehören, im Grunde liegt ihm ganz Amalea zu Füßen …

Der betrunkene Südländer im Gladiator hatte von einem Schwarzmagier gesprochen. Er nannte ihn der Alte vom Berg. Liam und Thorn hatten sich noch darüber lustig gemacht, als sie überlegten, ob besagter Magier wohl die dunkle Bedrohung aus dem Süden war, von der Testaceus gesprochen hatte. Bei dem Gedanken, dass die Geschichte des völlig paranoiden Händlers einen Wahrheitsgehalt barg, wurde Thorn unheimlich zumute.

„Er wird auch der Alte vom Berg genannt, richtig?“, murmelte er.

„Ganz recht“, antwortete Testaceus.

„Was ist eigentlich an den Gerüchten über ihn dran? Ist er wirklich ein Schwarzmagier?“

Testaceus schüttelte den Kopf.

Was er ist, spielt keine Rolle. Dass er mir droht, hingegen schon. Es heißt, er sei ein Überbleibsel aus der Chaoszeit. Sicher ist, dass die Mittel, die er einsetzt, von erschreckender Grausamkeit und zutiefst chaotisch sind. Und seine häretische Einstellung grenzt an Narretei. Man sagt über ihn, er lehne die Götter ab. Aber das sind nur Gerüchte. Wirklich entscheidend ist, dass er mir die Macht entziehen will, so wie er es vermutlich in Bezug auf jeden plant, der für das Licht und die Ordnung kämpft.“

Testaceus lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ich erzähle euch deshalb von Al’Jebal, weil ich denke, dass er zu einer akuten Gefahr werden könnte und ihr möglicherweise mit dieser Gefahr in Berührung kommt. Außerdem möchte ich dich bitten“, fügte er mit einem Blick auf Thorn hinzu, „dass du mir so viele Informationen wie möglich zur Geschichte des Zepters beschaffst, unter anderem ob schon mal jemand versucht hat, es an sich zu bringen. Wenn du dabei auf den Namen Al’Jebal stößt, wäre das begrüßenswert, allerdings ist es mehr als unwahrscheinlich.“

Testaceus zeigte auf den Priester, der geduldig an seiner Seite gewartet hatte.

„Telos Malakin ist nicht nur Oberpriester, sondern auch ein Experte für alte Glaubenskulte und ein Spezialist, was das Zepter anbelangt. Er wurde von seinem Orden in Chryseia geschickt, um die Echtheit des Zepters zu überprüfen und die Fakten rund um die Ianna-Priesterinnen und das Zepter ans Licht zu bringen.“

Telos Malakin richtete sich auf und rückte die Toga auf seiner rechten Schulter zurecht, wobei Thorn auffiel, dass auch auf dessen breitem Gürtel das Kriegshammer-Symbol angebracht war.

„Thorn, ich möchte, dass du dich um Telos kümmerst. Zeig ihm, wie er sich in der Stadt zurechtfindet. Du wirst ihn bei seinen Nachforschungen unterstützen.“

„Gut“, begann Telos freundlich. „Es wäre schön, wenn Ihr mich jetzt zum Vermos-Tempel bringen könntet, ich möchte nämlich so bald wie möglich mit meinen Studien beginnen.“

Thorn wollte gerade etwas erwidern, als ihm Testaceus dazwischenkam.

„Noch etwas. Ihr solltet euch in Zukunft vorsichtiger durch Valianor bewegen als üblich. Es könnte nicht schaden, einen Leibwächter mitzunehmen, wenn ihr irgendwelchen Erledigungen nachgeht.“ Der Rat war ausschließlich an Thorn, Rosmerta und Telos gerichtet.

Bargh räusperte sich geräuschvoll, während Chara, die sich bis jetzt zurückgehalten hatte, ihren Finger leicht anhob.

„Habe ich die Erlaubnis zu sprechen?“

„Ja, Chara, das habt Ihr“, antwortete Testaceus betont langsam, „aber hütet Eure spitze Zunge!“

Chara schielte zu Bargh.

„Ich weiß ja nicht, wie Bargh das sieht, aber ich habe nicht vor, ewig Leibwächterin zu spielen. Wenn Ihr keine Einwände habt, würde ich gerne meinen Posten aufgeben.“

Charas Blick stieß auf Thorn, der ihn neugierig erwiderte.

„Was hältst du davon?“, fragte Testaceus Rosmerta. „Sie ist schließlich deine Leibwächterin!“

Rosmerta zuckte mit den Schultern.

„Ehrlich gesagt, ist es mir völlig gleichgültig, was sie macht“, sagte sie mit einem Nicken Richtung Chara. „Sie hat sich ohnehin nicht bewährt.“

„Das bedeutet allerdings“, wandte sich Testaceus an Chara, „dass Ihr Euren Sold verliert.“

Das ist das geringste Übel“, antwortete Chara mit einem zynischen Lächeln.

Die Bezahlung war angesichts der ausgesetzten Gefahren miserabel – das war selbst Thorn klar. Chara konnte zweifelsohne weitaus besser bezahlte Aufträge an Land ziehen. Aber was hatte sie nun vor?

Charas Blick wanderte zu Bargh.

„Wie steht’s mit dir?“

„Gleichfalls“, sagte Bargh.

„Was gleichfalls?“, blaffte ihn Rosmerta aus heiterem Himmel an. „Was soll das heißen? Drück dich gefälligst so aus, dass man dich auch verstehen kann!“

„Was ist denn mit dir los?“, fragte Thorn verblüfft, während Bargh knallrot anlief.

Rosmerta antwortete nicht, sondern erhob sich ruckartig aus ihrem Stuhl.

„Wenn du erlaubst, ziehe ich mich zurück!“, sagte sie an Testaceus gewandt.

Testaceus nickte leicht überfordert.

„Soweit ist alles geklärt. Du kannst gehen“, sagte er und lenkte seine Aufmerksamkeit auf Chara und Bargh.

„Dann seid Ihr ab heute auf Euch gestellt.“

Hinter Rosmerta fiel knallend die Tür ins Schloss.

„Schön, dann werde ich mich auf den Weg zum Tempel machen. Es wird Zeit für das Abendgebet“, meinte der Priester und lächelte freundlich in die Runde.

„Ich komme mit!“, murmelte Thorn und erhob sich. „Es war wie immer nett, mit dir zu plaudern, Antonius. Ich wünsche dir eine gute Nacht!“

„Das wünsche ich dir auch!“, erwiderte Testaceus. „Und Telos! Ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr mich auf dem Laufenden hieltet.“

Telos drehte sich noch einmal um.

„Ich werde Euch keine Information vorenthalten, Senatsvorsitzender.“

Dann verabschiedete er sich und verließ zusammen mit Chara und Thorn den Besprechungsraum. Bargh erhob sich schweigend aus seinem Stuhl und trottete ohne ein Wort des Abschieds hinterher.

Rosmerta lag auf dem Seidenlaken ihres Gästezimmerbettes und stierte auf den blassgelben Baldachin über ihrem Kopf. Ihre Gedanken kreisten um das Gespräch bei Testaceus.

Testaceus’ Sorge um das Zepter interessierte sie nicht. Es war ihr auch gleichgültig, was Chara oder Bargh in Zukunft vorhatten. Allerdings empfand sie es als persönliche Beleidigung, dass der Vallander völlig grundlos seinen Posten als ihr Leibwächter aufgegeben hatte. Aber was scherten sie die Ambitionen eines primitiven Wüstlings wie Bargh, der für ihre Zukunft völlig bedeutungslos war? Der, der ihr tatsächlich ein Dorn im Auge war, war Thorn. Solange der Waldläufer für Testaceus arbeitete, stand er ihr im Weg. Er erfreute sich einer besonderen Beliebtheit, die sie nicht ihr eigen nennen konnte. Der Held wurde von den valianischen Legionären und von allen, die etwas zu sagen hatten, respektiert, wahrscheinlich weil er ein Mann war und Männer dazu tendierten, ausschließlich ihresgleichen mit Respekt zu begegnen. Dabei waren es die Frauen, die in den meisten Fällen im Verborgenen die Geschicke lenkten, ohne je dafür belohnt zu werden. Nun, ihre Pläne sahen etwas anderes für sie vor. Sie würde ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und sich am Tische der Mächtigsten dieses Landes gütlich tun. Sie hatte hart dafür gearbeitet, sich einen guten Ruf zu erwerben. Die Zeit, vor den anderen zu kriechen, war vorüber. Nun war es Zeit, zu herrschen. Und dabei war es entscheidend, dass Thorn ein für alle Mal das Feld räumte.

Thorn schwitzte am ganzen Körper. Der Schatten blieb ihm auf den Fersen, obwohl er alles versuchte, um ihn abzuschütteln. Seine Beine waren zu schwer, seine Glieder waren zu steif, seine Augen zu blind. Die Pfeile, die er abfeuerte, verfehlten ihr Ziel. Er war müde. Alles, was er wollte, war sich hinlegen und schlafen. Er sehnte den Schlaf des Vergessens herbei. Aber er war auf der Flucht und egal, wo er hinlief, wie sehr er sich auch abmühte, der Schatten blieb dicht hinter ihm und machte alle seine Versuche, ihn abzuschütteln, zunichte.

Der Schweiß lief ihm in Strömen den Körper hinab. Er konnte kaum noch Kraft aufbieten. Die zerklüfteten Felsen, auf denen er sich dahinschleppte und an welchen seine Stiefel zerrissen, gingen allmählich in weißen Sand über. Vor ihm tat sich eine Wüstenlandschaft auf – heiß, trocken und endlos. Wo er auch hinblickte, da war nichts als Sand.

Dann ein Flüstern – erst leise und sanft, schließlich immer eindringlicher und lauter, warnend und lockend zugleich. Doch die Worte waren ihm fremd und unverständlich.

Irgendetwas in Thorn sperrte sich dagegen, weiterzulaufen und vor dem Schatten zu fliehen. Er wollte ihm in sein schwarzes Antlitz blicken, wollte sich ihm stellen. Also kroch er langsam auf ihn zu. Doch sobald er sich ihm näherte, wich der Schatten vor ihm zurück, als wäre er es, der Angst hatte.

Sieben Monde gingen ins Land, in denen Thorn Telos Malakin bei seinen Dienstgängen begleitete und ihm mit den Nachforschungen über das Zepter half. Mittlerweile war klar, wer hinter den ausschlaggebenden Geschehnissen seiner Vergangenheit stand. Es war ein Mann mit Namen Al’Jebal. Thorn hatte eine Spur, wenn er auch nicht wusste, wohin sie ihn führen mochte. Und es drängte ihn, die Spur aufzunehmen und an ihr dran zu bleiben.

Während sich Thorn und Telos mit dem Zepter befassten, wollte es der Zufall, dass ihre Wege sich immer wieder mit denen von Chara und Bargh kreuzten, die offenbar meist zusammen rumhingen. Mal trafen sie sie auf der Straße, mal im Gladiator, einmal begegneten sie den beiden sogar in einem der Badehäuser, wobei Chara, die den Vorzügen eines öffentlichen Bades allem Anschein nach nichts abgewinnen konnte, am Eingang auf Bargh wartete. Als Thorn ihr erzählte, dass Telos und er im Anschluss die Bibliothek des Vermos-Tempels aufsuchen wollten, um die Zepter-Studien voranzutreiben, fragte Chara, ob sie mitkommen könne. Sie wollte in irgendeiner Privatsache nachlesen und Thorn sah keinen Grund, ihr die Bitte abzuschlagen. Während sie mit Bargh, der offenbar nicht lesen konnte, den Großteil der Zeit Karten spielte, wälzten Thorn und Telos Bücher und Aufzeichnungen über das Valianische Imperium, immer auf der Suche nach Hinweisen zum Zepter und dem Ianna-Kult. Abends besuchten sie eine Taverne und tranken einen über den Durst, was zur Folge hatte, dass Thorn Chara und Bargh anbot, für die Zeit ihres Aufenthalts in Valianor in seinem Haus zu übernachten und sich damit das Gold für eine teure Unterkunft zu sparen.

Chara und Bargh hatten die Einladung dankbar angenommen, was ihn, auch wenn er es sich nicht so recht eingestehen wollte, freute, zumal ihm die Gesellschaft dabei half, sich von seinen trübsinnigen Gedanken über Kits Tod abzulenken. Noch immer plagten ihn Schuldgefühle und immer mehr fragte er sich, ob an Kits Vorwurf etwas dran war.

Der Umgang mit Telos war ihm da besonders angenehm. Er fühlte sich wohl in der Gegenwart des sanften, hilfsbereiten Mannes, der alles mit ungewöhnlicher Sorgfalt und Ruhe anging.

Und was Rosmerta anbelangte, so war Thorn dankbar für die Zeit ohne sie.

Die Studien über das Zepter und den Ianna-Kult waren mühsam, aber letztlich ergaben sie, dass die Ianna-Priesterinnen das Zepter nach Valians Tötung an sich genommen hatten. Valian war ein Krieger, der durch die Eroberung großer Ländereien lange vor den Chaoszeiten das Valianische Imperium begründet hatte und anschließend zum Imperator ausgerufen worden war. Sein Tod hatte die Expansion des Valianischen Imperiums gestoppt. Es gab keinerlei Aufzeichnungen darüber, ob das Zepter nach seinem Tod je in andere Hände als die der Priesterinnen gefallen war.

Valians Zepter galt innerhalb des Imperiums als ein Symbol der Macht und wurde in dem einen oder anderen Schriftstück auch als eine magische Waffe zwergischen Ursprungs bezeichnet – welcher Art, das konnten Telos und Thorn nicht ermitteln. Nach Valians Ende verschwand die Insignie und als das Chaos über das Land zog, geriet sie gänzlich in Vergessenheit.

Was sie über den Ianna-Kult sonst noch in Erfahrung bringen konnten, war, dass Ianna die höchste Gottheit der von Valian zerstörten urrutischen Stadt Urukal war. Den Aufzeichnungen zufolge dürfte es diesen ungewöhnlichen Kult, in dem Krieg und Fruchtbarkeit, Leben und Zerstörung in einer Gottheit vereint waren, seit Hunderten von Jahren nicht mehr geben. Es hieß jedoch, dass die Macht der Ianna-Priesterinnen vor dem Niedergang ihrer Religion gewaltig gewesen war.

In der Bibliothek war Thorn in einem stark mitgenommenen, uralten Geschichtsbuch auf eine interessante Stelle gestoßen:

Und über die Jahre hinweg geriet das Zepter in Vergessenheit. Niemand wusste, wo es verborgen lag, niemand, wo er beginnen sollte, danach zu suchen. Valians Ruhestätte war ein Ort jenseits des Imperiums, ein Ort im Kargen-Gebirge. Dort gab es vor den Chaoszeiten eine Heiligenstätte, einen Wirkungsort der Ianna-Gläubigen, und es waren die Priesterinnen der Ianna, die das Grab Valians bewachten.

Nur allmählich gaben die schweren Holzflügel den Blick auf Rosmerta frei, die, ihre Hände auf die Stuhllehne gestützt, hinter der Tafel stand und offensichtlich auf Thorn gewartet hatte. Thorn stellte fest, dass ihr abgeschlagener Arm inzwischen nachgewachsen war und nichts mehr an die schreckliche Verletzung erinnerte, die man ihr in der Schlacht gegen Cartius zugefügt hatte.

Es war der Erste der zweiten Trideade im Rabenmond. Am Morgen war ein Bote von Testaceus aufgetaucht, um Thorn mitzuteilen, dass der Senatsvorsitzende ihn zu sehen wünsche. Anscheinend hatte Rosmerta die gleiche Nachricht erhalten.

Nachdem er sich zu Rosmerta an die Tafel gesellt hatte, erschien Testaceus aus einem der Nebenräume und durchquerte raschen Schrittes das Zimmer.

Thorn schob den Stuhl zurück, um sich hinzusetzen, doch Testaceus winkte ab.

„Es dauert nicht lange.“

Mit einer knappen Geste schickte er die Sklavin wieder fort, die gerade erschienen war, um etwas Wein und Wasser auf den Tisch zu stellen. Dann blickte er Thorn und Rosmerta prüfend in die Augen.

„In den nächsten Tagen wird es einige Umwälzungen geben“, begann er schließlich mit gelassener Stimme. „Die vergangenen Ereignisse machten deutlich, dass es erforderlich ist, manches zu ändern. Dies bedeutet aber auch, dass ich gewisse Vorsichtsmaßnahmen treffen und mir die Solidarität bestimmter Personen sichern muss, was mich zu euch beiden führt.“

Thorn nahm eine angespannte Haltung ein. Was würde nun kommen?

„Es ist der Augenblick gekommen, die Spreu vom Weizen zu trennen. Manche der Senatoren sind meinem Vorhaben nicht wohlgesinnt. Sie werden versuchen, mich davon abzuhalten, im Valianischen Imperium für geordnete Verhältnisse zu sorgen. Ihre Namen kenne ich. Es sind bereits Vorkehrungen getroffen worden, um eine Vereitelung der Sache vonseiten entsprechender Personen zu verhindern.“

Testaceus fixierte Thorn und Rosmerta mit eindringlichem Blick.

„Wie steht es mit euch? Kann ich mir eurer Solidarität sicher sein?“

Rosmerta rührte sich keinen Deut.

„Du kennst mich, Antonius. Ich habe dir meine Treue mehrfach bewiesen. Ich stehe hinter dir, das weißt du, und daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern.“

Testaceus nickte zufrieden. Dann wanderte sein Blick zu Thorn, der ihm entschlossen in die Augen sah.

„Was auch immer du vorhast, ich werde dir nicht in die Quere kommen“, sagte Thorn. „Ich bin aber nicht gewillt, dir meine absolute Treue zuzusichern; meine Unwissenheit deine Pläne betreffend hindert mich daran. Das bedeutet, ich bin in Zukunft weder für noch gegen dich. Ich weiß, meine Einstellung ist wider die Überzeugungen eines Ehrensenators. Aber nach allem, was …“ Thorn brach ab und schwieg. Es wäre unvernünftig gewesen, Cartius’ Gedanken über Testaceus’ verborgene Strategien zu erwähnen.

Testaceus akzeptierte sein Schweigen und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Er hatte erwartet, dass Thorn eine neutrale Position einnehmen würde. Er vertraute aber auch darauf, dass Thorn Wort hielt und seinem Vorhaben nicht zuwiderhandeln würde. Trotzdem durfte er kein Risiko eingehen. Thorn hatte mehrfach bewiesen, dass seine Entscheidungen gefühlsgeleitet waren und das machte ihn unberechenbar. Wenn es hart auf hart kam, könnte er seinem Vorhaben schaden.

„So sei es denn“, beendete Testaceus scheinbar das Thema. „Ich muss euch jetzt leider bitten zu gehen. Ich hab mich um einige wichtige Dinge zu kümmern.“

Er wandte sich an Rosmerta. „Ich nehme an, du bleibst weiterhin Gast in meiner Villa?“

„Wenn es keine Umstände macht.“

„Natürlich nicht.“

Thorn blickte von einem zum anderen. Irgendwie kam er sich plötzlich fehl am Platz vor, so als wäre er einer der Sklaven, der sich nur zufällig im gleichen Raum mit dem Senatsvorsitzenden aufhielt und unaufgefordert dessen Unterhaltung mit seiner Vertrauten mit anhörte.

„Von dir und auch deinen beiden Freunden erwarte ich, dass ihr das Haus ab sofort nicht mehr verlasst“, sagte Testaceus wie nebenbei zu Thorn. „Solange, bis ihr Nachricht von mir erhaltet. Es ist zu eurer eigenen Sicherheit.“

Thorn nickte stumm, weil er nicht wusste, was er hätte erwidern sollen. Was hatte Testaceus vor?

„Gut, dann wünsche ich dir für die nächste Zeit alles Gute. Rosmerta, wir sehen uns beim Abendessen.“

„Natürlich, Antonius.“

Testaceus verabschiedete sich und überließ Thorn und Rosmerta sich selbst. Er hatte alles gesagt. Nun vertraute er darauf, dass sich Thorn an die Abmachung hielt.

Nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, wandte sich Rosmerta mit einem überheblichen Lächeln Thorn zu.

„Dann trennen sich hier unsere Wege.“

Thorn fühlte sich mehr als unbehaglich. Alles in ihm bettelte darum, der Gesellschaft Rosmertas so schnell wie möglich zu entgehen und plötzlich bereute er mit jeder Faser seiner Seele, dass ihm sein Anschlag auf ihr Leben nicht gelungen war.

„Was uns sicher beiden zugutekommt“, sagte er leise und spürte dabei den Hass, der seinen Worten eine tödliche Schärfe verlieh. Mit einem letzten Blick auf Rosmerta kehrte er ihr den Rücken und verließ den Raum.

Telos Malakin stand mit dem Rücken zur Wand im Besprechungsraum des Senatsvorsitzenden. In seiner Hand hielt er Valians Zepter. Die Spitze des Zepters berührte seine Stirn. Seine Augen waren geschlossen, sein Atem ging stoßweise.

Testaceus lehnte am Fenster und wartete ungeduldig darauf, dass der Priester aus seinem tranceartigen Zustand erwachte und ihm antwortete.

Auf der Stirn des Priesters hatten sich Schweißperlen gebildet. Durch seinen Körper lief ein permanentes Zucken und die Faust, die sich um das Zepter schloss, verkrampfte sich alle paar Augenblicke.

Plötzlich landete das Zepter geräuschvoll auf dem Boden, kurz bevor Telos zusammensackte und neben dem Stab liegenblieb.

Testaceus erschrak.

Blitzartig war er bei der schmalen Gestalt des Priesters und ging neben ihr in die Hocke. Er hob das Zepter auf und überzeugte sich davon, dass es unbeschädigt war. Danach legte er Telos seine Finger an den Hals und spürte seinen schwachen Puls.

„Telos!“, flüsterte er und tätschelte seine Wange.

Telos rührte sich nicht.

Testaceus versuchte, ihn aufzurichten. Sein Oberkörper ließ sich ganz leicht anheben, was ihn nicht wunderte – der Mann war an der Grenze zur Unterernährung. Er lehnte ihn gegen die Wand und lockerte seine Toga, damit er leichter atmen konnte.

Endlich öffnete der Priester die Augen und atmete tief ein. Zuerst starrte er Testaceus verwirrt an, doch dann klärte sich sein Blick allmählich und er drückte sich von der Wand weg. Seinen Oberkörper vornübergebeugt, atmete er ein paar Mal tief durch, bis das Blut zurück in seinen Kopf kehrte und seine Wangen rosig färbte.

„Alles in Ordnung, alles gut!“, keuchte er.

Testaceus reichte ihm seine Hand und half ihm beim Aufstehen.

Sorgfältig rückte Telos seine hieratische Toga zurecht und nahm eine aufrechte Haltung ein, während Testaceus einen Schritt zurücktrat. Er wollte nicht respektlos erscheinen.

„Habt Ihr etwas herausgefunden?“, fragte er vorsichtig.

„Natürlich!“, erwiderte Telos wie selbstverständlich. „Agramon war mir wohlgesinnt.“

Er faltete die Hände hinter dem Rücken und nickte bedächtig.

„Nun, es gibt keinen Zweifel. Das Zepter ist echt.“

Testaceus’ Ausdruck blieb ungerührt, was den Priester verunsicherte. Er hatte vermutlich etwas wie Erleichterung oder Dankbarkeit erwartet.

„Ihr haltet ein wahrhaft begehrtes Objekt in den Händen, Senatsvorsitzender.“

Nickend wandte sich Testaceus zum Fenster und verschränkte die Arme auf dem Rücken. Über seine Lippen huschte ein kaum merkliches Lächeln.

Eine wahrhaft mächtige Waffe.

Knisternd brannte das Feuer im Kamin und verströmte ein warmes Licht in der Küche. Chara saß, die Beine auf einem Schemel überkreuzt, in einem schweren Holzstuhl und schrieb in ihr schwarzes Buch, während Bargh neben ihr auf dem Boden hockte und schweigend in die Flammen starrte.

Eine halbe Trideade war vergangen, in der weder Thorn noch Chara oder Bargh wussten, was draußen vor sich ging. Die Tage schleppten sich dahin und jeder versuchte, die Zeit auf seine Weise totzuschlagen, was sich angesichts der Situation, in dem kleinen Haus eingepfercht zu sein, als äußerst schwierig erwies.

Schließlich blickte Bargh schwer seufzend auf.

„Was schreibst du da eigentlich immer?“, fragte er.

Meine Angelegenheit!“

Chara sah von ihrem Buch auf und legte die Feder beiseite.

„Macht es dir Freude, wie ein Hund zu meinen Füßen zu kauern?“

„Woran arbeitest du denn?“, grinste Bargh schon wesentlich besser gelaunt, weil sich Chara offensichtlich provozieren ließ.

Als Antwort griff Chara wieder zur Feder und schrieb kommentarlos weiter.

„Ja, Chara!“, rief Thorn, der am Esstisch gerade an einer Zeichnung tüftelte. „Woran schreibst du da eigentlich?“

„Ach, haltet die Klappe!“, kam es schroff zurück.

Thorn und Bargh grinsten sich an. Schließlich stand Thorn auf und lehnte sich an die Wand neben dem Kamin.

Chara klappte genervt ihr Buch zu, steckte es zusammen mit Tintenfass und Feder in ihre Gürteltasche, zog ihre Füße vom Schemel und richtete sich im Sessel auf.

Bargh warf Thorn einen vielsagenden Blick zu.

„Da fällt mir ein, ich hab’ dich noch nie kämpfen sehen“, meinte der Vallander augenzwinkernd.

„Bargh hat recht“, sagte Thorn, wobei er wohlweislich ihre kleine Auseinandersetzung während der letzten Schlacht gegen Cartius unter den Tisch fallen ließ. „Wie kommt das?“

„Das kommt daher, dass es keine Notwendigkeit dafür gegeben hat.“ Mit einem provokanten Seitenblick auf Bargh fügte sie hinzu: „Es gibt immer jemanden, der ganz heiß darauf ist, sich im Kampf zu profilieren – natürlich im Interesse derer, die er schützt! Ich werde mich hüten, einem so hochmotivierten Leibwächter im Weg zu stehen!“

Thorn ging auf sie zu, stützte sich mit den Händen auf die Armlehnen ihres Sessels und sah ihr tief in die Augen.

„Und warum hast du mich bewusstlos geschlagen, als ich Liam retten wollte?“

Endlich hatte er die Frage gestellt, die ihm schon so lange auf der Zunge brannte.

„Du wechselst ziemlich abrupt das Thema, Thorn.“

„Antworte auf meine Frage!“

Ohne dass er es verhindern konnte, bekam seine Stimme den wohlbekannten drohenden Unterton.

„Ich hielt dein Unterfangen für glatten Selbstmord“, gab Chara freizügig Auskunft. „Meiner Ansicht nach war es eine aus Verzweiflung geborene Entscheidung, für die ich deine damalige Gemütsverfassung verantwortlich machte. Du hättest keine Chance gehabt, Liam und vor allem dich selbst da jemals wieder heil herauszuholen. Ich dachte, tu ihm doch einen Gefallen und halte ihn von dieser Verzweiflungstat ab, damit er irgendwann nochmal etwas Sinnvolles tun kann.“

Thorn wusste nicht, wie er auf ihre plötzliche Offenheit reagieren sollte. Zögernd löste er seinen Griff und richtete sich auf.

„Woher wusstest du, was ich vorhatte?“, fragte er leise.

Chara lehnte seufzend ihren Kopf zurück.

„Es war nicht zu übersehen, dass dich Rosmertas Urteil über Liam aus der Bahn geworfen hatte. Dein blinder Zorn auf sie machte dich unberechenbar. Grund genug für mich, dich im Auge zu behalten. Als ich dich dann in besagter Nacht dabei beobachtete, wie du dein Zelt verlassen hast, obwohl du mich kurz davor noch zu überzeugen versuchtest, dass du dir die Hinrichtung ersparen möchtest, konnte ich mir ungefähr zusammenreimen, was du vorhattest. Der Zufall gab mir die Gelegenheit, das Schlimmste zu verhindern, und ich nutzte sie. Das ist alles.“

Bargh stand schwerfällig auf und stellte sich breitbeinig vor den Kamin. „Worum geht’s hier eigentlich?“, fragte er verdattert und blickte von einem zum anderen.

Thorn starrte Chara immer noch zweifelnd an. Er konnte sich des Misstrauens, das in seiner Brust schwelte, nicht erwehren und trotzdem hatte er das Gefühl, dass sie die Wahrheit sagte. Nur wusste er nicht so recht, ob es ihm schmeichelte, dass sie ihn zu schützen versucht hatte, oder ob es ihn beunruhigen sollte.

„Also, was is’ jetz’?“, riss ihn Bargh aus seinen Gedanken.

„Ich hatte den blendenden Einfall, Liam vor dem Tod zu bewahren!“, antwortete Thorn zynisch. „Ich dachte mir einfach, dass es ganz nett wäre, wenigstens einen um mich zu haben, dem ich vertrauen kann.“

Bargh hob verständnislos seine Hände.

„Und was ist mit mir?“, fragte er beleidigt.

„Ach, komm schon, Bargh!“, gab Thorn zurück, stiefelte zum Tisch und widmete sich erneut seiner Zeichnung. „Ich kannte dich kaum und wenn ich es mir recht überlege, weiß ich auch jetzt noch nichts über dich.“

„Aber über Liam wusstest du Bescheid, nicht?“, meldete sich Chara zurück.

„Nein, trotzdem vertraute ich ihm.“

Thorn sah von seiner Zeichnung auf und warf Chara einen intensiven Blick zu.

„Manchen Menschen vertraut man einfach. Liam war so ein Mensch. Bargh ebenso, darum würde ich im Ernstfall auch auf ihn zählen. Du hingegen … ich weiß nicht. Du bist verschlossen, Chara. Käme es darauf an, hätte ich ernsthafte Bedenken, dir mein Leben anzuvertrauen.“

Charas süffisantes Grinsen kehrte zurück.

„Doch, das würdest du. Du bist kein Einzelgänger, auch wenn du das gerne von dir glauben möchtest. Sobald dir eine Gefahr von außen droht, richtest du dich ohne Nachzudenken nach innen und suchst nach jemandem, der deine Furcht teilt. Du wirst fraglos die Hilfe desjenigen annehmen, der dir am nächsten steht, egal, um wen es sich dabei handelt.“

Sie lehnte sich im Stuhl zurück und schloss entspannt die Augen.

Thorn spürte einen altbekannten Zorn in sich erwachen. Gleichzeitig fühlte er sich auf eine angenehme Weise entlarvt. Erkannt zu sein, bedeutete frei zu sein und genau in diesem Moment spürte er eine Art Vorgeschmack dieser Freiheit. Und trotzdem lehnte sich Chara verdammt weit aus dem Fenster. Was wollte sie von ihm? Warum hatte sie ihn vor dem Tod bewahrt? Warum war sie hier?

Bargh marschierte um Chara herum und setzte sich zu Thorn an den Tisch.

„Dacht’ ich’s mir doch“, lächelte er fröhlich und tätschelte Thorns Schulter so heftig, dass die Kohle, die Thorn in der Hand hielt, brach und einen unschönen Strich auf dem Pergament hinterließ.

„Du magst mich. Der Held und Ehrensenator Thorn Gandir hält Bargh Barrowsøn für einen guten Mann, nich’?“

Thorn atmete tief durch.

„Sicher!“, grummelte er, ohne seinen Blick von Chara zu lassen.

„Uaaargh“, gähnte Bargh und rieb sich die Augen. „Ich mach’, dass ich ins Bett komm’.“

Thorn nickte gedankenverloren, während sich Bargh auf den Weg nach oben machte. Schließlich packte er seine Zeichenutensilien weg und ließ sich in den Stuhl neben dem Kaminfeuer sinken. Ein leises Schnarchen signalisierte, dass Chara bereits selig schlummerte. Thorn beobachtete sie eine Weile und stellte fest, dass sich der ansonsten harte Zug auf ihrem Gesicht im Schlaf verlor. Schließlich schloss auch er die Augen und wartete auf den Schatten aus seinen Träumen.

Ein lautes Klopfen drang durch den dumpfen Schleier, der sich schwarz und schwer über sein Bewusstsein gelegt hatte. Hinter ihm lauerte der Schatten, vor ihm wurde es plötzlich gleißend hell. Thorn schlug die Arme vor seine Augen und duckte sich noch tiefer in den Wüstensand.

„Bitte lasst mich in Ruhe!“, flüsterte er verzweifelt. „Ich brauche Ruhe …“

Das Klopfen wurde lauter und nachdrücklicher. Es ließ sich nicht länger ignorieren, also öffnete er verstört die Augen. Ein kurzer Blick zurück sagte ihm, dass der Schatten zwar noch da war, aber langsam vor dem grellen Licht zurückwich.

Thorn drehte sich um und blinzelte. Wenige Schritte von ihm entfernt stand Chara. Verblüfft kniff er die Augen zusammen. Was bei allen Dämonen finsterster Gestalt machte Chara hier in der Wüste?

„Komm schon, wach endlich auf!“

Irgendetwas schüttelte ihn und er versuchte, es wegzudrängen. Dann knallte es und seine Wange begann heftig zu brennen.

„Aufwachen! Da ist jemand an der Tür!“

Thorn hatte das Gefühl, als würde sein Geist verzweifelt dagegen ankämpfen, dass sein Körper die Kontrolle übernahm und seine Gedanken aus dem vagen Sumpf des Unbewussten in die klar strukturierte Welt des Verstandes katapultierte.

Erneut riss Thorn die Augen auf. Diesmal nicht nur im Traum. Charas schwarze Augen funkelten ihn an.

„Na endlich!“

Jetzt erst nahm Thorn das aufdringliche Klopfen an der Tür wahr.

„Und warum öffnest du nicht?“, murmelte er schlaftrunken.

„Erstens ist es dein Haus und nicht meines, was es unwahrscheinlich macht, dass, wer auch immer vor der Tür steht, ausgerechnet mich zu sprechen wünscht. Und zweitens …“ Chara zuckte mit den Schultern, „… habe ich Hunger!“

Sie wandte sich um und begann die Küchenregale nach etwas Essbarem zu durchsuchen.

„Gibt es hier eigentlich auch etwas anderes als Käse?“, beschwerte sie sich murrend, während Thorn kopfschüttelnd zur Tür wankte und sie gähnend öffnete.

„Ave Cäsarus!“, scholl es ihm knapp entgegen.

Thorn riss die Augen auf.

Vor ihm stand eine völlig veränderte Rosmerta. Als sie sein verblüfftes Gesicht sah, trat ein triumphierendes Lächeln auf ihre Lippen.

„Überrascht, mich zu sehen?“, fragte sie mit einem unüberhörbar provokanten Unterton. „Ich weiß, es ist noch früh und ich sehe, du bist gerade erst von den Toten erwacht.“

Thorn fing sich langsam, obwohl er sich nur schwer mit ihrem Äußeren abfinden konnte. Noch auffälliger, noch blasierter ging es seiner Meinung nach kaum.

Statt ihrer ohnehin schon übertrieben schmucken Garderobe trug sie jetzt die Toga eines Oberkommandanten der Prätorianer, wobei ihre sich von der männlichen dadurch unterschied, dass der Kragen weiter, die Borte kunstvoller und der Stoff noch edler war. Außerdem war sie an der Taille gerafft und auf dem ledernen Brustharnisch, der ihre Brüste unerhört weit nach oben drückte, blitzten anstatt der Nieten kleine, weiße Edelsteine. Ihren schlichten grünen Baumwollumhang hatte sie gegen einen blauen Samtumhang eingetauscht, dessen Saum mit feinen Stickereien verziert war, und um ihren Hals trug sie das in Gold gefasste Emblem des valianischen Gryphos.

Thorn blickte ihr ungerührt in die Augen.

„Ave Cäsarus? Wie es scheint, habe ich einiges verpasst.“

Rosmertas Lächeln verwandelte sich in ein maskenhaftes Grinsen.

„Ganz Thorn eben. Wenn irgendwo der Gryphos steppt, steckst du mit deinem Kopf tief im Sand, grübelst über vergangene Tage nach und sinnierst über Schicksal und Sinnhaftigkeit. Tragisch, wirklich tragisch. Auf diese Weise verschläft man schlicht und ergreifend sämtliche Chancen, die das Leben so bietet.“

„Was willst du?“, fragte Thorn abweisend. „Wer Cäsarus ist, muss ich ja wohl nicht fragen. Damit hat sich unser Gespräch erledigt.“

„Cäsarus Antonius Virgil Testaceus lässt ausrichten“, fuhr sie unbeteiligt fort, „dass du und dein Gesindel die Erlaubnis habt, das Haus ab heute wieder zu verlassen. Vielleicht möchtest du ja auf den Markt gehen oder spazieren, oder was man eben so tut, wenn man, hm …“

Sie neigte den Kopf zur Seite und schielte zu ihm hoch.

„… keine Aufgaben hat oder sollte ich sagen: keinen Nutzen? Würde mich interessieren, was du in den nächsten Monden so planst. Gebraucht wirst du ja nicht mehr. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Cäsarus noch eine Verwendung für dich hat. Aber du hast ja Freunde, nicht wahr? Das war dir doch immer das Allerwichtigste. Vielleicht hat der Vallander ja Lust, mit dir auf Abenteuer zu gehen. Oder du könntest mit diesem Mannsweib die schöne Stadt Valianor besichtigen und sie zum Essen einladen. Vielleicht schaffst du es ja sogar, ihr ein wenig Etikette beizubringen.“

Sie klimperte mit ihren Wimpern.

„Ich fürchte nur, das ist bei diesem Trampel hoffnungslos.“

Das verschlagene Lächeln in ihrem Gesicht machte ihn rasend, doch Thorn wusste: Würde er versuchen, zurückzuschlagen, wäre dies nicht nur eine Bestätigung dafür, dass ihre Sticheleien ins Schwarze getroffen hatten, sie würde sich obendrein auch noch dazu angehalten fühlen, weiterzumachen. Sie war ein menschenverachtendes, machtbesessenes Weibsstück, das keinerlei Skrupel hatte, dort ihr Gift zu versprühen, wo man sich seiner nicht erwehren konnte. Die Schwachen waren ihre Stützpfeiler, Menschen, die sie befehligen konnte, Menschen, die nicht die Kraft und Mittel hatten, sich ihr zu widersetzen. Thorn wollte nur eines: dass sie auf der Stelle aus seinem Blickfeld verschwand.

„Gut, wir können also wieder auf die Straße. Ich sag Chara und Bargh Bescheid. Auf Wiedersehen!“

Er wollte schon die Tür zuschlagen, da stellte Rosmerta ihren Fuß in den Spalt.

Thorn konnte seinen Zorn kaum noch bändigen.

„Was noch?“

„Ich bin noch nicht fertig!“, antwortete sie frostig.

Mit ihrer Rechten stieß sie so fest gegen die hölzerne Tür, dass Thorn ein Stück zurücktaumelte. Sie stand jetzt mitten im Türrahmen. Hinter ihr brachen die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne durch den morgendlichen Dunst, sodass der Schatten ihrer Gestalt in den Eingangsbereich fiel und die sich an den Konturen ihres Körpers brechenden Sonnenstrahlen ein eigentümlich erhabenes Bild erzeugten – ein Gemälde, in welchem ihre Gestalt wie von einem glitzernden Lichterkranz eingerahmt erschien, als wäre Rosmerta von einer göttlichen Aura umschlossen. Ein wahrhaft grotesker Anblick!

„Ich bin Oberbefehlshaberin der Prätorianergarde und für Ruhe und Ordnung in Valianor verantwortlich. Ich bin auserwählt worden, mich der inneren Sicherheit des Imperiums anzunehmen, und habe daher so ziemlich alle Freiheiten, die du dir vorstellen kannst. Ich muss an dieser Stelle hoffentlich nicht an deinen Einfallsreichtum appellieren. Meine Macht wird dir im Wege stehen, wo auch immer du hingehen magst, Thorn Gandir. Ich will, dass du das nie vergisst.“

Abrupt zog sie ihren Fuß zurück und verließ mit wehendem Umhang seinen Vorgarten.

Als sie mit ihrer Eskorte, die auf der Straße auf sie gewartet hatte, hinter der nächsten Hausecke verschwand, atmete Thorn zitternd aus. Seine Hände hatte er so hart zu Fäusten geballt, dass sie völlig blutleer waren und Abdrücke seiner Fingernägel auf der Haut hinterließen. Eine Weile starrte er regungslos auf die Stelle, wo sie gerade noch gestanden hatte. Dann fühlte er, wie sich sein Kiefermuskel entspannte, wie der Zorn langsam von ihm abfiel und sich endlich eine sanfte Gleichgültigkeit um seinen Verstand legte.

Was die Zukunft brachte, war ungewiss und die Freiheit schien greifbar nahe.

„Leb wohl, Rosmerta!“, flüsterte er lächelnd.

Tief in Gedanken verstrickt, betrat er die Küche, wo Chara und Bargh gerade beim Frühstück saßen und sich anschwiegen.

„Testaceus hat sich zum Imperator ernannt“, erwähnte er beiläufig, als er sich an den Tisch setzte.

„He?“, fragte Bargh und spuckte unabsichtlich einen Brotklumpen auf seinen Handrücken.

Chara unterbrach das Frühstück und sah auf.

„Also doch“, war alles, was sie sagte.

Bargh schnipste mit dem Zeigefinger den eingespeichelten Klumpen von seinem Handrücken, woraufhin dieser auf Charas Käsebrot landete.

„Darf er so was?“, wollte Bargh wissen, ohne das Missgeschick zu bemerken.

Chara beugte sich über den Tisch und klatschte ihr Brot mit der belegten Seite nach unten auf Barghs Schinken.

Als Bargh sie verdattert anblickte, meinte sie ungerührt: „Lass es dir schmecken!“

„Die Entscheidung liegt beim Senat“, sagte Thorn, die unappetitliche Unterbrechung ignorierend. „Wenn mehr als die Hälfte der Senatoren auf Testaceus’ Seite steht, dürfte das kein Problem sein.“

„Und wenn nicht, konnten gewisse Senatoren wohl urplötzlich keine Stimme mehr abgeben, sofern es den Senat überhaupt noch gibt“, vollendete Chara seine Erklärung.

Thorn warf ihr einen zweifelnden Blick zu.

„Glaubst du wirklich?“

„Du hast es doch selbst gesagt, als du uns von deinem Gespräch mit Testaceus berichtet hast: Wir haben bereits Vorkehrungen getroffen, um eine Vereitelung der Sache vonseiten entsprechender Personen zu verhindern“, wiederholte sie Testaceus’ Worte mit bedeutungsvoller Stimme. „Mal ehrlich, so naiv kannst selbst du nicht sein!“

Thorn kratzte sich an der Stirn.

„Wahrscheinlich hast du recht. Das Ganze sieht nach einem Staatsstreich aus.“

„Die neue Regierung müsste dir eigentlich gelegen kommen“, merkte Chara an.

Mit einem vorsorglichen Blick auf Bargh, der laut schmatzend seinen mittlerweile gesäuberten Schinken verschlang, belegte sie eine neue Scheibe Brot.

„Dann bist du deinen Titel höchstwahrscheinlich wieder los und kannst tun und lassen, was du willst.“

„So ist es!“, bemerkte Thorn aufgeräumt und spürte, wie sich ein Lächeln über sein Gesicht ausbreitete. „Dann habe ich dem Senat gegenüber keinerlei Verpflichtungen mehr, denn der Senat ist höchstwahrscheinlich Vergangenheit.“

Entspannt griff er nach dem Ziegenkäse. Erst jetzt registrierte er das Knurren in seinem Magen. Er hatte seit gestern Mittag nichts mehr gegessen, woran seine üble Laune mitschuldig gewesen war. Umso herzhafter biss er jetzt in den Käse.

„Und? Was hast du nun vor?“, fragte Chara, wobei sie ihre Neugier sorgfältig hinter einer Maske der Gleichgültigkeit verbarg.

„Weiß ich noch nicht“, antwortete Thorn gut gelaunt. „Mal sehen, was die nächsten Tage bringen. Wer kann das schon so genau wissen?“

„Du solltest dir das überlegen. Hast du dir überhaupt schon Gedanken darüber gemacht, wie Testaceus es geschafft hat, das Ganze durchzuziehen?“

„Nein, habe ich nicht. Ich bin politisch nicht besonders bewandert. Es interessiert mich auch nicht übermäßig.“

„Hm“, mischte sich Bargh ein, der sich mit dem Unterarm über seine Lippen wischte, nachdem er den letzten Bissen hinuntergeschluckt hatte. „Mich würd’s, ehrlich gesagt, schon interessieren, wie Testaceus die valianischen Legionen auf seine Seite ziehen konnte.“

Thorn blickte Bargh fragend an.

„Na ja, ich denk’ mal, das valianische Heer wird zwar eigentlich aus der Staatskasse finanziert, aber manche der Senatoren haben sicher einiges an Gold springen lassen, um sich die Unterstützung von einem Teil der Armee zu sichern“, erklärte Bargh. „Schon möglich, dass bestimmte Legionen von vornherein aus Testaceus’ Tasche finanziert wurden, und die nimmt er automatisch mit, aber das würde trotzdem nur einen Teil aller Legionen ausmachen. Der Rest gehört entweder ganz bestimmten Senatoren oder dem Staat. Das heißt, manche der valianischen Legionen sind neutral, andere sind entweder gegen Testaceus oder auf seiner Seite. Auch wenn Testaceus die Senatoren mundtot macht, die sich gegen ihn verschworen haben, hat er immer noch das Problem, dass ihre Legionen ohne Führung sind. Ich schätze mal, die haben keine Freude mit ihm als neuem Cäsarus. Und was die Prätorianergarde angeht, die gehört ihm ganz sicher nich’.“

Thorn und Chara starrten Bargh fassungslos an. Keiner von beiden hätte ihm ein derartiges Wissen zugetraut.

„Was is’?“ Bargh zog ein verständnisloses Gesicht.

„Die Prätorianergarde ist in jedem Fall auf seiner Seite“, fing sich Thorn als Erster. „Rosmerta ist nämlich die neue Oberkommandantin. Das heißt, Testaceus muss einiges mehr in petto gehabt haben als seinen Titel. So wie ich ihn kenne, war er sich seiner Sache sicher, bevor er loslegte. Das heißt, er wusste, dass er zumindest den Großteil der Legionen auf seine Seite bringen würde und was die Prätorianer anbelangt, so muss er sich absolut sicher gewesen sein.“

„Was ist mit dem Zepter?“, murmelte Chara mit einem nachdenklichen Blick auf Thorn.

„Könnte sein, dass der Besitz des Zepters die Senatoren von seiner Sache überzeugt hat, ja“, antwortete Thorn auf ihre Überlegung. „Ich habe zwar keine Ahnung, worin der Wert der Insignie besteht, aber Testaceus war außer sich, als die Priesterinnen versuchten, es an sich zu reißen. Und Telos ist schließlich auch nicht umsonst hier. Testaceus ließ die Echtheit des Zepters vor seiner Machtübernahme überprüfen. Es würde mich wundern, wenn das Ding eine Fälschung wäre.“

Chara nickte und Bargh kaute gedankenschwer an seinen Fingernägeln.

„Also gut“, unterbrach Chara schließlich die Stille. „Was auch immer Testaceus in Händen hatte oder hat, der Staatsstreich wurde von langer Hand geplant. Soviel ist sicher. Aber was sagt uns das?“

Thorn hatte nicht die geringste Idee. Das Einzige, was er wusste, war, dass es ihn aus dem Imperium wegzog und dass er das drängende Bedürfnis hatte, sich von Testaceus loszueisen. Nach allem, was Cartius ihm anvertraut hatte, war Testaceus nicht mehr vertrauenswürdig.

Das Pergament auf dem dunklen Holztisch wölbte sich leicht unter den feingliedrigen Händen, die versuchten, es glatt zu streifen. In dem kleinen Raum war es bis auf das flackernde Licht der Kerze, die neben einem Tintenfass auf einem mit schwarzen Flecken besprenkelten Tischtuch stand, stockdunkel und bis auf das Knistern des Dochtes, das zu hören war, wenn die Flamme nach Sauerstoff ringend höher schlug, war es still.

Einen Augenblick hielt die Federspitze über dem Pergament inne, bevor sie aufsetzte und zügig über den Bogen glitt.

Eminenz,

eine unerwartete Veränderung der Gegebenheiten:

Quelle Eins ist versiegt. Die zweite ist noch intakt. Ich habe das Gewicht auf Zwei verlagert.

Neue Situation:

Valians Zepter ist ins Spiel gekommen. Es befindet sich in den Händen des erst kürzlich an die Macht gelangten Cäsarus. Offenbar steht das Zepter im Mittelpunkt des Interesses anderer einflussreicher Mächte.

Erbitte neue Instruktionen.

Die in chryseischer Sprache verfasste Botschaft wurde unterzeichnet mit:

Arm und Auge des KdB

Heißes Wachs tropfte auf die Schriftrolle. Sorgfältig wurde das Siegel in die zähe, rote Flüssigkeit gedrückt, bevor diese erhärtete. Dann glitt das Pergament in die Tasche des Umhangs, der über der Stuhllehne hing.

Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 1 und 2

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